Darf Brunhild
Hagen lieben?


Möglichkeiten und Grenzen bei der Bearbeitung des Nibelungenlieds

von Ulrike Schäfer

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Schmoll von Eisenwerth, Kriemhild und Hagen, 1911 ..


Hinführung

Darf Brunhild Hagen lieben? Eigentlich eine absurde Vorstellung. Man weiß, dass sie extrem standesbewusst war. Mit dem Tronjer machte sie nur einmal gemeinsame Sache, nämlich, als sie von der Schwägerin öffentlich blamiert wurde und Genugtuung verlangte. Nichts desto trotz hat diese mysteriöse Liebe Einzug in die Literatur gefunden. In ihrem Roman „Die Nebel des Morgens“ macht Viola Alvarez das Unmögliche möglich.
In einem anderen historisierenden Schmöker hat sich der grimme Hagen in seine Nichte Kriemhild verliebt. Ziemlich absurd, wenn man bedenkt, was er ihr im Laufe der Geschichte antat. Der Autorin Christiane Gohl, die „Das gestohlene Lied“ geschrieben hat, waren schon in früher Jugend die „Brüche und offensichtlichen Lücken in dieser faszinierenden Geschichte“ aufgefallen und sie wollte sie in ihrer Erzählung aus Kriemhilds Sicht „einfach logischer auf die Reihe bringen“. Ihrer Meinung nach entstanden alle Probleme am Burgunderhof nur deshalb, weil Hagen Kriemhild hasste, und dahinter könne eigentlich nur ein Motiv gesteckt haben: verschmähte Liebe.
Und weil alle guten Dinge drei sind, zeigt sich der raue Hagen auch in der Zweitfassung von Moritz Rinkes Nibelungen, in „Siegfrieds Frauen“, als Sensibelchen und verliebt sich in eine knackige Mitvierzigerin im Ledermini. Die schöne Isolde gehört zum Tross der isländischen Amazonen und steht für Emanzipation und Unbezähmbarkeit. Das hat in der Rinkeschen Lesart natürlich eine gewisse innere Logik. Weil Brünhild bereits beim Anblick Siegfrieds ihre amazonenhafte Selbständigkeit verrät, muss stellvertretend Isolde mit Spott und Charme die Stellung halten und markiert noch eine ganze Szene lang den Gegenentwurf zur konventionellen Ödnis am Wormser Hof. Was wäre wohl passiert, wenn aus ihr und Hagen ein paar geworden wäre?
„Darf Brünhild Hagen lieben?“ ist der Titel meines Vortrags, der sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Bearbeitung des Nibelungenlieds beschäftigt.
Ich meine damit nicht die Sagenstoffe, die vor der Entstehung des Lieds bereits existierten und die sich auch parallel dazu entwickelten, sondern ausdrücklich das Werk, das ein anonymer Dichter, möglicherweise Bligger von Steinach, um 1200 geschrieben hat und das uns in vielen Abschriften mit weitgehend identischem Inhalt vorliegt. Der erste Teil des Epos spielt in Worms. Nicht weil die historischen Burgunder einmal hier einen Königssitz hatten – was ja nicht zu beweisen ist – sondern weil der Dichter aus welchen Gründen auch immer Worms als Ort der Handlung nennt, immer wieder – und damit bis heute das beste Argument liefert für die Durchführung der Nibelungenfestspiele in unserer Stadt.
Lässt man sich auf das Lied als Bezugspunkt ein, dann sind die Personen benannt, der Handlungsablauf ist klar. Oder doch nicht?
Ist es überhaupt möglich, das Nibelungenlied werkgetreu darzustellen?
Kann man 38 Aventüren tatsächlich in einer zuschauerverträglichen Version dramatisch umsetzen? Wo kürzt man? Was nimmt man weg? Und welche Akzente setzt man damit? Welche Kostüme, welche Kulissen wählt man, denn das Lied spielt ja auf zwei zeitlichen Ebenen: die Handlung der alten Mären, die Zeit der Völkerwanderung und der Sesshaftwerdung, wird vom Dichter hineingepackt in die Zeit um 1200, die seine eigene war.
Diese Fragen zeigen, wie schwierig es ist, Authentizität an äußerlichen Kriterien festzumachen. Dabei gehen wir ohnehin stillschweigend davon aus, dass wir bei aller Werktreue die mittelalterliche Sprache eben nicht mehr verwenden und auch nicht die Erzählform: niemand würde es heute aushalten, das Lied in Etappen gesungen anzuhören.
Schwieriger wird es noch, wenn wir darüber nachdenken, ob das Nibelungenlied sich unkommentiert denn wirklich von selbst versteht. Zum einen, weil die in dem Epos dargestellte Lebenswelt und Denkweise uns so fremd ist, dass man um Erläuterungen, fast möchte ich sagen, um Übersetzungen nicht herum kommt. Zum anderen aber weil es durch die ambivalente Darstellung der Figuren, die völlige Zurückhaltung des Dichters mit Bewertungen doch einigen Missdeutungen Vorschub leistet. Nachdem ich vorgestern Hans Müllers spannenden Vortrag gehört habe, ist mir noch einmal deutlich bewusst geworden, dass man eine Verherrlichung des Heldentums, speziell im zweiten Teil, unter bestimmten ideologischen Vorzeichen durchaus aus dem Lied herauslesen kann. Gerade vorm Hintergrund unserer Erfahrungen ist es notwendig, jegliche Ideologisierung auszuschließen.
Doch ein lebendiges Kulturgut muss ohnehin fortgeschrieben, angepasst, ja, ich möchte fast sagen, der jeweiligen Zeit eingemeindet werden, andernfalls gehört es in die Mottenkiste. Gerade das Fehlen einer schlüssigen Moral im Nibelungenlied, anders gesagt, die Offenheit der Sinnebene, fordert immer wieder zu neuen Deutungen heraus und lässt die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen zu.
Der Dichter ermuntert sogar zur Veränderung. Er hat ja selbst den Stoff aus verschiedenen Sagen zu einem Ganzen gewoben, aus Vorhandenem etwas Neues gemacht hat. Indem er den Kunstgriff der verschiedenen Zeitebenen verwendet, (vielleicht weil es damals einfach chic war, alte Geschichten zu erzählen, vielleicht weil man sich damit eine eigene illustre Vergangenheit mit vielen berühmten Personen schmieden wollte, vielleicht aber, um unterm Deckmantel der „alten Mären“ aktuelle Missstände kritisieren zu können), lädt er zum Spielen mit der Zeit ein und erlaubt uns genau besehen, diese Idee weiterzuführen, das Stück in andere Zeiten zu transponieren, programmatisch oder auch persiflierend. Mir fällt dazu immer wieder die bezaubernde Operette „Die lustigen Nibelungen“ von Oscar Straus ein, uraufgeführt 1904, die mit der ziemlich maroden Nibelungenfamilie das Kaiserhaus karikierte und den Nibelungenboom jener Zeit satirisch aufs Korn nahm. Mit der gleichen Begründung hat übrigens auch das Kikeriki-Theater die Geschichte neu erzählt. „Wir haben nach dem Vorbild der „alten Schreiber“ hinzugefügt und weggelassen, wie es uns gefiel“, schreiben sie im Programmblatt ihrer überaus erfolgreichen Komödie „Siegfrieds Nibelungenentzündung“.

Wie weit aber dürfen wir aber dabei gehen?
Niemand wird etwas dagegen haben, dass gewisse Szenen auf heutige Verhältnisse „heruntergebrochen“ werden, etwa wenn Karin Beier in ihrer Hebbel-Inszenierung die Könige und ihre Berater in moderne Anzüge steckt, sie über rote Teppiche laufen und sie vor klickenden Kameras Hände schütteln und Erklärungen abgeben lässt. Und wenn bei Rinke/Wedel das Fernsehen den Kampf aus Isenland überträgt, dann ist dies natürlich einerseits ein Kunstmittel, um einen schwierigen Szenenwechsel zu gestalten, und andererseits eine folgerichtige Modernisierung: wie früher vielleicht der fiedelnde Sänger das beherrschende Nachrichtenmedium war, so ist es heute das Fernsehen.
Übrigens: Dreharbeiten rund um eine Nibelungen-Fernsehserie – damit könnte man das schwierige Thema auf verschiedene Ebenen platzieren, einander gegenüberstellen und vielleicht besonders gut transparent machen.

Wie aber sieht es aus, wenn tragende Personen gestrichen, neue eingeführt werden? Ich erinnere an Isolde bei den Festspielen im letzten Jahr und derzeit Sylva, die Geliebte Etzels, aber auch an Frigga, Brünhilds Vertraute bei Hebbel. Dürfen neue Szenen eingefügt werden? Ich denke da an Isoldes Techtelmechtel mit Hagen, aber auch an Dietrichs Vision bei Hebbel, in der er die Zeitenwende voraussieht. Dürfen Charaktere erweitert oder verändert werden? Darf Kriemhild eine jugendliche Revolutionärin sein? Dürfen sich die beiden erbitterten Rivalinnen mögen, ja gegenseitig anziehen? Und schließlich: Darf gar die Handlung völlig abgewandelt werden, wie in der jüngsten Inszenierung „Die letzten Tage von Burgund“ geschehen?
Die Frage ist, ob es so etwas wie eine innere Authentizität gibt. Anders gesagt: wann hört das Nibelungenlied auf Nibelungenlied zu sein?
Ich bin der Meinung, dass Veränderungen sich an ihrer dramaturgischen Absicht messen lassen müssen, ob sie tiefer ins Lied hineinführen, Motive verständlicher machen, Gültigkeiten deutlicher herausarbeiten, ob sie problematisieren, Distanz aufbauen, Stellung beziehen.

Ich habe versucht, mich auf drei Ebenen dieser inneren Authentizität zu nähern, wobei ich das Kriterium der Form außer Acht gelassen.
Eine wichtige Ebene der Textinterpretation ist die emotionale. Dabei geht es um die Gefühle, die die Personen empfinden und die der Antrieb für ihr Handeln zu sein scheinen. Auf dieser Ebene steigen viele der modernen Autoren gerne ein. Liebe, Eifersucht, Hass, Neid, Rache, das sind Gefühle, die nach wie vor verstanden werden. Zu bedenken ist dabei, dass Menschen zwar zu allen Zeiten von Gefühlen gesteuert wurden und werden, dass aber auch Empfindungen immer den Werten ihrer Zeit unterworfen sind. So war die mittelalterliche Beziehung der Geschlechter zueinander völlig anders als heute. Vieles, was uns wichtig und selbstverständlich ist, etwa die freie Partnerwahl, die Selbständigkeit der Frau, die persönliche Integrität u.a. sind im Lied kein Thema. Der Frauenhandel, der Betrug und die Vergewaltigung Brünhilds, die Züchtigung Kriemhilds durch Siegfried, ihr stiefmütterliches Verhalten etc. sind Verhaltensweisen, die – wenn überhaupt – vom Dichter nur bedingt problematisiert werden, weil sie, wenn ich Otfried Ehrismann richtig verstanden habe, zu dieser Zeit auch nicht eigentlich ein Problem waren. Für manch heutigen Zeitgenossen ist genau das ein Grund, das Nibelungenlied gar nicht mehr in die Hand zu nehmen. Nichts desto trotz kann es gerade auf der emotionalen Ebene eine bewusstmachende und vielleicht sogar entlastende Funktion übernehmen. Rachegelüste aus verschmähter Liebe, verletztem Stolz, verwirktem Lebenskonzept werden zwar heute öffentlich geächtet, stellen sich aber nach wie vor in entsprechenden Situationen ein, sind nicht zu unterschätzendes Potenzial der menschlichen Triebstruktur und können keineswegs immer sublimiert werden. Moderne Adaptionen des Nibelungenlieds können also gerade diesen Aspekt hinterfragen und sichtbar machen.

Eine weitere Herangehensweise an den Text kann über die ständisch-politische Ebene erfolgen. Die Minne als Lebensprinzip, das Heiraten aus Staatsraison, die männliche Vormundschaft, der Ehrverlust aufgrund der Verletzung irgendwelcher Codices, dem die Sühne folgt, etc. Das alles ist uns – zumindest vordergründig – fremd geworden und lässt sich nur schwer auf unsere Situation übertragen. Moritz Rinke ist das Problem so angegangen, dass er die verkrusteten Formen am Burgunderhof und das Aufbäumen Kriemhilds gegen den „Muff von tausend Jahren“ ganz allgemein zum Thema machte, und war damit – für meine Begriffe – eigentlich schon eine Spur anachronistisch.
Aber es bieten sich andere Vergleichs- und Erkenntnismöglichkeiten an. Beispielsweise der Zusammenprall verschiedener Kulturen. Karin Beier hat das in ihrer Hebbel-Inszenierung atemberaubend deutlich gemacht. Ich meine die Zwangsintegration Brünhilds und darf mich selbst zitieren aus einem Bericht über die entscheidende Szene:
Wibke Puls als Brünhild, wie sie im Vertrauen auf ihre eigene Kraft zum Sprung ansetzt und im ungleichen Zweikampf von Siegfried niedergerungen wird, während die übrigen Burgunder den vermeintlichen Sieger Gunther hochleben lassen. Und schon fliegen im wahrsten Sinn des Wortes die Fetzen, wird die Folie auf dem Boden in Stücke gerissen, und Brünhilds Welt geht unterm Gellen der präzise eingesetzten Instrumente in Trümmer. Noch während die Zerstörungsorgie beklemmend nachwirkt, klatscht der Isländerin, die den allzu blauen Himmel und die allzu christliche Zivilisation der burgundischen Hauptstadt nicht zu schätzen weiß, ein Eimer Wasser über Gesicht und Körper. Da nützt auch anschließend sorgfältiges Trockenreiben nichts: besser kann man Zwangstaufe, Entwurzelung kaum bewusst machen.
Dieses Thema, der Umgang mit dem Fremden, die viel beschworene Integration, ist heute aktueller denn je. Plötzlich fallen einem Ehrenmorde, Zwangsheiraten und andere Dinge ein, die unser Weltbild erschüttern und uns herauserfordern. Richard Stumm hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Clan-Struktur im Nahen Osten, die starken Abhängigkeiten, die eine Freiheit individuellen Handelns nahezu unmöglich machen, diese Beziehungsgeflechte annähernd beschreiben und das Thema Nibelungentreue nachvollziehbar machen. Diese Perspektive so herauszuarbeiten, dass sie nicht nur als Problem, sondern als unser Problem erkennbar wird, wäre sehr reizvoll.
Ein anderer Ansatz, der sich aufdrängt, ist der Minnedienst. Wir scheinen heute – man möchte sagen Gott sei dank – weit entfernt zu sein von der teilweise recht überspannten Frauenverehrung des Mittelalters, aber natürlich wird auch bei uns eine bestimmte Form von Frauenkult betrieben, der angst und bange machen kann. Auf dem Rütelin im Nibelungen-Museum ist die Frage angesprochen von Dornröschen über Kriemhild bis Marilyn Monroe, und auch die Wormser Künstlerin Ingrid Winter hat bei der ersten Nibelungen-Ausstellung „Das Lied ist der Schatz“ in einer Installation auf diese Problematik hingewiesen.
Das wichtigste Kriterium, an den Text heranzugehen, ist allerdings die Frage nach dem Sinn des Lieds, die berühmt-berüchtigte Deutschlehrerfrage: Was wollte uns der Dichter sagen? Genauer gesagt, was wollte er seinen Zeitgenossen, den höfischen Menschen um 1200 sagen. Und: Hat er etwas zu sagen, das auch uns betrifft, hat er Fragen aufgeworfen, die auch unsere Fragen sind, liefert er uns mit seiner Geschichte vielleicht sogar einen Schlüssel zum Verständnis unserer eigenen Wirklichkeit?
Ich denke ja. Ich glaube, dass der Dichter des Lieds keinen Weltuntergangsfilm à la Hollywood als Nervenkitzel für die gelangweilte Gesellschaft an den Fürstenhöfen des Mittelalters drehen wollte – ausschließen kann ich es natürlich nicht, – sondern dass er seinen Zeitgenossen etwas mitteilen, ihnen etwas klarmachen wollte. Er hat aber die Interpretation nicht mitgeliefert. Deshalb konnte in der Zeit des Nationalsozialismus Missbrauch mit dem Werk getrieben werden. Heute wird gern die Idee vertreten, dass der Dichter habe zeigen wollen, „wie man’s nicht machen soll“. Als einer der Gründe für die Katastrophe wird die „uebermuete“ angesehen, die Unfähigkeit, das rechte Maß zu wahren. (Ist das auch für uns eine Frage?) Dr. Ellen Bender und andere haben auf die Verbindung zu dem politischen Mahner Walter von der Vogelweide hingewiesen. Wendet sich das Lied demnach vielleicht gegen die komplizierten lähmenden Lehnsverhältnisse des Mittelalters, die expansive Machtpolitik der Staufer, den Verfall der Werte? Oder sollte man den Dichter ganz wörtlich nehmen, dass Frauen in Machtpositionen der Anfang vom Ende sind. Ich zitiere hier die 6. Strophe des Lieds: „Sî stûrben sît jæmerlîche von zweier edelen frouwen nît“. Schließlich wäre es auch möglich, dass der Dichter, wie Otfried Ehrismann ausführt, einen Gedanken der antiken Tragödie umgesetzt hat, nämlich dass auf Liebe Leid folgt. Das ist sicher nicht von der Hand zu weisen, weil es im Lied immer wieder gesagt wird; dies wäre dann, wenn ich’s richtig verstehe, ein unpolitischer Ansatz.


Den Sinn erschließen

Moritz Rinke und Dieter Wedel haben sich relativ weit vom Liedtext entfernt. Dergestalt, dass Gunther Dietlinde heiraten möchte, während sie sich im Original mit Giselher verlobt. Dass Hagen Siegfrieds Sohn erzieht, der doch im Lied in Xanten bei den Großeltern ist. Dass Brünhild sich mit Siegfried verbrennt, wovon im Lied nie die Rede ist. Dass Kriemhild Etzel liebt. Dass Hagen entlassen und unter Kuratel gestellt wird. Und vieles mehr.
Ich finde es durchaus reizvoll, die Dinge auf den Kopf zu stellen und beispielsweise ein anderes Bild von den Figuren zu entwickeln (Kriemhild als Frau, die ein neues Leben will, Hagen als Geige spielender Ziehvater, wobei ich sofort den Musik liebenden Judenmörder im KZ assoziiert habe, Etzel als moderner Herrscher, den ja auch schon bei Karin Beier die so genannten Christen schockierten etc.) und ihnen nach 800 Jahren in einem engen Korsett eine neue Freiheit zur Entscheidung zu geben. Leider kann ich die Gefühle und Motive dieser Figuren nicht nachvollziehen und sehe auch nicht, dass sich aus ihrer Neujustierung irgendwelche Konsequenzen ergeben. Die Katastrophe ist infolgedessen bei dieser Deutung dem Zufall, wie Wedel sagt, einer „Verkettung unglücklicher Umständen“ geschuldet. Das hat etwas Fatalistisches, schwer Verdauliches für mich, die ich immer noch rätsele, warum es bei uns vor über einem halben Jahrhundert zu einer ganz ähnlichen Katastrophe kommen konnte. Nach dieser Aufführung wusste ich nun nicht einmal mehr, wie man’s nicht machen sollte.
Nichtsdestotrotz haben sich Rinke/Wedel mit dem Inhalt des Nibelungenlieds intensiv auseinandergesetzt und – das ist mir ebenfalls nach dem Vortrag Hans Müllers aufgegangen – eine gründliche Entmythologisierung vorgenommen. Es wird jetzt ein für alle mal unmöglich sein, den Nibelungen Denkmale zu setzen und den Begriff der Nibelungentreue jemals wieder in positivem Sinn in den Mund zu nehmen. Kriege – vor allem Angriffskriege, und was ist ein Verwandtenbesuch, bei dem tausende von Knappen mitgenommen werden, schon anderes? – werden nicht aus hehren Motiven heraus geführt, das zeigt dieses Stück unter anderem überdeutlich, sondern aus unterschiedlichsten Interessen wie Machtbesessenheit, Größenwahn, Geldgier, Vorurteilen, Misstrauen, Hass, um nur einiges zu nennen. Selbst Rüdiger von Bechelaren, dessen Treuekonflikt im Lied besonders zu Herzen geht, wird hier als kühl kalkulierender Politiker zwischen zwei Großmächten eingeführt. „An der einen Hand der mächtigste Mann im Osten, an der anderen Hand der mächtigste Mann im Westen, das nenne ich Werdegang“, brüstet er sich vor der stummen Tochter Dietlinde, die er genau aus diesem Grund an den Burgunderkönig verschachert. Und sogar oder gerade Dietrich von Bern, der Held unendlich vieler Sagen, im Lied der große Verweigerer, der um Neutralität Bemühte, muss sich bei Rinke als unbeweglicher, versehrter Veteran zu erkennen geben, der nichts dazu gelernt hat. „Früher, da wollten wir noch die Welt erobern und ihr schöne neue Formen geben“, sagt er zu Etzel.
Mit ihm hatte ja auch Karin Beier ihre Probleme, als sie Hebbels Nibelungen inszenierte. Es war die Zeit, als der Irakkrieg begann, und sie war wie viele Menschen voller Entsetzen und Wut, dass im Namen Gottes und des vermeintlich Guten Kriege geführt und unschuldige Menschen niedergemetzelt wurden. Darum zeigte ihr Schlussbild eben nicht den Silbersstreif, den Hebbel mit Dietrich von Bern an den Himmel malt, sondern sie lässt den großen Hoffnungsträger ungerührt zu Hermelin, Zepter und Krone greifen und Kriemhild eigenhändig erstechen. Für mich kommt sie mit dieser Interpretation dem Furor des Kriegs, der im Nibelungenlied so eindrucksvoll, unerbittlich und ohne den Hauch einer versöhnlichen Geste, ohne kleinsten Hoffnungsschimmer geschildert werden, sehr viel näher als Hebbel.


Mit dem Lied arbeiten

Ich möchte zum Schluss anhand von zwei Beispielen zeigen, wie man auf sehr unterschiedliche Weise mit Themenschwerpunkten des Lieds umgehen kann.
Im letzten Jahr hat die Nibelungenhorde, eine Gruppe von zirka 40 Jugendlichen, aus einer Vorgabe von Regisseur Uwe John ein neues Stück entwickelt. Dabei erscheint allein schon die Idee, so etwas gemeinsam zu tun, zeitgemäß. Nicht im Sinne einer Nivellierung von dichterischer Zeugungskraft, um es einmal sehr feierlich zu sagen, sondern im Sinne einer Verdichtung durch gemeinsames Hineingehen in das Thema und Hinterfragen.
Das Stück orientiert sich nicht im Detail am Liedtext, ich behaupte aber, dass die Jugendlichen die innere Authentizität der Geschichte sehr wohl erfasst haben. John ging davon aus, dass Siegfrieds Drachenkampf und sein Tod durch Verrat einer sehr alten Mythentradition entstammen. Es ist die Geschichte einer Entwicklung durch Bewährung, wie man sie auch aus dem Märchen kennt. Als Lohn winkt die Heirat mit der Jungfrau und das halbe oder ganze Königreich. Nun ist zwar dieser Aspekt in Relikten ganz deutlich ins Nibelungenlied eingegangen – der übermenschlich starke Siegfried zieht aus, um Kriemhild zu erobern, wir hören vom Kampf mit dem Drachen, vom Erringen des Horts, von der Tarnkappe etc. – aber die mythologischen Elemente scheinen doch in den Hintergrund getreten zu sein. Sie sind nur noch in Teilen in Hagens Erzählung präsent. Nur die Kraft des Helden und die Tarnkappe spielen eine tragende Rolle, ansonsten bewegt sich die Geschichte in der – man möchte fast sagen – aufgeklärten höfischen Kultur des 13. Jahrhunderts. Siegfried ist ein überaus starker, ja charismatischer Kämpfer, der jedes Problem lösen kann, weshalb er ebenso beliebt wie gefürchtet ist. Seine Mittäterschaft und Mitwisserschaft wird ihm zum Fallstrick. Ist es von daher überhaupt legitim, sich bei der Interpretation des Nibelungenlieds auf das Thema „Entwicklung des Helden“ zu kaprizieren?
Natürlich hat Moritz Rinke in seiner Bearbeitung die Frage nach dem Heldentum ebenfalls gestellt. Er hat das rüde Benehmen Siegfrieds bei seiner Ankunft am Wormser Hof aufgegriffen, das schon Generationen von Germanisten beschäftigt hat, und in einer überaus komischen Szene pointiert, ja, man möchte fast sagen karikiert. Diesen Typ Held kennt jeder! Er ist noch keineswegs ausgestorben. Dass der kühne Recke höchst verlegen ist im Umgang mit Kriemhild, hat sein Vorbild ebenfalls im Nibelungenlied. Rinke hat auch diesen Zug witzig überzeichnet, sozusagen den weichen Kern in der rauen Schale und damit auch ein Stück heldischer Verletzlichkeit aufgezeigt. Siegfrieds seelisches Lindenblatt. Andere Facetten hat der Autor neu hinzugefügt. Sein Held ist es irgendwann bis zum Lebensüberdruss leid, ständig dem Bild des Strahlemanns zu entsprechen, und er greift deswegen sogar zur Flasche. Im Grunde ist der gefeierte Muskelprotz nur ein langweiliger Spießer, der in den niederländischen Wäldern Hirsche jagen will – und die ganz große Enttäuschung für Kriemhild. Der Schluss liegt auf der Hand: diese Art Heldentum ist überholt. Ein durchaus wichtiger Beitrag zur Heldendiskussion!
Die Nibelungenhorde ist anders vorgegangen.
Ihr Stück beginnt mit der Begegnung von Brünhild und Siegfried, die im Lied ja unausgesprochen vorausgesetzt, bei Rinke als Filmausschnitt angedeutet wird – und Brünhild hat hier – im Gegensatz zu der eher verkümmerten Persönlichkeit der männermordenden Königin im Nibelungenlied – noch die alte Weisheit und umfassende Intaktheit einer mythologischen Frauengestalt, die auch Hebbel herausarbeitet. Ich zitiere aus meinem Bericht über das Stück: „Brünhild, die schöne Wissende, deren Kraft von den Jugendlichen nicht physisch gedeutet wird, fühlt sich zwar angezogen von dem starken jungen Mann, aber sie findet, dass er noch einiges zu lernen hat. „Ich weiß, dass du alles zerquetschen kannst“, sagt sie, „aber wichtiger ist die Seele.“ Ehe sie ihn wegschickt, um Erfahrungen zu sammeln, stellt sie ihm die seltsame Aufgabe, den sagenhaften Nibelungenhort zu suchen und dann zu zerstören. „Wenn du ihn zerstört hast, bist du viel freier“. Siegfried kann es nicht fassen. Eine Frau weist ihn ab. Die Isländer in silbrigen „Eishosen“, die unisono sprechen in einer Mischung aus antikem Chor und germanischen Schicksalsnornen, helfen ihm weiter. „Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt. Lege deine Scheuklappen ab. Finde das Wertvolle in dir!“ skandieren sie.“
Siegfried befolgt Brünhilds Rat nicht, obwohl er immer wieder eine Chance erhält; er lässt sich ein auf das Spiel um Macht und Ruhm, er verrät die Königin und tötet – frei erfunden, aber für den Fortgang der Handlung überzeugend – die Isländer und mit ihnen sein Gewissen, seine Skrupel. Sein Tod hat in dieser Version nicht nur einen äußerlichen Grund – nämlich, dass er den Burgundern, die als Gangsterbande dargestellt sind, zu mächtig wird –, sondern auch eine inneren: er hat das Wertvolle in sich nicht gefunden. Er hat bei seiner Aufgabe versagt.
Die Nibelungenhorde hat anders als Rinke und Hebbel das mythische Potenzial des Helden zum Thema gemacht, seine Rolle beschrieben, seine Aufgabe in der Welt, an der sowohl er als auch die übrigen „Helden“ des Lieds scheitern. Aber nicht weil die Figur überholt ist, sondern weil sie falsch verstanden wird, weil Machtgelüste, Uneinsichtigkeit, Egoismus, kurz die „uebermuete“, die Oberhand über die Werte eines sozial geprägten Zusammenlebens haben. Dies scheint mir eine sehr wesentliche Aussage des Nibelungenlieds, die auf diese Weise neu und für die Jugendlichen auch sehr gut emotional nachvollziehbar gestaltet wurde.


Schlussfolgerung

Darf Hagen Brünhild lieben? Unter bestimmten Voraussetzungen schon, und im Grunde wird sie auch niemand daran hindern können. Ich hoffe aber, dass ich zeigen konnte, dass die so genannte Werktreue keineswegs das wichtigste Kriterium für eine neue fruchtbare Rezeption ist, dass aber das Nibelungenlied nach wie vor viele Möglichkeiten der Auseinandersetzung bietet und noch lange nicht von unserem Spielplan gestrichen werden sollte.
Ehe wir aber vielleicht über das gehörte diskutieren, möchte ich noch kurz über eine Nibelungenlied-Nacherzählung der besonderen Art berichten, die ganz vom Thema abweicht, aber den emotionalen Tenor der Geschichte vorzüglich wiedergibt. Ich zitiere noch einmal einen Bericht, den ich für die WZ geschrieben habe. Er stammt aus dem ersten Aufführungsjahr 2002.

Wer eine Interpretation des Nibelungen-Stoffes von ganz besonderem Reiz erleben will, muss sich eine Stunde Zeit nehmen für die „Vogelweissagung“ von Georg Jappe und Martin Leitner im Andreasstift. In vier Nischen wird die Geschichte von Siegfrieds Bad im Drachenblut bis zum Untergang der Burgunder erzählt und gedeutet, von Menschen, vor allem aber von Vögeln, deren Stimmen Jappe von Island bis zum Donaudelta eingefangen und zusammengestellt hat.
Die erste Szene beschreibt Siegfrieds Leben als Schmiedegesell im Wald. Ein Klangbild, wie man es kennt: Gezwitscher, lebendiges Durcheinander, rhythmische Vielfalt, das mehr und mehr entrückt in eine andere Welt. Plötzlich erkennt man die warnenden Rufe, vernimmt das liebestrunkene Gelispel der balzenden Sänger. In diese Situation hinein wird das Vogelalphabet auf Althochdeutsch gesprochen. Eine Sprache unter Sprachen.
Nach dem Bad im Drachenblut versteht Siegfried plötzlich die Sprache der Vögel. Und auch dem Zuhörer ist sie näher, eingängiger als der begleitende Text aus der Lieder-Edda. Zaunkönig, Spottvogel, Bienenfresser und Mauersegler weisen den Recken nach Süden. Dort ereilt ihn sein Schicksal.
Der Mord an Siegfried wird von den Vögeln der Nacht verkündet. Klagend schreien die Käuze, schnarren die Häher, Donner grollt. Das Inferno kündigt sich an. Die letzte Szene beginnt mit dem suggestiven Ruf der Singschwäne. Danach erzählt ein Stalingrad-Veteran in Cimbrisch, das laut Erläuterungsblatt der älteste noch gesprochene deutsche Dialekt ist, über Nibelungentreue. Warnend keckert der Wiedehopf, als Etzels Stallungen brennen; die Not, als das Feuer auf den Palast übergreift, vermittelt eine aufgeregte Vogelkolonie. Klingt da nicht auch Gelächter auf? Mit dem Wehgeschrei der Küstenseeschwalben und Gryllteisten endet die Mär, was bleibt ist das Tosen von Orkan und Brandung.