SAGEN- & MÄRCHENMOTIVE IM NIBELUNGENLIED

Drittes wissenschaftliches Symposion
der Nibelungenlied-Gesellschaft
und des Stadtarchivs Worms

vom 21. bis 23. September 2001





Das jüngste Wormser Symposium der Nibelungenlied-Gesellschaft
machte es deutlich: Das Nibelungenlied ist noch längst nicht ausgereizt. Vor allem deshalb, weil der Dichter, wie es der Abschluss-Beitrag von Hermann Reichert aus Wien eindrucksvoll zeigte, sein Werk in beeindruckender Vielschichtigkeit angelegt hat. Die Sagen- und Märchenmotivik, unter die die Gesellschaft dieses dritte Symposium gestellt hatte, ist dabei nur ein kleiner, wenn auch spannender Bestandteil. Heinz-Albert Heindrichs, der die allgemeine Entwicklung der Märchen im Mittelalter darstellte, Volker Gallé, der die Bedeutung von Worms als Sagenstadt schilderte, und Claude Lecouteux, der das Raster der Funktionsebenen im indogermanischen Heldenepos auf das Nibelungenlied anwandte, waren allerdings die einzigen Referenten, die sich sklavisch an die Fragestellung hielten. Allenfalls noch Otfried Ehrismann (Gießen) befasste sich mit dem Thema, indem er nachvollzog, wie die Figur des Siegfried, der im Nibelungenlied keineswegs als lautstarker "Kraftmeier" (3. Aventüre), sondern als besonnener Mann mit höfischen Formen eingeführt werde, im Laufe der Jahrhunderte bis hin zu Richard Wagner eine Ummünzung zum Dümmling à la Hans im Glück durchgemacht habe. Dabei zitierte Ehrismann auch das Volksepos vom "Hürnen Seyfried". Doch nicht nur Ralph Breyer (Berlin) zeigte in seinem interessanten Forschungsbericht über dieses im 16./17. Jahrhundert weit verbreitete Werk, dass der Seyfried/Siegfried eine Wandlung vom selbstgefälligen Kraftprotz zum weisen Herrscher durchmacht; auch der Wiener Künstler Siegfried Holzbauer hatte den Gedanken aufgegriffen und in einer labyrinthischen Installation dargestellt, die bis zum 19. Oktober im Foyer des Wormser Spiel- und Festhauses zu sehen ist. Mehr noch als der Drachentöter wurden aber die beiden Frauen des Nibelungenlieds ins Visier genommen. Ursula Schulze (Berlin) schilderte die Stärke und Selbstständigkeit der Brunhilde als Bedrohung der Männlichkeit, wobei sie sich interpretatorisch ganz auf dem Boden des Nibelungenlieds bewegte und das "kulturelle Archiv" des 12./13. Jahrhunderts einbezog. Hermann Reichert warf unter anderem in die Debatte, dass das Nibelungenlied eine "Kriemhildenbiographie" sei, in einer Zeit der beginnenden Individualisierung durchaus auch emanzipatorisch zu deuten. Bei seinem Ansatz gehe es ihm aber nicht darum, jemand "Fragen ein- oder auszureden". Er sei ein Leser, vom Dichter dazu berechtigt, das Werk nach eigener Einschätzung und Weltsicht zu deuten wie jeder andere auch. Ein wichtiger Beitrag, der zur Vermeidung von Grabenkämpfen zukünftig beitragen könnte. Auch in dieser Hinsicht dürfte dieses Symposium das Format vorgegeben haben für weitere Debatten.

24.09.2001, Feuilleton, von Ulrike Schäfer



Die Sagenmotive im Nibelungenstoff
3. Wormser Symposium zum Nibelungenlied

Blick in europäische Kulturgeschichte Sagen- und Märchenmotive im Nibelungenlied heißt das Thema des dritten Wormser Nibelungenlied-Symposiums, das die Stadt Worms und die Nibelungenliedgesellschaft Worms vom 21. bis 23. September gemeinsam im Mozartsaal des Festhauses veranstalten. Von unserem Redaktionsmitglied Martina Klemm Stadt und Gesellschaft erhoffen sich von den Symposien eine vertiefte Auseinandersetzung der Forschung mit dem in Folge der Ausbeute durch die Nationasozialisten teilweise umstrittenen Stoff. "Wenn die Forschung da weiter kommt, ist das im ureigenen Interesse der Stadt Worms", meinte Kulturdezernent Gunter Heiland, der gemeinsam Archivdirektor Dr. Bönnen und dem Leiter der Liedgesellschaft, Volker Gallé das Pressegespräch führte. Gallé sieht in den Symposien, die den jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Rezeption widerspiegeln auch die Chance, "weg von einer Provinzialisierung" - sprich patriotischen Nabelschau - zu kommen. Das Lied, so Dr. Bönnen, das an die Wurzeln der europäischen Kulturgeschichte gehe, interessiere zunehmend auch die Germanistik. Gallé erläuterte das Programm der Tagung, die für jedermann zugänglich ist. Sie beginnt am 21. September um 20 Uhr mit einem Vortrag von Prof. Heinz Albert Heindrichs (Gelsenkirchen) über "Märchen und Mittelalter". Dr. Ursula Heindrichs von der europäischen Märchengesellschaft wird dazu frühe Märchen lesen, das Ensemble Trecento" stellt Beispiele mittelalterlicher Musik vom Nibelungenlied im Hildebrandston bis hin zur Troubadourlyrik vor. Der Samstag beginnt um 10 Uhr mit einem einleitenden Vortrag Gallés über "Worms als Sagenstadt". Um 10.30 Uhr gehts weiter mit Prof. Claude Lecouteux (Paris) in einem Grundlagenreferat über das "Nibelungenlied und die drei Funktionsebenen nach Dumezil", der damit die in Deutschland weniger bekannte französische Mythenforschung ins Spiel bringt, deren Blickfeld die europäische Kulturgeschichte umspannt. Um 11.30 Uhr spricht Prof. Ursula Schulze aus Berlin über "Brünhild - eine domestizierte Amazone". Nach einem Stadtrundgang geht es um 15.30 Uhr weiter mit drei Workshops, in denen diskutiert werden soll über heidnische Männerbünde, über den Kraft-Begriff im Mittelalter, der, so Gallé, eine große Rolle im damaligen Denken spielte und das magische Menschenbild. Um 16.30 Uhr schließlich referiert Prof. Otfried Ehrismann (Gießen) über die Rolle Siegfrieds und "das Motiv des Dümmlings im Nibelungenmythos". Um 18 Uhr eröffnet außerdem eine Ausstellung unter dem Titel "Das Labyrinth des Hürnen Seifried" des österreichischen Künstlers Siegfried Holzbauer im oberen Festhausfoyer . Die Installation der eng mit der Wormser Stadtgeschichte verbundenen spätmittelalterlichen Siegfriedsage kombiniert zeitgenössische Original-Holzschnitte mit Holzbauers neuen Illustrationen. Zur Einführung spricht Dr. Volker-Jeske Kreyher (Heidelberg). Der "Hürne Seyfried ist auch Gegenstad eines Vortrages am Sonntag, 23. September ab 9.30 Uhr. Um 10.30 Uhr referieret Prof. Hermann Reichert (Wien) zum Thema "Psychoanalyse und Nibelungenlied". Das Symposium endet mit einer Abschlussdiskussion um 11.30 Uhr.

Wormser Zeitung, 14.09.2001



Siegfried und seine Mannen

3. Symposion der Nibelungenlied-Gesellschaft "Sagen- und Märchenmotive"
WORMS (us) - Mit einem geradezu elegischen Vortrag über die Entstehung der Märchen und ihr fast unbeschadetes Überleben, weil man sie Jahrhunderte lang nicht beachtet hatte, führte Professor Heinz-Albert Heindrichs ins 3. Symposion der Nibelungenlied-Gesellschaft ein, und seine Frau, Dr. Ursula Heindrichs, Präsidentin der Europäischen Märchengesellschaft, ergänzte ihn wunderbar durch die Erzählung des ältesten niedergeschriebenen Märchens vom "Erdkühlein". Der Beitrag von Professor Claude Lecouteux bezog sich auf Forschungen von Dumezil, die drei herrscherliche Funktionsebenen, eine kultisch/religiöse, eine kriegerische und Ebene, die für Reichtum und Fruchtbarkeit steht. Dieses Schema, so Lecouteux, lasse sich auch aufs Nibelungenlied anwenden und könne helfen den Bedeutungsgehalt der Figuren und ihrer Handlungen zu entschlüsseln. Die Berliner Professorin Ursula Schulze beschrieb die Kraft und Selbständigkeit der Brünhilde als Bedrohung für die Männerwelt, ihre Domestizierung als "Rettungsaktion", die allerdings nicht gelinge, weil sie Rache nach sich ziehe. Für die Gestaltung der Brünhilde, so Schulze, habe der Dichter möglicherweise auf das Bild der Amazonen zurückgegriffen, das im "kulturellen Archiv" der Zeit vorhanden gewesen sei. Dass er auch die historische Brunichildis im Blick hatte, hielt sie für möglich, aber nicht belegbar; auf die mythologischen Hintergründe, die Absage an den vorchristlichen Göttinnenglauben, der der Frau besondere Mächte zuwies, ging sie nicht ein. Wie spannend die psychologische Deutung der Figuren sein kann, exerzierte Professor Hermann Reichert aus Wien vor, indem er, ebenfalls eng am Text, die Kriemhilde unter die Lupe nahm und sie schilderte als eine Frau, die nach der Sitte der Zeit unter Kuratel der Brüder steht, nicht weisungs- und erbberechtigt ist und doch, wie schon das Traummotiv zeigt, ihr Leben selbst bestimmt gestalten will. Reichert belegte seine Gedanken durch Textstellen, die die bewusste Individualisierung der Personen durch den Dichter eindrucksvoll deutlich machte. Neben den drei Workshops, die sich mit dem Kraftbegriff (Volker Gallé), den heidnischen Männerbünden im Werk Otto Höflers (Waltraud Werner) und dem Problem der Überlieferung auseinander setzten (Dr. Jürgen Breuer), trat vor allem der Siegfried in den Mittelpunkt. Professor Otfried Ehrismann beschrieb seinen langen Weg durch die Geschichte, auf dem er immer dümmer geworden sei, während er eigentlich im Nibelungenlied als höfisch versierter Ritter angelegt sei, der sich den Wormser Königen ebenbürtig habe erweisen müssen. Eine der späteren Rezeptionen ist der Hürnen Seyfried, der uns in Drucken aus den Jahren 1535 bis 1642 erhalten ist. Dr. Ralph Breyer beschrieb, wie dieses Werk, das wohl ursprünglich aus dem Drachenkampf und der Befreiung der Jungfrau bestand, ergänzt wurde durch eine Vorgeschichte sowie einen Epilog, höchst wahrscheinlich, um es mit dem Nibelungenstoff in Verbindung zu bringen. Obwohl die Geschichte einerseits stark reduziert sei, schwelge sie andererseits ? anders als das Nibelungenlied - ? in märchenhaften Elementen, führte Breyer aus. Die Rettung der Jungfrau wiederum, die dem Kampf eine christliche Ethik zuweist, mag aus der Georgslegende eingeflossen sein. Eine weitere Dimension zeigte auch Dr. Volker Kreyher auf, der erforscht hat, dass der Hürnen Seyfried wie Barbarossa als Heilsbringer gesehen wurde. Er empfahl, den Orientierungscharakter dieser Person auf lokaler Ebene zu untersuchen. Eine besonders gelungene Ergänzung des Symposiums, das von Stadtarchiv und Nibelungenlied-Gesellschaft veranstaltet wurde, war die Installation des Wiener Künstlers Siegfried Holzbauer, der den Weg des Seyfried als Entwicklungsgeschichte erfasste. Die labyrinthische Anordnung der Holzschnitte korrespondiert dabei mit kodifizierten Farbflächen, die eine direkte Übersetzung der Seyfried-Bildtexte sind. Die Ausstellung ist bis zum 16. Oktober im Foyer des Festhauses zu sehen.

Wormser Wochenblatt, 16.09.2001