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liedzeit
Mythos Brünhild
Von der Walküre
zur liebenden Frau



von Doris Schweitzer

Color Illustrations for Wagner's Ring, A. Rackham, 1912..

Eine außergewöhnliche Frau wartet auf einen ebenso außergewöhnlichen Mann, der ihr ebenbürtig und daher bestimmt ist. Durch Betrug gerät sie an den Falschen. Ihr Leben ist zerstört."Sowohl in den Isländersagas als auch in den altnordischen Nibelungendichtung treten Frauen auf, die ihr Leben selbst bestimmt führen und darüber hinaus ihre Familie, insbesondere die männlichen Familienmitglieder manipulieren, ohne dass dieses Verhalten besonders kommentiert oder reglementiert wird. Diese Frauen lassen ihre Ehemänner umbringen oder hetzen ihre Sippe zur Rache für ein getötetes Sippenmitglied, für begangene Ehrverletzung oder begangenen Rechtsbruch auf. Die Dichtungen des Nordens unterscheiden sich gerade im Hinblick auf die Darstellung der Frau deutlich von den mittelhochdeutschen Texten. Diese Andersartigkeit, die sich in einer unabhängigeren Entscheidungsgewalt und einem größeren Handlungsspielraum von Frauen ausdrückt, wird durch die unterschiedliche Bewertung ihres Verhaltens verstärkt. Während im mittelhochdeutschen "Nibelungenlied" das heroische Verhalten von Frauen durch die Protagonisten verurteilt wird, wird ihr Verhalten in den nordischen Dichtungen meist toleriert. Die älteste schriftliche Überlieferung von Nibelungendichtung stellen die Handschriften des Nibelungenliedes (um 1200) dar. Eine Art Fortsetzung des Nibelungenlied-Stoffes findet sich in der "Klage", die zwischen 1200 und 1220 entstand. Der Nibelungenuntergang wird darin in einen christlichen Kontext gebracht. In Nordeuropa waren jene Mythen noch als mündliche Erzählungen im Umlauf. Im Zuge der Christianisierung wurden die Erzählungen von der mündlichen in die schriftliche Tradition überführt. Dies geschah zuerst in Island. Im 13. und 14. Jahrhundert entstanden so die beiden Eddas, die ältere Edda auch Lieder-Edda genannt und die Edda des Snorri Sturluson. Kern der Lieder-Edda bildet eine als "Codex Regius" bekannte Handschrift, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts geschrieben wurde und 29 Helden- und Götterlieder umfasst. Die "Völsunga-Saga" erzählt den Nibelungenstoff in enger Anlehnung an den "Codex Regius" als Roman in der Tradition der altnordischen Bauern- und Heldensagen. Etwa zur gleichen Zeit wurde auch die norwegische "Thidrekssaga" aufgezeichnet, in der die Nibelungensage immer wieder in den Erzählungen um Dietrich von Bern vorkommt. Etliche Motive, die im Nibelungenlied miteinander verknüpft sind, treten in den nordischen Liedern als Einzelmotive auf so "Eheschließung als Handel", "Eidestreue unter Männern wiegt mehr als die Treue zu Frauen" und die "Frau als Betrogene."
Das Handlungsgerüst stimmt in den Texten, die zum Kreis der Nibelungendichtung zählen, weitgehend überein. Die Fixpunkte der Handlung lassen sich wie folgt angeben:
  1. Siegfried, der Drachentöter, begegnet Brünhild
  2. Er kommt an den Hof der Burgunden und heiratet Kriemhild/Gudrun, Gunther wirbt um Brünhild.
  3. Aufgrund der Rangfrage kommt es zum Königinnenstreit.
  4. Siegfried wird als Folge des Königinnenstreits ermordet.
  5. Kriemhild/Gudrun nimmt Etzels/Attlis Werbung an und wird seine Frau.
  6.  Die Burgunden folgen einer verräterischen Einladung an Etzels/Attlis Hof.
  7. Es kommt zum Kampf und alle Burgunden werden getötet.

Der Mythos von Brünhild fasziniert bis heute gerade seiner Widersprüchlichkeit wegen: Hier vermischen sich höfisch-christliche und nordisch-heidnische Erzähltraditionen und damit zugleich Mythen zweier unterschiedlicher Geisteswelten.
Wer ist Brünhild? Ist sie Adelige, Amazone, Prophetin, Göttertochter oder eine Hexe, die über besondere Zauberkräfte und –mittel verfügt?
"In einigen Versionen des griechischen Mythos zogen die Amazonen ihre physische Kraft aus ihrer Jungfräulichkeit, die mit der Vergewaltigung durch den Mann (wie es sich in dem Gürteldiebstahl der Hippolyte durch den Halbgott Herkules ausdrückt) geraubt wird(….) ein Angstmythos (…)" (Helga Kraft)In den nordischen Sagas tritt Brynhild vor allem in folgenden Figurationen auf:
Die Walküre
In einem angelsächsischen Glossar aus dem 8. Jahrhundert werden die Walküren in die Nähe der Rachegöttinnen, der Erynnien gerückt. Die Nähe zur Hexe ist hier offenkundig: durch die Lüfte fliegend, runenkundig, männerlos.
In der "Gripissipá" der Edda (Gripirs Vorhersage), eine Zusammenfassung von Sigurds Leben, erweckt Sigurd die Walküre Sigrdrifá, d. h. die Siegtreiberin. Diese Figur ist allerdings nicht identisch mit Brynhild, da Brynhild als Tochter Budlis beschrieben wird. Von Grispir wird Brynhild als hartherzig bezeichnet, da sie Sigurd Unglück bringt. Den Ehrverlust, den sie durch Sigurd erleidet, wird nur kurz angesprochen, wenn Sigurd über die Werbung von Brynhild für Gunnar sagt:
"Unglück ist mir beschieden, das kann ich sehen,
es wird mir schlecht ergehen,
wenn ich die herrliche Frau freien soll
einem anderen, die ich so liebe."Auch im "Sigurd-Lied" sagt Högni über Brynhild: "Sie ist geboren manchem Mann gegen den Willen und zum Kummer".
In der "Völsunga-Saga" ist die Identifizierung von Brynhild mit der Walküre Sigrdrifá  in den "Sigrdrifumál" schon angelegt, da Sigrdrifá als Strafe das Leben einer irdischen Frau führen muss. Die Walküre ist zu striktem Gehorsam gegenüber Odin verpflichtet. Sigrdrifá, die seinem Befehl zuwiderhandelt, wird mit Schlaf bestraft. Sie wird ihres göttlichen Status beraubt und muss ein weibliches irdisches Dasein führen, d. h. heiraten und Kinder bekommen. Ihr aktives und eigenmächtiges Handeln wird mit übersteigerter weiblicher Passivität bestraft – sie wird von Odin mit dem Schlafdorn gestochen, unfähig noch eigene Aktivitäten zu entfalten. Sigrdrifá nimmt sich allerdings die Option heraus, von dem kühnsten Mann, dem idealen Helden erweckt zu werden. Das Zugeständnis, das Odin ihr macht, ist der Feuerwall, den nur der beste Mann durchdringen kann. Mit dem besten und ehrenvollsten Mann erlangt auch sie die größte irdische Ehre, denn die Ehre der Ehefrau ist identisch mit dem Ruhm und der Ehre des Mannes. Die Schildmädchen der nordischen Heldenlieder haben eine gleichwertige Stellung wie die männlichen Kämpfer. In dem Moment, wo sie aber eine Ehe mit einem Mann eingehen, müssen sie ihre männlich definierten Verhaltensweisen aufgeben. In der "Völsunga-Saga" steht Sigurd bereits in einem intimen Verhältnis zu Brynhild, noch bevor er sich mit Gudrun verheiratet. Die beiden zeugen eine gemeinsame Tochter namens Aslaug, die als Ragnars Ehefrau in der "Ragnarssaga" eine bedeutende Rolle spielt.Die Seherin
Im "Alten" und  im "Jüngeren Sigurdlied" sowie in "Der Erweckung der Walküre" übernimmt Brynhild die mythische Rolle der Seherin: "Warnende Vorausblicke lassen Fehlverhalten erwarten, Rückblicke klagen und klagen an." Brynhild weiß bereits um die Zukunft, die ihr Ende und das Gunnars bedeutet. Sie hat die Schuld für das bereits geschehene und daraus entstehende Unheil zu tragen und akzeptiert die Unabwendbarkeit des Schicksals. (Vogelweissagung Str. 7) Sigurd bittet Brynhild in "Die Erweckung der Walküre" ihn ihre Runenweisheit zu lehren. Brynhild versucht ihn vergeblich als "Wissende" vom Plan einer gemeinsamen Zukunft abzubringen, in dem sie ihn vor der Eidbrüchigkeit von Frauen warnt. Auch Gudrun nimmt die Fähigkeiten von Brynhild in Anspruch, bevor sie Sigurd heiratet. Das setzt ein beinahe freundschaftliches Verhältnis der beiden Frauen voraus und bestätigt ebenfalls die Darstellung Brynhilds als Seherin.Die Rächerin
"Alles Böse ist Brynhilds Werk." ("Jüngeres Sigurdlied", Str. 27) Im "Alten Sigurdlied" macht sie Gunnar glauben, Sigurd habe seine Brautwerberrolle missbraucht. Im "Jüngeren Sigurdlied", in dem vom keuschen Beilager berichtet wird, bei dem nicht einmal ein Kuss getauscht wurde, droht sie ihm damit, nach Hause zurückzukehren, um dort ihr Leben zu verschlafen. Dadurch würde Gunnar auch ihren Besitz verlieren. Sie begrüßt die Ermordung Sigurds öffentlich, nicht nur aus persönlichen Rachegründen, sondern auch weil Sigurds erstarkte Machtposition, die Herrschaft Gunnars und damit auch ihre gefährdet hätte. Zudem fordert sie den Tod der Nachkommen Sigurds, um eine Gegenrache für alle Zeit auszuschließen. In späteren Liedern wird Brynhilds Ende genauer nacherzählt. Sie wählt den Tod bewusst, um sich im Jenseits wieder mit Sigurd vereinen zu können. Im "Jüngeren Sigurdlied" legt sie ihre Goldbrünne an, ersticht sich und lässt sich gemeinsam mit Sigurd verbrennen: "Zum Unglück ward sie aufgezogen, manchem Mann zu Müh und Leid" (Str. 45)In der "Thidrekssaga" lebt Brynhild auf einer Burg und ist Besitzerin eines kostbaren Gestüts, aus dem die Pferde der Helden stammen. Sie verfügt über Weisheit, Sehergaben und eine hochstrebenden Sinn. Der mythologische Bezug zu Odin fehlt hier. Auch die Beziehung zwischen Sigurd und Brynhild vor ihrer Hochzeit mit Gunther bleiben unklar. Ihre außergewöhnliche Kraft ist hier eindeutig mit ihrer Jungfräulichkeit verbunden. In der Hochzeitsnacht mit Gunther wird sie von Sigurd vergewaltigt. Die Tarnkappe kommt hier nicht zum Einsatz. Auch ohne magische Hilfsmittel ist er der Stärkere. Der inszenierte Betrug besteht hier lediglich im Tausch der Kleider mit dem König. Brynhild wird, nachdem der Betrug ans Licht kommt, zur gnadenlosen Rächerin. Nach der Ermordung Sigurds wird sie nicht mehr erwähnt. Erst am Ende der Saga taucht sie wieder auf, um dem Sohn Högnis die Übernahme des Hunnenlandes zu ermöglichen. "Brynhild ist die einzige Hauptperson aus Thidreks Generation, deren Tod die Saga nicht erwähnt." (Rorbert Nedoma)Als isländische Königin und alleinige Herrscherin in ihrem Reich, wie Brünhild im "Nibelungenlied" eingeführt wird, formuliert sie den Anspruch "Der schönsten Frau gebührt der stärkste Mann." Die Jungfrau mit übermenschlichen Kräften fordert die Werber um ihre Hand zum Wettkampf auf Leben und Tod. Nur wer sie besiegt, kann sie zur Frau gewinnen. Im "Nibelungenlied" wird das Hauptaugenmerk auf die Monstrositäten Brünhilds gelegt. Sie ist nicht nur wehrfähig, sie hat auch noch größere Kraft als ein Mann, denn ihr Schild wird von vier Männern herangeschleppt, der Speer ist so schwer, dass er von drei Männern getragen werden muss, und den zu werfenden Stein bringen zwölf Männer. Durch diese Beschreibung wird Brünhild nicht nur vom weiblichen Geschlechtskonstrukt ausgeschlossen, sondern aus der Gesellschaft überhaupt. Das wird durch die Reaktionen der Männer bestätigt: Hagen bezeichnet sie als Teufelsweib und Gunther als den Teufel persönlich. Auch ihr Aufenthaltsort und ihre unbekannte Herkunft kennzeichnen sie als außerhalb der höfischen Gesellschaft stehend. Die eindeutige Überlegenheit Brünhilds bedeutet eine Herausforderung und auch eine Bedrohung für die männliche Welt. Zweimal wird Brünhild im Nibelungenlied Opfer einer Täuschung durch Siegfried, beim Wettkampf und bei ihrer Bezwingung in der Brautnacht. Siegfried gelingt es mit Hilfe der Tarnkappe, das vreisliche wip, den übeln Tiuvel zu bezwingen, damit Gunther die Ehe vollziehen kann. Brünhilds Widerstand ist gebrochen, als Siegfried ihr Gürtel und Ring abnimmt. Zugleich mit ihrer übermenschlichen Kraft verliert sie auch ihre außergewöhnliche Stellung und ihren Besitz. Sie akzeptiert von nun an die ihr zugeteilte Rolle als Ehefrau Gunthers und führt das Leben einer höfischen Frau.
"jetzt war sie auch nicht stärker als jede andere Frau. Er liebte sie zärtlich. Wenn sie auch weiterhin versucht hätte, Widerstand zu leisten, was könnte das nützen. Das hatte ihr alles Gunther mit seiner Liebe getan." (Nibelungenlied 682)Da Brünhild nun Teil der höfischen Welt ist und auch deren Regeln kennt und beachtet, grübelt sie jahrelang über die Steigbügelszene auf Isenstein nach, die sie als Zeichen dafür wertet, dass Siegfried Lehnsmann von Gunther ist. Bei einem Besuch von Siegfried und Kriemhild kommt es zum Streit mit Kriemhild als diese vor Brünhild den Dom betreten will. In diesem Zusammenhang wird besonders deutlich wie sehr sich die höfischen Frauen über die Macht ihrer Männer definieren. Zunächst geht es beim Streit nur um die Rangfolge und damit die Macht der Ehemänner. Erst als Kriemhild damit prahlt von Siegfried Brünhilds Gürtel und Ring bekommen zu haben, erkennt Brünhild den Betrug in der Hochzeitsnacht. Brünhild bricht beim Streit immer wieder hilflos in Tränen aus und widerspricht so der Vorstellung von einer starken Königin. Der Mythos der unbezwingbaren Brünhild ist im "Nibelungenlied" bereits zerstört. Selbstbestimmte Rache kann sie nicht mehr ausüben, nur Gunther kann jetzt ihre Ehre retten, indem er die Wahrheit vor allen offenbart und den Schuldigen zur Rechenschaft zieht.  "Der schönsten Frau gebührt der stärkste Mann", nur ist das im "Nibelungenlied" nicht Brünhild sondern Kriemhild. Über das Ende der "höfischen" Brünhild erzählt das "Nibelungenlied" nichts. Im zweiten Teil spielt sie keine Rolle mehr. In der "Klage" erfahren Brünhild und Ute durch Etzels Boten Swämmel vom Untergang der Burgunden. Brünhild bekennt ihre Mitschuld an der Ermordung Siegfrieds und sieht in Gunthers Tod ihre Strafe. Sie übernimmt die Herrschaft für ihren unmündigen Sohn. Ihre mythische Vergangenheit spielt auch hier keine Rolle mehr. Ihr Ende wird auch in der "Klage" nicht geklärt. Abgesehen vom "Lied des Hürnen Seyfrieds", das im 16. Jahrhundert erscheint und sich mit der Jugend Siegfrieds befasst, erlebte der Nibelungenstoff erst im 18. und 19. Jahrhundert eine Renaissance. Die erste deutsche Ausgabe der Prosa Edda erschien 1777 durch Jakob Schimmelmann. 1802 machte Friedrich Schlegel zum ersten Mal auf die isländische Fassung der Nibelungensage aufmerksam und verglich sie mit dem deutschen Nibelungenlied. Friedrich von Hagen übertrug es fünf Jahre später aus dem Mittelhochdeutschen und machte das Nibelungenlied dadurch zum Nationalepos. Die Rezeption des Nibelungenstoffes entwickelte sich nach seiner Wiederentdeckung in zwei Richtungen: "eine ästhetisch-mythische Traditionslinie, die von Goethe, der frühen Romantik, von Hegel, Gervinus und Hebbel bis zu Friedrich Theodor Vischer, Richard Wagner und Thomas Mann  ironisierender Psychologisierung des Nationalmythos reicht; und eine politisch-ideologische Traditionslinie." (Wolfgang Frühwald)
Letztere erreichte im 20. Jahrhundert unter den Nationalsozialisten ihren traurigen Höhepunkt.
Friedrich de la Motte Fouqué war der erste, der den Nibelungenstoff dichterisch verarbeitete. 1808 schrieb er sein Lesedrama "Sigurd der Schlangentöter", das er 1810 zu der Trilogie "Der Held des Nordens" ausweitete. Die Motive entstammen größtenteils der "Völsunga saga". Auch Friedrich Hebbel versuchte, wie de la Motte Fouqué, den Nibelungenstoff zu dramatisieren. Seine Nibelungen-Trilogie wurde 1861 mit großem Erfolg in Weimar uraufgeführt. Hebbel vermittelt in seinem Werk seine eigene Geschichtsperspektive: Auf das mythische Zeitalter folgt ein heidnisches, das schließlich vom christlichen Zeitalter abgelöst und überwunden wird. Die Brunhild ist am Anfang bei Hebbel ein "Teufelsweib", die "letzte Riesin", ein "Vampir". Er lässt von ihr sagen, sie habe flüssiges Eisen in den Adern, ein Daumendruck von ihr genüge um Freier fortzuschnellen und auf jedes Glied an ihrem Leibe käme einer, den die kalte Erde decke. Dass dieses wilde Wesen gezähmt werden muss, versteht sich von selbst.
"Mythologin wie Mythologe ziehen Handlungssegmente der verschiedenen Traditionen zu einem für sie stimmigen Bild zusammen. Damit ist weniger dem Nibelungenepos und seinem Stoff als dem je aktuellen Mythenbedarf gedient."
(Otfrid Ehrismann) Am nachhaltigsten setzt sich der Brünhild-Mythos in Wagners "Ring des Nibelungen" fort. Richard Wagner kam zum ersten Mal als Gymnasiast in Kontakt mit den Dichtungen des Mittelalters in der Bibliothek seines Onkels Adolf, der ein Freund Fouquéts war. In seiner frühen Schaffensphase wechselte Wagner noch zwischen Tragödie und Komödie, zwischen Ritterstück und Schäferspiel, zwischen Märchen und historischen Themen. Erst bei "Rienzi" 1838 nahm der historische Stoff konkrete Formen an. Der nordische Sagenstoff faszinierte ihn immer mehr. Für Wagner war die nordische Sagenwelt der Schlüssel zum Verständnis aller Sagen. 1846 schrieb er seinem Komponisten Niels W. Gade "Ich muss nach ihren altnordischen Edda-Dichtungen greifen, die sind viel tiefsinniger als unsere mittelalterlichen." Noch während der Arbeit am "Lohengrin" vertiefte er sich in die "Thidrekssaga", die "Heimskringla" und die "Völuspá" der Lieder-Edda. Mehr als die Hälfte der Strophen in der "Weissagung der Seherin" beschäftigen sich mit "Ragnarök", dem drohenden Weltuntergang, der Götterdämmerung. Am Ende aber steigt eine neue Welt aus den Fluten empor und die unschuldigen Göttersöhne nehmen Odins Fürstenhalle "Walhall" in Besitz. Überall im "Ring" spürt man den Geist der "Völuspà". Verrat folgt auf Verrat bis zur totalen Vernichtung.
Die Wagnerschen Männerfiguren opfern die Frau und die Liebe für Macht und Konvention. Bei den Frauen in seinen Werken ist die Bereitschaft zum Leiden, zur Unterwerfung und Erniedrigung grenzenlos. Eine Lösung für beide, Mann und Frau, ist nur im Tod gegeben. Bereits im "Rheingold" muss die urzeitliche Macht des Matriarchats der Macht des Patriarchats weichen. Wotan stellt die Verkörperung von Macht, Gesetz und Ordnung dar. Seine Macht verdankt er Verträgen. Vom Matriarchat bleiben nur wenige Frauen übrig: Fricka, Wotans Gemahlin und Schutzgöttin der Ehe, Freya, ihre Schwester, die die goldenen Äpfel hegt, die den Göttern ewige Jugend schenken und die Walküren, die einzig bewaffneten Frauen in Wagners Werken. Aber auch sie müssen sich in der dominierenden Männergesellschaft den herrischen Prinzipien unterwerfen und das Gesetz über die Liebe stellen. "Nur wer der Minne Macht versagt, nur wer der Liebe Lust verjagt, nur der erzielt sich den Zauber, zum Reif zu zwingen das Gold." (Alberich, 1. Szene Rheingold) "Das Weib ist aber nicht mehr die heimatlich sorgende, vor Zeiten gefreite Penelope des Odysseus, sondern es ist das Weib überhaupt, aber das noch unvorhandene, ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib – sage ich es mit einem Worte heraus: das Weib der Zukunft." Wagner spricht "vom Weib der Zukunft" zum ersten Mal in Zusammenhang mit der Senta des "fliegenden Holländers". Nachdem er aber die "Ring" Dichtung beendet hat, braucht er Senta nicht mehr. Eine neue Frauenfigur war entstanden: Brünnhilde. An seinen Freund Röckel schreibt Wagner: "Nicht eher sind wir das, was wir sein können und sollen, bis – das Weib nicht erweckt ist." Ein Vierteljahr später schildert er Liszt diese neue Brünnhilde so: "Du hast z. B. nicht mehr darüber Dich zu ängstigen, was diese Leute zu dem "Weibe" sagen werden, die unter "Weib" immer nur ihre Frau, oder – wenn sie sich hoch versteigen – ein Bordellmädchen denken können." Brünnhilde ist das heroische Weib, das den Männern zeigt, wo's lang geht. Sie stammt aus Wotans gewaltsamer Verbindung mit Erda und ist eine der neun Walküren, die allesamt Wotans Töchter sind. Sie greifen nach Wotans Befehl in die Schlachten der Menschenmänner ein und verhelfen dem einen oder anderen zum Sieg. Die Gefallenen bringen sie nach Walhall wo sie Wotans Reservearmee darstellen. Im zweiten Akt der "Walküre" hat Brünnhilde ihren ersten Auftritt, der beinahe unfreiwillig komisch gerät: vierzehn Mal ruft sie "Hojotoho" und "Heiaha", das ist der Kriegsruf der Walküren. Brünnhilde ist Wotans Lieblingstochter und das verschafft ihr gewisse Sonderrechte, so spricht sie von sich als "Wotans Wille". Wotan sagt zu ihr: "Mit mir nur rat' ich, red ich zu dir". Sie ist praktisch ein Teil Wotans. Der Konflikt bahnt sich bald an: "Dem Wälsung kiese sie Sieg!" Wotan bestimmt wer im anstehenden Zweikampf Sieger sein solle, Siegmund, sein heimlicher Sohn und Zwillingsbruder Sieglindes. Der Erbe, auf den Wotan seine Hoffnung setzt. Die Aufgabe Brünhildes wäre leicht, wenn Siegmund nicht gegen den Ehemann Sieglindes kämpfen würde, und er kämpft um sie nicht als Bruder, sondern als ihr Geliebter. Wotans Ehefrau Fricka, die Schutzgöttin der Ehe, besteht auf Siegmunds Tod und hier muss Wotan das Gesetz über seine Zuneigung zu Siegmund stellen. Dies ist eine der Stellen im "Ring", an denen er zwar der offiziellen Moral die Stimme leiht, dem Verbotenen aber die Sympathie. "Versinkend in das Gefühl seiner Ohnmacht" muss Wotan Brünnhilde zurückrufen. "In eigner Fessel fing ich mich, ich Unfreiester Aller, der Traurigste bin ich von allen." Damit beginnt sein Gespräch mit Brünnhilde, das das naheste und zärtlichste ist. Brünnhilde: "Zu Wotans Willen sprichst du, sagst du mir, was du willst: wer bin ich, wär ich dein Wille nicht:" Der Traum Wagners von der zweiten, weiblichen eigenen Ergänzung, ja sagend, zuhörend, mit besorgter Zärtlichkeit, traulich und ängstlich, Haupt und Hände ihm auf Knie und Schoß." (Regieanweisung) Dieser Traum ist verführerisch, er geht aber nicht auf. Brünnhilde ist nicht nur Spiegel, sie trägt die Rebellion bereits in sich – und das ist Wagners wirklicher Traum. Brünnhilde ist schon bereit, Wotan zu gehorchen, doch dann begegnet sie Siegmund vor seinem Kampf und alles ändert sich. Zuerst verspricht sie ihm den ruhmreichen Heldenhimmel, doch das interessiert Siegmund nicht und er sagt ihr was er von derlei göttlichen Werten hält: "So jung und schön erschimmerst du mir: doch wie kalt und hart kennt dich mein Herz!" Und Brünnhilde entscheidet sich gegen die Werte ihres Vaters: "Beschlossen ist's, das Schlachtlos wend' ich: dir, Siegmund, schaff ich Segen und Sieg!" Das wird auch in der Musik deutlich: in höchstem Tempo jagen Streicher-Skalen auf und ab, tremolieren die Bläser. Zum ersten Mal widersteht Liebe offen dem Gesetz. Wotan muss selbst eingreifen und mit seinem Speer Siegmunds Schwert zerschlagen. Brünnhildes Ungehorsam macht sie frei. Ihre Schwestern sind fassungslos als sie von ihrer Tat hören. Wotan ist außer sich vor Zorn und fühlt sich von Brünnhilde  betrogen wie von einer betrügerischen Geliebten. Voll patriarchalischer Richter – und Strafgewalt enthebt er sie ihres Walkürenamtes "Wunschmaid bist du nicht mehr: Walküre bist du gewesen – nun sei fortan, was so du noch bist!" Wotan meint damit eine Menschenfrau, die dem Willen ihres Mannes unterworfen ist. Ende der Vater-Tochter-Beziehung: "Nicht kos ich mehr den kindischen Mund: von göttlicher Schar bist du geschieden,…gebrochen ist unser Bund, aus meinem Angesicht bist du verbannt!" Entsprechend hart fällt die Strafe aus: "Hierher auf den Berg banne ich dich: in wehrlosen Schlaf schließe ich dich ein. Der Mann dann fange die Maid, der am Wege sie findet und weckt… durch die Lüfte nicht reitet sie länger: die magdliche Blume verblüht der Maid; ….dem herrischen Mann gehorcht sie fortan, am Herde sitzt sie und spinnt, aller Spottenden Ziel und Spiel!"Als Strafe für das Aufbegehren der Tochter gegen den Vater, droht Brünnhilde die Vergewaltigung durch einen fremden Mann, der damit zu ihrem Besitzer würde. Brünnhilde ist entsetzt. Dass ihr Vater sie nicht mehr sehen will, versteht sie, aber das irgendein "Wertloser", ein "feiger Prahler" des Weges kommen kann und sie sein Eigentum wird, das kann sie nicht akzeptieren. Und plötzlich entsteht aus der Streitsituation ein neuer Plan: Wotan wird Brünnhilde in Schlaf versetzen. Da kann sie selbst sich zwar nicht mehr verteidigen, das wird aber der Feuerwall für sie übernehmen, der sie umgeben soll. Nur der Beste, der Held schlechthin, der Feuerbezwinger kann Brünnhilde überwältigen. Weil die Erniedrigung für sie zuvor viel größer schien, ist Brünnhilde  nicht nur dankbar, sondern regelrecht entzückt. Mit "wilder Begeisterung" – so die Regieanweisung – willigt sie ein in ihre dramatische Bestrafung: "Auf dein Gebot entbrenne ein Feuer; den Felsen umglüht lodernde Glut…" Brünnhilde, die Kämpferin, darf sich nicht mehr selbst verteidigen – das muss sie Loge, dem Gott des Feuers überlassen. Wotans Abschied von Brünnhilde, das ist der bei Wagner immer wiederkehrende Traum vom Liebestod. Wotan, der sein Ende herbei sehnt, zwingt auch ihr ein Ende auf. "Leb wohl, du kühnes, herrliches Kind! Du meines Herzens heiligster Stolz…Muß ich dich meiden, und darf nicht minnig mein Gruß dich mehr grüßen;…muß ich verlieren dich, die ich liebe, du lachende Lust meines Auges." Wotan, von zunehmenden Selbstzweifeln geplagt, bestraft sich durch die Weggabe Brünnhildes selbst. "Nur einer freie die Braut, der freier ist als ich, der Gott." Und dieser Mann, der Mann der Zukunft, wird Siegfried sein."Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!" Siegfried aber, der Wotans Speer nicht fürchtet, sondern ihn zerschlägt, diesen Siegfried dürfte man keiner Frau wünschen. "Ein Schlagetot, ein Schreihals, ein Schulterklopfer und Ignorant, ein schrecklicher Gewohnheitssieger, der überall nur Verprügelte, Getötete, Überwundene hinterlässt. Er hat den Ring des Nibelungen vom Drachen, dem früheren Riesen Fafner erbeutet. Aber all seine Heldentaten sind Regungen des Augenblicks, er hat keine Geschichte, kein Bewusstsein von sich selbst, keine Hemmungen, ein Männertraum – Wotans Traum." (Sabine Zurmühl)
Als Siegfried Brünnhilde küsst, die erste Berührung, die sie wieder spürt, nach Wotans Kuss, erwacht sie und während sie sich langsam aufrichtet, erscheint eine neue, noch nie da gewesene Musik im Ring. Wagner hat später einmal zu Cosima gesagt: "Du wirst dich wundern, wie ich in meiner nächsten Arbeit das deute, dass die Sonne weiblich ist." Hier erwacht etwas Neues, nicht nur eine schlafende Frau, sondern das "Weibliche" an sich. Brünnhilde erscheint es schlüssig, dass ausgerechnet der Sohn von Siegmund und Sieglinde als ihr Retter erscheint und will ihm ihre Situation erklären aber schnell merkt sie, dass Siegfried überhaupt nicht begreift wovon sie spricht. Aus der Kämpferin ist eine Frau geworden, die um ihre körperliche Unversehrtheit bitten muss. Das einzige was Siegfried darauf entgegnet ist: "Lache und lebe süßeste Lust! Sei mein, sei mein, sei mein." Da erkennt Brünnhilde ihre wirkliche Strafe. Sie verabschiedet sich von ihrer Herkunft, ihrem Vater, ihren magischen Kräften: "Lachend will ich erblinden, lachend lass uns verderben, lachend zugrunde gehen. Leuchtende Liebe – lachender Tod." Später einmal spricht Wagner von der Verbindung zweier vollendeter Wesen. Das ist nicht so positiv gemeint wie es klingt. Sie sind nur jeder für sich "vollendet". Ihre Liebe aber bringe keine "erlösende Welttat" hervor. Der Grund: "Siegfried weiß nicht, was er verschuldet: als Mann, einzig der Tat zugewendet, erkennt er nichts, er muss fallen, dass Brünnhilde zur höchsten Erkenntnis gelangt." Ihre Liebe zu Siegfried ist im Grunde ein Irrtum. Die "Götterdämmerung" beginnt mit dem Aufbruch Siegfrieds zu neuen Taten. Brünnhilde hat sich hingegeben, hat ihr Wissen und ihre Stärke geopfert und hält das zunächst noch für einen Gewinn. Ihrer Schwester Waltraude erzählt sie, wie die Liebe sie von ihrem einstigen Leben abgebracht und befreit habe. Als Unterpfand seiner Liebe hat Siegfried ihr den Ring überreicht. Den Ring des Nibelungen, den Fluchring, der Wotan die Grenzen seiner Macht zeigte, der die Riesen Fasolt und Fafner zum Brudermord brachte. Der Ring wird es sein, an dem Brünnhilde sehr viel später die Intrige gegen sie durchschaut, nachdem Siegfried sie ein zweites Mal – diesmal in Gunthers Gestalt – in seine Gewalt bringt. In ihrer Überwältigung durch den Mann erkennt Brünnhilde, dass sie schwach ist, solange sie auf die Liebe der anderen baut und nicht auf ihre eigene: "Was könntest du wehren, elendes Weib." Diese Erkenntnis lässt sie erst zu der Frau werden, die das "Weib der Zukunft" ist. Siegfried, der Mann, der sich an ihr vergangen hat, muss untergehen und mit ihm alle, die sind wie er. Zu Gunther sagt sie: "Dich verriet er, und mich verrietet ihr alle. Wär' ich gerecht, alles Blut der Welt büßte mir nicht eure Schuld! Doch des einen Tod taugt mir für alle: Siegfried falle – zur Sühne für sich und euch!"Sie wird wieder zur Frau mit der Waffe in der Hand, zur Wotanstochter. Mit ihm macht sie ihre letzte Rechnung auf, Siegfried ist am Schluss des "Rings" nicht mehr wichtig. "Mein Klage hör, du hehrster Gott….mich musste der Reinste verraten, dass wissend würde ein Weib." Durch ihre schmerzlich gewonnene Freiheit kann sie nun auch die Welt befreien. "Alles, alles, alles weiß ich – alles ward mir nun frei. Auch deine Raben hör ich rauschen: mit bang ersehnter Botschaft send ich die beiden nun heim. Ruhe, ruhe du Gott!" Brünnhilde sucht den Tod als höchste Form der Liebe. "Liebe, die zum befreienden Tod führt, aber auch zu jenem Tod, der die Welt befreit." (Dieter Schickling)
Das Feuer, das einst ihr Gefängnis war, das gibt sie nun weiter: "Der Götter Ende dämmert nun auf. So werf ich den Brand in Walhalls prangende Burg." Ragnarök. Der Weltuntergang. Brünnhilde, die apokalyptische Reiterin. In Wagners Ring heißt es: Der Rhein tritt über seine Ufer, er erhält den Ring, den schrecklichen zurück – und aus den Trümmern der zusammengestürzten Halle sehen die Männer und Frauen in höchster Ergriffenheit dem wachsenden Feuerschein zu. "Die sind es, für die das Feuer sich lohnt – vielleicht". In einer später wieder verworfenen Variante von Brünnhildes Schlussworten schreibt Wagner:
"Nicht Gut, nicht Gold, noch göttliche Pracht; nicht Haus, noch Hof noch herrischer Prunk; nicht trübe Verträge trügender Bund, nicht heuchelnder Sitte hartes Gesetz: selig in Lust und Leid lässt – die Liebe nur sein."

Literatur
UDO BERMBACH, DIETER BORCHMEYER (Hrsg.) "Richard Wagner "Der Ring des Nibelungen" Ansichten des Mythos"; Metzler, Stuttgart 1995
MARTIN GREGOR-DELLIN "Richard Wagner"; Piper, München 1980
KATHARINA FRECHE "Von zweier vrouwen bagen wart vil manic helt verlorn" Untersuchungen zur Geschlechtskonstruktion in der mittelalterlichen Nibelungendichtung; Wissenschaftlicher Verlag Trier 1999
ULRICH MÜLLER, WERNER WUNDERLICH (Hrsg.) "Mittelalter Mythen: Herrscher, Helden, Heilige"; UVK Fachverlag für Wissenschaft und Studium, St. Gallen 2001
DIETER SCHICKLING "Abschied von Walhall, Richard Wagners erotische Gesellschaft"; Droemer Knaur, Stuttgart 1983
RICHARD WAGNER "Der Ring des Nibelungen, ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend"; Reclam, Stuttgart 1998
SABINE ZURMÜHL "Leuchtende Liebe – lachender Tod"; Frauenbuchverlag, München 1984