Nibelungenmythos
und Stadtmarketing


von Volker Gallé

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Wormser Dom, Foto: Klaus Baranenko ..



Die Wormser Stadtgeschichte hat seit früher Zeit einen sagenhaften Charakter. Historische Ereignisse von europäischer Bedeutung und Mythen mischen sich von Anfang an. In der von Frankreich her bei uns ab dem 12. Jahrhundert wieder heimisch werdenden Karlsepik wird z.B. ein Turm bei Worms erwähnt (Kranzbühler, Chronik des A.v.Neufmoustier, 1252), "vor alten Zeiten von Riesen erbaut". Auch die jüdische Ursprungssage von Warmaisa (Juspa Schammes, 17. Jahrhundert), erzählt von drei Riesenbrüdern, die Schlosser waren und einen Drachen besiegten, der die Königin der Stadt bedrohte. Das sind zugleich auch die mythologischen Motive, die neben dem Schatz (siehe die isländische Edda) immer wieder mit der alten Stadt am Rhein verbunden werden: die Königin (Stadtname von Warbede/Dreijungfernstein, Jüdische Sage, Brunichildis), der Held, welcher zugleich Schmied ist (Siegfried, Jüdische Sage) und den Drachen besiegt (auch hier wurde des öfteren der Stadtname abgeleitet: von Wurmbs/Wurm). Letzteres Motiv gehört im Kern zusammen und erinnert an den Übergang von Steinzeit zur Eisenzeit, als die Schmiede durch die Beherrschung des Feuers (Drachen) aus Erz (Schatz) Schwerter (der Held) herstellen konnten und daraus neue Herrschaftsstrukturen entstanden. Im Mittelalter wird der Stadtname zudem häufig in Aufzählungen bedeutender Städte genannt, oft symbolisch beschrieben als große Stadt oder reiche Stadt mit mehreren Türmen, u.a. neben Konstantinopel, z.B. in einer venezianischen Abschrift des Rolandsliedes (Kranzbühler). Legenden ranken sich auch um das jüdische Bild vom kleinen Jerusalem. In der frühen Neuzeit kommen Phantasien über eine Stadtgründung vor mehreren tausend Jahren hinzu: der Mythos der ältesten Stadt Deutschlands ist also älter als der Zufallstreffer von Auswärtigem Amt und Guinessbuch der Rekorde.

Diese Mischung von Fiktion und Realität hat man nicht nur in Worms immer wieder aufgegriffen, so durch F.M.Illert oder durch das Nibelungenmuseum als Literatur-museum, sondern die Stadt wurde und wird auch außerhalb so wahrgenommen. So heißt es z.B. in einem 1997 erschienen historischen Atlas Deutschlands bei der historischen Beschreibung der Kurpfalz als Vorläufer des Landes Rheinland-Pfalz mit Blick auf die Städte Speyer und Worms: "Speyer ist eine uralte Römerstadt. Ihr Dom birgt die Grabmäler von acht deutschen Kaisern...Speyer wurde 1817 bayrisch. Hingegen fiel die sagenumwobene Stadt Worms... an Hessen-Darmstadt." (S.199) Danach wird die Bedeutung von Worms als fränkische Stadt hervorgehoben, als Stadt der Reichstage vom Konkordat 1122 bis zu Luther 1521 und sie wird als "älteste Reichsstadt" bezeichnet. Keine andere hier erwähnte Stadt, auch nicht Trier oder Mainz mit den Schwerpunkten Spätantike und Erzbistum, erhält im historischen Kontext die Bezeichnung "sagenumwoben".

Und das sagenhafte Bild von Worms war häufig genug der Grund, warum Reisende die Stadt besuchten, so z.B. der 48er Revolutionär, Romantiker und Romancier Victor Hugo 1838. Er beschreibt seine Ankunft am Rhein: "Ich lasse meine Augen in die Runde schweifen. In Worms? Träume ich? Bin ich das Opfer einer Vision? Eines Dämmerzustandes? Macht sich der Bootsmann lustig über den Reisenden? Will der Deutsche dem Pariser etwas weismachen? Will der Germane den Gallier verspotten? In Worms? Aber wo ist denn jener hohe und hehre Mauerkranz, flankiert von Türmen, der sich im Rhein spiegelt und ihn, den mächtigen Fluss als Wallgraben benutzt? Ich sah nichts als eine weite Ebene. Nebel verbargen mir den Hintergrund." Als er dem Schiffer sagt, er wolle in die Stadt, lacht der und meint ironisch, die meisten Reisenden würden in dem ärmlichen Gasthaus am Fluss übernachten und am nächsten Morgen weiterreisen, ohne die Stadt zu betreten. Hugo phantasiert weiter: "Worms, die Stadt der Sage, zu der ich von so weit her gewallfahrtet war, fing an, mir den Eindruck einer jenen feenhaften Städte zu machen, die immer mehr zurückweichen, je mehr sich der Reisende ihnen nähert." Schließlich entdeckt er erfreut die Domsilhouette, aber als er die Stadt betritt, ist er enttäuscht von den altersschwachen Mauerresten und den aufgeklärten und dennoch provinziellen Bewohnern, die den Drachen und Siegfried für Humbug erklären, aber die Bedeutung der neuen Straße durch das Zellertal zum Donnersberg hin hervorheben. Und er resümiert, Worms sei eine sterbende Stadt, immerhin vergleicht er diesen Prozeß noch mit Rom, freundlicherweise. Am Ende bewundert er die Überreste des Doms und den nur gedanklich präsenten Luther.

Hugo war enttäuscht, seine Fantasie von Worms wurde durch die Realität nicht eingelöst. Das hat einen realen Hintergrund, denn der Niedergang der Stadt und ihrer Bedeutung im politischen Geflecht Europas war seit den Zerstörungen ab 1689 und dem Aufstieg der umliegenden Residenzstädte unaufhaltsam und hat trotz kleinen Zwischen-hochs im Grunde strukturell bis heute angehalten. Um die Residenzen Mainz (allerdings von Frankfurt her) und Mannheim haben sich die Ballungsgebiete Rhein-Main und Rhein-Neckar entwickelt.

Was aber muß angesichts Hugos Enttäuschung für das Stadtmarketing festgestellt werden:

1.

Es gibt außerhalb von Worms weit verbreitet sagenhafte Phantasien der Stadt.

Worms ist in der Welt bereits ein Begriff und das Profil der Stadt muß nicht erst

durch Marketingstrategien erfunden und beworben werden.

2.

Die Phantasien sind an Literatur geknüpft, welche ihre Kraft aus den Sagen der frühen Geschichte (Burgunder/Merowinger) und aus der historisch bedeutsamen Phase der "Reichsstadt" von Karl dem Großen bis Luther 800 bis 1521 schöpft. Letztere erlebte im 19. Jahrhundert ein erstes Revival. Daraus folgt, daß man in der

Grundlagenarbeit der Chronisten Literatur-oder Kulturwissenschaft und

Geschichtswissenschaft verbinden muss, neben der Beschäftigung mit der

Literatur den historischen Standort der Stadt und ihre Höhepunkte bestimmen muß

(romanische Bauten, staufische Blüte, späte Reichstage).

3.

Für den Kulturtourismus folgt daraus, daß man das draußen vorhandene

Wormsbild aktivieren muß, d.h. man muß die Fantasiereisenden zu realen

Reisen bewegen. Und man muß zweitens aufgrund der fehlenden aktuellen Größe

und Bedeutung der Stadt durch Inszenierungen von Bauwerken, Veranstaltungen

etc. dem touristischen Traum der Reisenden entgegenkommen.


Lassen Sie mich jetzt zuerst einen kleinen Ausflug in die Grundlagenforschung machen, dann sollen die gescheiterten Versuche des Kulturtourismus in der ersten Hälfte des 20. Jh. und die aktuelle Debatte um "Nibelungenmythos und Stadtmarketing" skizziert werden; am Ende wird kleiner Ausblick in die Zukunft stehen.

Einmal ist festzustellen, daß die Wiederkehr des Nibelungenmythos in Worms den Aufstieg und Fall der Stadt immer eng mit der deutschen Geschichte insgesamt verknüpfte. Dabei muß davor gewarnt werden, das Nibelungenlied zum Nationalepos zu erheben, wie im 19. Jh.: Heroische Untergänge sind als gesellschaftliche Ziele denkbar ungeeignet, und schließlich im Lied auch nicht angelegt, weil der seinen Namen verbergende Dichter die höfische Gesellschaft um 1200 kritisiert und ihr den Spiegel vorhält. Er will sagen: Eure Machtstrategien führen in den Untergang!

Andrerseits geht es im Nibelungenstoff um Kernfragen europäischer Kultur- und Sozialgeschichte, um das Verhältnis von König und Stamm, um das Verhältnis der Geschlechter, um das Verhältnis von Individuum und Gruppe. Und das ist der Motor, der den Mythos historisch-literarisch immer wieder hochkocht. Und Worms ist der Ort, wo die Urszenen immer wieder neu durchgespielt werden. Da ist die Entstehungszeit des Mythos zur Zeit der Völkerwanderung und im merowingischen Frankenreich, als Worms Bischofsstadt und Sitz einer fränkischen Pfalz wird und Hauptstadt der Burgonden, auch wenn das bereits mehr Fiktion als Historie ist. Dann die staufische Blütezeit der Stadt um 1200, eingebettet in eine Umbruchszeit zwischen zwei großen Kaisern, Barbarossa, der Karl dem Großen nacheifert, und Friedrich II., der bereits in die Moderne hineindenkt. Jetzt entsteht das Nibelungenlied. Mündliche Zwischenstufen sind nicht schriftlich überliefert. Der Habsburger Maximilian mit dem Wormser Reichstag von 1495, den man auch den letzten Ritter genannt hat, hat mittelalterliche Handschriften gesammelt, u.a. das Nibelungenlied. Schließlich haben Historismus und deutscher Nationalismus um 1900 das sogenante "neue Worms" mit seinem Nibelungenstil hervorgebracht.

Aber erst diese letzte Epoche war im engeren Sinne national und am Rhein vor allem gegen Frankreich gerichtet. Das römisch und fränkisch beeinflußte Reich des Mittelalters stand in einer ganz anderen, eher europäischen Beziehung zum historischen Burgund. Bevor Burgund sich unter den Valoisherzögen anschickte, die vorfränkische Selbstständigkeit wiederzuerlangen, bzw. das fränkische Mittelreich Lotharingien aus dem 9. Jh. zu beerben, ein ebenfalls gescheitertes Unterfangen übrigens, gehörte das Königreich Burgund als drittes Königreich zum ostfränkisch-deutschen Bereich. Diese Beziehung wurde gefestigt durch die Heirat Barbarossas mit Beatrix von Burgund. Und auch Maximilian war mit einer Burgunderprinzessin verheiratet, Maria, der Tochter des letzten Valoisherzogs Karl des Kühnen. Worms als Hauptstadt der Burgonden war also nicht nur eine bedeutende Reichstags-Stadt für die deutschen Kaiser, sein sagenhafter Ruf konnte auch zur Untermauerung der Ansprüche auf das Königreich Burgund dienen. Dieser Bezug zu den heute westfränkisch-französischen Landschaften ist durch die Germanistik des 19. Jh. mit ihrer Anbindung an nordgermanische Ursprungs-und Einigungsfantasien ganz aus dem Bewußtsein verdrängt worden. Das gilt erst recht natürlich für die besondere Gemeinsamkeit der gewaltsam durch nationale Grenzen getrennten Zwischenlandschaften an Rhein und Rhone gegenüber den deutschen Machtzentren im Osten und Westen, bildlich gesprochen gegenüber Berlin und Paris. Zwischen Rhein und Rhone, bzw. Loire lagen die alten Königslandschaften der Franken.

Die fränkische Statsentwicklung ging von Metz aus Richtung Worms, Worms seinerseits hatte seit karolingischer und salischer Zeit historische Beziehungen ins heutige Burgund. Von Worms aus ritt Barbarossa ohne einen Grenzübertritt in die elsässische Kaiserpfalz von Hagenau. Sie sehen, das Mittelalter hatte eine Geografie im Kopf, die wir heute

erst wieder im europäischen Begriff erreichen.

Was weiterhin bisher zu sehr aus dem Blick genommen wurde, ist einmal die jüdisch-

christliche, bzw. in der Neuzeit die jüdisch-deutsche Beziehung und ihre Auswirkungen auf Worms, den Sagenstoff und die Identität der Deutschen, und zum anderen das mythologische Bild der Königin, das in der Wormser Sagenwelt immer wieder auftaucht. Aber das sind Themen, die in einem eigenen Vortrag zu behandeln wären.

Weiter zu Teil 2: 
Wiederbelebungsversuche des Nibelungenmythos nach 1900