Die Figur
der Kriemhild
bei Hebbel, Rinke
und im Nibelungenlied

von Ulrike Schäfer

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Nibelungen-Festspiele Worms, 2004 (Foto: R. Uhrig) ..



Ergänzendes Vorwort:

Ich habe bei diesem Vortrag geplant, die Kriemhild im Lied, bei Hebbel und bei Rinke zu vergleichen. Dabei ist mir erst beim Betrachten des Nibelungenlieds bewusst geworden, wie eminent politisch die Kriemhild gezeichnet ist. Hebbel entfernt sich in seiner Charakteristik vom Nibelungenlied eigentlich wesentlich stärker als Rinke, der die Kriemhild dann aber doch ein bisschen zu weich, zu planlos zeichnet und sie damit ebenfalls nicht erfasst. Erst im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass ich einen wichtigen Aspekt überhaupt nicht berücksichtigt habe, die Rolle des Horts; da ist mir, glaube ich, Hebbels Verständnis allzu sehr entgegen gekommen. Die Kriemhild des Nibelungenlieds besteht anders als bei Hebbel ganz unverhüllt auf ihren Besitz und opfert dafür sogar ihren Bruder, das passt genau zu dem Bild der Machtfrau, wie ich versucht habe, es zu zeichnen. Ich möchte im Nachhinein, den Text nicht umschreiben, das würde weitere Überlegungen erforderlich machen, möchte aber, dass der Gedanken beim Lesen mitgedacht wird.

„Spreng diese Mauern! Ich habe hier mein ganzes Leben Eisen und Zitate gefressen, aber jetzt! Jetzt lass uns da unten die kalten Säulen auswechseln und überall richtige Menschen hinstellen“.

Dieses Zitat stammt nicht von Ulrike Meinhoff, wie man vielleicht meinen möchte, sondern von Kriemhild. Moritz Rinke, dessen Stück „Die Nibelungen“ im August 2002 in Worms uraufgeführt wurde, hat es ihr in den Mund gelegt. Ich frage Sie: Ist das die uns bekannte Burgunderprinzessin, die den Mord an ihrem geliebten Mann Siegfried mit einem Blutbad im Hunnenland rächte?

Ich habe mir für die folgende halbe Stunde einen Vergleich von Rinkes Kriemhild mit der Hebbelschen Kriemhild in Beziehung zu der Kriemhild des Nibelungenlieds vorgenommen, wohl wissend, dass ich nur gewisse Aspekte berücksichtigen kann, und möchte, weil es am reizvollsten und aufregendsten ist, mit jener Kriemhild beginnen, die die Welt verändern will, mit Rinkes Kriemhild, inszeniert von Dieter Wedel, Fleisch geworden in Maria Schrader.

Wir begegnen dieser Kriemhild gleich am Anfang des Stücks, in das ursprünglich die Söhne der beiden Königinnen einführten und den Zuschauern mit unbekümmerter Frische über die zeitliche und sprachliche Barriere hinweghalfen. Werber haben sich am burgundischen Königshof in Worms eingefunden, um um die Hand der über die Maßen schönen Kriemhild anzuhalten. Keiner gefällt ihr, doch es sind nicht nur die Männer, an denen sie Kritik übt. In einer Mischung aus kindlicher Aufsässigkeit und hilfloser Verzweiflung wendet sie sich gegen die Erstarrung des Lebens in höfischen Konventionen. Ihr Unbehagen äußert sich zunächst in Zustandsbeschreibungen, Gefühlsausbrüchen: „Ich kann schon etwas länger nicht mehr atmen. Ich kriege nämlich keine Luft in diesem Land, verstehst du mich? Wir führen ein total sinnloses Leben...“, ruft sie der Verwandtschaft zu. Wedel lässt sie sogar auf einen der mächtigen Bäume vorm Südportal des Doms klettern, nur so kann sie sich dem vereinnahmenden Zugriff entziehen, der ihr ganzes Leben zu ersticken droht. Nur Giselher kann sie verstehen, ist ihr nahe. „Lass uns etwas Großes finden, eine neue Staatsform erschaffen“, appelliert sie an ihn. „Satz eins: Menschen, die sich lieben, müssen ein Werk erschaffen oder drei Leute retten.“ Das klingt rührend, wenn auch kindlich-naiv; die Flugblätter; die sie danach verteilt, sind reflektierter, zeigen schon deutlicher die Stoßrichtung ihrer Kritik und spannen einen Bogen bis in die heutige Zeit. Sie beschreibt die Burgunder als „...wohlgenährt, aber kenntnislos, begünstigt, aber mit falscher Christlichkeit die Unterdrückung anderer Völker billigend.“

Dass Kriemhild zu Recht revoltiert, zeigen die Gespräche und Verhaltensweisen am Hof. Etwa Utes Kommentare über die Freier, die sich auf Stoffe, Schuhe und die Anzahl der Gefolgsleute beziehen; Gernots lateinische Zitate – Kriemhild dazu im Hunnenland: „Ich meine, besteht Ihr immer noch an den Rändern aus Zitaten und in der Mitte aus einem großen weißen Fleck?“, - und schließlich Gunthers pathetisch-nichtssagende Rede bei der Rückkehr der verwundeten Soldaten aus dem Sachsenkrieg. Davon abgesehen geht man mit Kriemhild um wie mit einem unmündigen Kind. Man nimmt ihre Träume und Gefühle nicht ernst (ihre Mutter klapst sie auf den Po und ruft: „Du gehst jetzt in die Messe. Neue Staatsform!“) und bezieht sie nicht ein in die politischen Vorgänge (mit denen man allerdings – Hagen ausgenommen – selbst sehr unbedarft umgeht). Was allein zählt, ist Kriemhilds Marktwert: „Die Schönheit einer Frau muss Nutzen tragen“, sagt Gernot. Als Siegfried nach den Sachsenkriegen nicht mehr bei der Stange bleiben will, bekommt sie schließlich sogar die Funktion einer Wunderwaffe, jetzt ruft man sie herbei, um ihn an den Hof zu binden, und sie tritt, wie angekündigt wird, „ins öffentliche Leben“.

Ob sie von Siegfried beeindruckt ist, lässt sich nicht genau ausmachen, es sei denn, man hielte ihre Anrede: „Sie, schöner Mann“ dafür. Das Suchen, Sehnen, Verwirrtsein, Hinschmelzen bleibt – wie auch bei Hebbel – Siegfried vorbehalten. Fasziniert ist sie allerdings von Brünhild. Die kommt bei Wedel auf ihrem Eispferd daher, was natürlich Grund zum Staunen und Starren ist. Doch während alle anderen die Isländerin „wortreich“ begrüßen, schaut Kriemhild sie nur wortlos an. Rinke wiederholt diese szenische Anweisung mehrmals. Erst dann löst sich ihre Zunge zu bewundernden Worten. Das ist ein Zug, den die Vorlage nicht kennt, ein neuer Aspekt, den der junge Autor immer wieder aufscheinen lässt. So wenn Brünhild – wie gehabt – von der Atmosphäre des Wormser Hofes befremdet ist. B. „Ich bin so fremd in eurer Welt und soll hier leben“. Kriemhild antwortet: „Ich glaube, Schwester, wir zusammen, wir könnten eine neue gründen. Lasst uns etwas Neues, Großes finden!“ Der Reim ist wohl nicht zufällig gewählt, er hebt diesen Satz heraus, deutet vielleicht auch an, dass hier ein gewisser psychischer Gleichklang besteht. Gegen Ende der Szene äußert sich Brünhild auch ganz ähnlich wie zuvor Kriemhild, die sagte: „Ansonsten möchte ich da oben im Turm leben...Von dort werde ich hinabblicken auf dieses öde Land“. Auch Brünhild will im Turm wohnen: „Hier unten ist die Luft so abgestanden“.

Aber es kommt nicht zu dieser möglicherweise Welt verändernden Verschwisterung. Denn Brünhild hat wohl doch zunächst ganz andere Dinge im Kopf, nämlich Siegfrieds blaue Augen, und die Frage, ob er Diener ist oder nicht, weil er ihr in Isenland den Steigbügel gehalten hat, beherrscht die ganze Szene. Sie ergreift auch Kriemhild, die, obwohl sie den ganzen höfischen Mummenschanz doch eigentlich nicht will, dann doch sehr viel Wert darauf legt, mit einem ebenbürtigen Mann verheiratet zu sein. Legt unsere Sozialisation uns schließlich doch immer wieder Fußangeln aus?

Eine weitere Neuschöpfung Rinkes, die der Charakterisierung von Kriemhilds Utopien dient, ist die Szene mit Giselher kurz vor der Heirat. Der Lieblingsbruder versucht noch einmal sein Ungenügen zu formulieren, ein Konzept für eine neue Staatsform, die burgundische Rundumerneuerung, zu entwickeln, aber er merkt auch, wie schwierig das ist, wisse er doch nicht einmal, ob er in Richtung Mann oder Frau liebe. Kriemhild tut sich da leichter; sie wünscht sich, dass ihre Kinder von diesem Turm aus „einmal Menschen sehen“, nicht Eisensäulen. „Menschen, die atmen und füreinander Augen haben und sich berühren und endlich mal einen Fuß vor den anderen setzen“

. Ein Satz, der später noch einmal wiederkehren wird. Allerdings lässt sie sich zunächst doch von 400 Unterröcken, will sagen von den Hochzeitsvorbereitungen auffressen. Wedel bringt das m.E. sehr plastisch zum Ausdruck, wenn er Kriemhild mit Siegfried verliebt und atemlos über den Rasen rollen lässt. Die Liebe setzt die Systemkritik erst mal außer Kraft, und immerhin besteht ja auch die Chance, dass mit Siegfried ein wirklicher Neuanfang möglich wird.

Die Rinkesche Kriemhild bleibt ihrem Thema auch nach bzw. in der Hochzeitsnacht hart auf den Fersen. Sie scheint sehr wohl Bescheid zu wissen, was wirklich zwischen Brünhild und Siegfried vorgefallen ist (das Nibelungenlied lässt es offen und Hebbel verneint es)...und sie billigt es: „Nimm sie! Reiß sie an dich! Das Land ist krank. Es braucht eine neue Kraft..“ (S. 53), ruft sie Siegfried zu, und das dürfte wohl weniger eine Aufforderung zum Gruppensex sein (ich will es aber nicht ausschließen), als vielmehr ein Appell an Offenheit und Risikofreude. Sie spürt die Power, die von Brünhild ausgeht, die etwas Befruchtendes, Erneuerndes hat und will, dass Siegfried sich damit verbindet. Sie will ihn anfeuern, aufrütteln, denn die jetzige Situation ist unerträglich. „Was für ein Haus!“, sagt sie. „Ohne Gedanken, ohne Mut, ohne Liebe! Morgen geht das hier alles unter (was natürlich in diesem Fall sehr wörtlich genommen werden darf) und sie fährt fort, wie ich schon eingangs zitierte: „Lass es uns nehmen, lass es uns abreißen und neu errichten! Spreng diese Mauern! Ich habe hier mein ganzes Leben Eisen und Zitate gefressen, aber jetzt! Jetzt lass uns da unten die kalten Säulen auswechseln und überall richtige Menschen hinstellen“.

Siegfried versteht sie nicht. Er ist ein Trophäenjäger, ein Superstar, den die eigene Imagepflege ermüdet und der privat eher hausbackenen Zeitvertrieb liebt, sprich auf Hirschjagd geht und das interessanterweise mit Regieren verwechselt.

Das Wiedersehen zwischen Brünhild und Kriemhild beim Besuch zehn Jahre später fällt geradezu zärtlich aus. Beide Frauen bewundern sich und berühren sich aufmerksam, in diesem Fall ist die Berührung durchaus auch symbolisch zu nehmen. Kriemhild erzählt, dass sie sich ohne Brünhild gelangweilt habe. „Ich habe die ganze Zeit Hirschragout gegessen“. Das kann wohl nur heißen, dass Siegfried ein Flop war, von Gunther ganz zu schweigen. Dennoch nutzen die beiden Frauen auch dieses Mal die Chance nicht, ein eigenes Bild von Wirklichkeit zu entwickeln, einen Neuanfang zu machen. Zu fest sind sie verhakt in ihrem Milieu. Der Streit schwelt schon unter der Decke, als Siegfrieds und Kriemhilds Sohn Gunther mit dem kleinen Vetter kämpft und ihn stark verletzt; Kriemhild sagt zwar: „Wie peinlich ist mir das!“, im gleichen Atemzug aber flicht sie ein, dass sie ihrem Sohn immer wieder klar mache, dass er eigentlich auch über dieses Land herrschen könnte, ja, müsste. Rinke geht damit noch ein Stück übers Nibelungenlied hinaus (wo Kriemhild prahlt: „Ich habe einen Mann, dem alle diese Reiche sein sollten untertan“. (14,2)) und deutet an, was sich durchs ganze Stück ziehen wird: Wie die Großen, so die Kleinen. Wer Wind sät, wird Sturm ernten.

Beim danach ausbrechenden Streit steht – wie auch im Original – der Status der Männer im Vordergrund, aber, wenn ich Rinke richtig verstehe – und er hat das gerade im Mythengespräch in der Herrnsheimer Remise bestätigt – , macht sich dahinter vor allem auch Kriemhilds Enttäuschung Luft. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung schleudert sie Brünhild ins Gesicht: „So bist du noch nie ..nie wieder genommen worden!“ und offensichtlich an Siegfried geht die neuerliche Aufforderung: „Nimm sie! Reiß sie an dich! Nimm, komm!“ Währenddessen schlägt Siegfried auf sie ein, ein Akt, den das Nibelungenlied nur in Kriemhilds Gespräch mit Hagen berichtet, den Hebbel ganz ausspart, um den Strahlemann nicht allzu sehr zu desavouieren, der bei Rinke die Hilf- und Sprachlosigkeit der Männer in dieser Situation zeigt: rohe Gewalt als Problemlösung. Kriemhild kriecht, laut Regieanweisung, läuft blutend in die Messe – es ist also ein Pyrrhussieg, den sie errungen hat – und spricht hier aus, was Hebbel seine Kriemhild im großen Monolog V,6 in ganz ähnlicher Formulierung sagen lässt: „Schaut mich nicht so an! – Ihr seht nur Euch!“

(vgl. Hebbel: „Ich bin in allem nur ihr Widerschein)

Es wundert nicht, wenn Rinkes Kriemhild im Gespräch mit Hagen nicht eben verängstigt und schon gar nicht widerwillig das Geheimnis von Siegfrieds Verwundbarkeit preisgibt. Sie sitzt auf der Schaukel und lässt sich von Hagen anstoßen. „Höher. Stärker. Wie früher“ ruft sie immer wieder und stellt damit eine alte Vertrautheit, ja, Vertraulichkeit her, die fast inniger scheint als ihre Beziehung zu Siegfried. Zwar sagt sie: „Ich habe Angst. Er ist verwundbar!“ und betont auch später: „Ich liebe ihn wie mein Leben“, aber man nimmt es ihr nicht recht ab, denn nicht Hagen drängt und überlistet sie, sondern sie ist die Aktive, es ist gerade so, als ob sie ihm die Fragen in den Mund lege und auf eine unausgesprochene Weise eben auch die Antwort. Will sie Siegfrieds Tod?

Dieser Eindruck drängt sich auch auf bei der Ermordung des Xanteners, die Rinke vom Odenwald in den Burgunderhof verlegt. Vor den Augen aller – was sehr prägnant deutlich macht, dass alle bis auf Siegfried über den großen Verrat Bescheid wissen – stößt ihn Hagen nieder, und auch Kriemhild schaut nur zu. „Nein! Weg, weg!“, ist ihr einziger Kommentar, sie stürzt sich nicht zwischen ihren Mann und den Mörder, sie klagt nicht an, sie verbindet keine Wunden, sie reißt den Toten nicht Brünhild weg, die sogleich – wie in den nordischen Sagen – einen Feuerkreis um ihn legt.

Es scheint absurd, was Rinke hier veranstaltet. Kriemhild, die Revolutionärin, die eine neue Welt predigt, ganz undenkbar für eine Fürstin des Mittelalters – oder doch nicht? – und Kriemhild, die Siegfrieds Tod billigt, wünscht oder gar fördert?

Nibelungenlied


Lassen Sie mich an dieser Stelle einhalten und einen Blick aufs Original werfen, sofern man davon reden kann. Gelegentlich wird das Nibelungenlied als Buch von Kriemhild oder Buch Kriemhild überschrieben. Das trifft den Inhalt eigentlich besser als unsere Bezeichnung, denn der Dichter hat in seinem Werk (de Boor) mindestens zwei ehemals von einander unabhängige Sagen, die Siegfriedgeschichte und die Untergangsgeschichte der Burgunder, miteinander verknüpft und dabei eine bedeutungsvolle Veränderung vorgenommen: in der nordischen Version ist es der geldgierige Atli, der Kriemhilds bzw. Gudruns Brüder tötet, um in den Besitz des Horts zu gelangen. Dafür übt sie grausame Rache, was für die Germanen, für die die Sippentreue ein hoher Wert war, durchaus nachvollziehbar war. Der Lieddichter dreht die Geschichte jedoch um und schildert ein bis dahin in der Literatur nahezu unbekanntes Scandalon: eine Schwester tötet ihre Brüder, um den Mord an dem Geliebten zu rächen. Das wirft einen bezeichnenden Blick auf diesen Charakter: die rächende Kriemhild ist ohne die liebende Kriemhild nicht denkbar. Ist die Liebende aber auch eine Naive, wie Jan Philipp Reemtsma schreibt?

Ich denke nicht. Das Nibelungenlied beschreibt Kriemhild schon von Anfang an als starke Natur, genauer gesagt als Herrscherfigur. Zwar ist sie eingebunden im höfischen Rahmen, von Rechts wegen ihren drei Brüdern untergeordnet und später auch ganz selbstverständlich ihrem Mann – sie identifiziert sich mit seinem Status, seinem Reichtum, seiner Kraft – , aber es gibt auch eine andere Seite. Bereits zu Beginn des Lieds wird angedeutet, dass die junge Frau einen eigenen Lebensentwurf hat. Nach dem beunruhigenden Falkentraum spricht sie es aus: Lieber wolle sie auf Liebe verzichten als Leid zu erfahren – eine Frage, die wohl üblicherweise damals wohl nicht zur Diskussion stand. Jedenfalls wird das in der Literatur so behauptet. Die adlige Frau wurde verheiratet aus dynastischen Gründen. Ihre Gefühle spielten dabei vermutlich keine große Rolle, obwohl es eine Reihe von Ausnahmen gibt.

Woher Kriemhilds Idee stammen, lässt sich nicht beantworten. Die Theorie, dass hinter ihrem Falkentraum Angst vor der Geschlechtlichkeit steht (Dr. Theodor Reik), ist zwar nicht von der Hand zu weisen, aber eigentlich unerheblich. Viel interessanter ist die Aussage, dass eine Frau hier Anspruch auf ihr eigenes Gefühl erhebt mit der Konsequenz, dass sie damit nicht mehr in die allgemeine Vorstellungswelt passt und dadurch letzten Endes unverfügbar wird. Auch Rinke erwähnt übrigens den Falkentraum und findet für Kriemhilds Gefühle ein sehr schönes Bild: „Den Käfig mit einem Lied zu öffnen und dann das Herz so bluten seh’n“, heißt es da.

Nun, Kriemhild revidiert ihre Meinung, sie verliebt sich, und sie zeigt ihre Liebe auch, als sie Siegfried zum ersten Mal sieht. „Sie ließ es klar erkennen, dass er ihr war von Herzen lieb“, erzählt das NL (Av. 5).

Was wird noch von ihr gesagt? Bei allen Grenzen, die ihr gesetzt sind, zeigt sie erstaunliches Selbstbewusstsein – oder vielleicht besser gesagt Eigenmacht: als sie nach ihrer Hochzeit mit Siegfried nach Xanten aufbricht, fordert sie ihr Erbteil, und zwar nicht als Ehefrau, wie Reemtsma betont, sondern „als gleichberechtigte Königin“. „Erst sollen meine Brüder teilen mit mir das Land“, begehrt sie. Von Siegfried heißt es, dass ihm diese Forderung unlieb war, und er versichert seinen Schwägern, die ihm übrigens ewige Treue schwören (!), dass das nicht nötig sei: seine Frau könne ja über den Hort verfügen. Kriemhild aber besteht darauf, so dass ihr schließlich 1000 Mann mitgegeben werden. (11. Aventüre, S. 107/08). In Handschrift B lässt sie sogar noch nach Hagen und Ortwin von Metz senden, was allerdings am Widerstand Hagens scheitert. Ich will ergänzend hier einfügen, dass auch Dr. Kati Röttger bei der Mythendiskussion am Sonntag von Kriemhilds Autonomiebestrebungen gesprochen hat. Sie hat daran erinnert, wie wichtig es für Herrscherinnen jener Zeit war, die Nachkommenschaft durch eine standesgemäße Verbindung zu sichern.

Jan Philipp Reemtsma kommentiert das Verhalten Kriemhilds anders: „Sie wiederholt ein wenig Siegfrieds Initialprovokation...Der Dichter zeigt Kriemhild ... als eine Frau, die aus bloßem Mutwillen – oder aus Selbst- und Machtbewusstsein – die Stabilität des Burgunderreichs untergraben will.“ Das ist nicht von der Hand zu weisen, aber möglicherweise hält sie – wie Rinke es in seiner Interpretation bis hin zur Lächerlichmachung herausarbeitet – ihre Brüder ja für zu schwach. Vielleicht findet sie, etwas flapsig ausgedrückt, dass das Land neue Männer, sprich Herrscher braucht. Immerhin ist sie es, die den berühmt-berüchtigten Streit mit Brünhild mit der unverblümten Bemerkung eröffnet: „Ich habe einen Mann, dem alle diese Reiche sein sollten untertan“. (14,2) Dass sie so denkt, ist verständlich, hat Siegfried sich doch durch die Sachsenkriege und andere Abenteuer inklusive Brünhilds Eroberung und Gefügigmachung als potenter Herrscher erwiesen. Und sie hat, wie man im Folgenden sieht, auch recht, die Autorität ihrer Brüder zu bezweifeln. Denn das System, in das sie eingebunden ist und dem sie sich unterordnen soll, ist ja schon längst marode. Mit Siegfrieds Tod ist nicht nur ihr Liebesglück zu Ende, sondern eben auch ihr Lebensgrund zerstört. Die Brüder bzw. die Herrscher, die Funktion haben sollten, sie zu schützen, haben ihr das Liebste genommen und lügen ihr frech ins Gesicht, als sie sie als Mörder und Mitwisser entlarvt. Niemand hebt auch nur die Hand, um ihr zur Hilfe zu kommen und ihr Gerechtigkeit zu verschaffen. Freilich hätte das auch bedeutet, dass sich die Könige selbst auf die Anklagebank setzen, das aber ist dazumal wie heute für die Inhaber der Macht kein Thema. Die Versöhnung nach vier Jahren wird von Gunther schließlich nur angestrebt, um in den Besitz des Hortes zu gelangen. „Nie wurde eine Sühne in solcher Falschheit geleistet“, sagt der Dichter ganz unmissverständlich. Weil es dann aber doch nicht so einfach ist, sich des Schatzes zu bemächtigen, wird er entwendet und im Rhein versenkt. Der Raub wird ausdrücklich als männlich-kluge Vorkehrungsmaßnahme gegen die mächtige Frau inszeniert: „Es sollt kein wackrer Mann solchen Hort vertrauen einem Weibe an“ (ez solde ein frumer man/ deheinem einem wibe niht des hordes lan“.) Mit anderen Worten, die vielgepriesenen geschwisterlichen Bande haben keinerlei Gültigkeit, sie bieten weder Schutz noch Anteilnahme. „Wäre Kriemhild ein Mann gewesen, stellt die Klage fest, hätte sie sich längst eigenhändig gerächt, aber „ez niene kunde / wan si hete vrouwen lip“. (S.155) und wahrscheinlich hätte daran niemand Anstoß genommen. Eher im Gegenteil.(Elisabeth Lienert in Gender Studies. Gewalt und das Nibelungelied, in: Der Mord und die Klage. IV. Symposium der NL-Gesellschaft, 2002.) So aber bleiben Kriemhild, die bereits nach dem Mord sehr realistisch eingeschätzt hat, dass ihr Schwiegervater nicht gegen die Übermacht der Burgunden würde ankämpfen können und ihn deshalb gebeten hat sich zurückzuhalten, keine anderen Möglichkeiten als Trauer und Zurückgezogenheit. Nachdem ihr auch noch der Hort gestohlen wurde, resigniert sie soweit, dass sie Siegfried exhumieren und beim Kloster Lorsch begraben lässt. Dorthin will auch sie sich zurückziehen. Erst die Werbung Etzels eröffnet plötzlich die Chance, den Mord an Siegfried zu rächen.

Ich will den Fortgang der Handlung hier nicht im Detail verfolgen. Kriemhild entwickelt verschiedene Strategien, um Siegfrieds Mörder habhaft zu werden. Sie operiert mit Geld und Besitz, lockt mit einer schönen Frau, appelliert an Dietrichs Beistand, sucht das Gespräch mit ihren Brüdern, um sie zur Herausgabe Hagens zu überreden, sie benutzt ihr eigenes Kind als Köder, um Etzel endlich zum Handeln zu zwingen – das ist jedenfalls zwischen den Zeilen zu lesen – und zwingt Rüdiger dazu, zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Lehenseid und verwandtschaftlichen Bindungen zu entscheiden, doch alle ihre Methoden nützen nichts. Schließlich greift sie selbst zum Schwert und tötet Hagen, was nach damaligen Vorstellungen unverzeihlich ist: „Nun ist tot gelegen von eines Weibes Händen der allerbeste Degen“, sagt Dietrich, und Hildebrand schlägt die Königin dafür in Stücke.

Vergleichen wir an dieser Stelle noch einmal Rinkes Kriemhild und die Kriemhild des Nibelungenlieds! Sie ist in beiden Versionen eine Frau mit einer ausgeprägten Persönlichkeit. Während Rinke sie als eine Person schildert, die die Welt verändern, menschlicher machen will und dabei keine Unterstützung findet, weder bei ihrer Familie noch bei ihrem Mann noch bei Brünhild, ist sie im Nibelungenlied ganz die statusbewusste Königin, die, um es mal modern zu sagen, in erstaunlichem Maß auf ihre Privilegien und Rechte pocht. Genauer gesagt: der Konflikt zwischen Kriemhild und ihren Brüdern ist nicht nur das Ergebnis einer persönlichen Verletzung, sondern eine Machtfrage. Kriemhild stelle, so Jan Philipp Reemtsma in seinem Essay: „Warum Hagen Ortlieb erschlug“, eine ständige Gefahr für die Burgunderkönige dar. Nimmt man die berühmte Strophe 6 dazu, so ergibt sich so etwas wie ein Programm: hier heißt es, dass der Tod der vielen Helden durch zweier edlen Frauen Streit (oder Neid) zustande kam. „Statt aus dem Betrug der Männer“, so Elisabeth Lienert, „motiviert der Erzähler Brünhilds Rache aus der öffentlichen Demütigung durch Kriemhild. Dadurch (durch diese gender-relevante Verschiebung) wird der Frauenstreit zum Ausgangspunkt von Gewalteskalation und Katastrophe (in der Klage wird der Betrug an Brünhild gar nicht erst thematisiert) ... (S. 153) „Mit der gewalttätigen Frau, die – wenn auch großteils ungewollt – eine ganze Welt in den Untergang reißt, ist zugleich Macht in Frauenhand desavouiert“, fährt sie fort. (S.158). „Indem sie sich im Nibelungenlied als gewaltfähig erweist, erweist sich die Frau zugleich als politikunfähig.“ (S. 159) Ich bin mir mittlerweile gar nicht mehr so sicher, ob das Nibelungenlied in der Absicht geschrieben wurde, um zu zeigen, dass Gewalt Gewalt provoziert. Das scheint mir eher ein frommer Wunsch. Es kommt mir fast plausibler vor, dass der Dichter schlichtweg vor der Macht in Frauenhand warnen wollte. Welche Königinnen waren es, die er meinen konnte? Eleonore? Constanze von Sizilien

Hebbel


Wie sieht Hebbel die Kriemhild? Er hat das Werk in den Jahren 1855 bis 60 dramatisiert und sich dabei, wie er selbst immer wieder betont, eng an die Vorlage gehalten, hatte er doch die Empfindung, dass der Epiker ein Dramatiker vom Scheitel bis zur Sohle sei und dass er den Figuren eigentlich nur noch „menschliche Eingeweide“ geben müsse. Schon zu seinen Lebzeiten wurde ihm vorgeworfen, dass er zu sehr psychologisiert habe, als er seine „Eisenmänner und Riesenweiber“ (Th.A.Vischer) zum Sprechen bringen wollte. De Boor meint es durchaus kritisch, wenn er in seinem Vorwort zur Hebbel-Ausgabe von 1966 schreibt: „Er (Hebbel) findet die Einheit des Charakters in der leidenschaftlichen Tiefe von Kriemhilds Empfindungen“. Hagen formuliert das Motiv, als Rüdiger um die Witwe wirbt. „Entweder liebte Kriemhild ihren Gatten wie nie ein Weib den ihren noch geliebt, dann muss sie uns auch hassen, wie ein Weib noch niemals hasste“ (I,2). Hebbel setzt seine ganze Kraft darein, diese Entwicklung plausibel zu machen.

Er führt sie als junges Mädchen ein, das mit der Unbedingtheit der Jugend Schwüre ausspricht: „Viel besser nie besitzen als verlieren“. Doch schon fast im gleichen Augenblick sieht sie Siegfried, und die natürlichen chemischen Prozesse werden in Gang gesetzt. Lebendig und sehr einfühlsam deutet Hebbel an, was in Kriemhild vor sich geht und wie ihre Mutter sie liebevoll neckt.

Im Folgenden verstärken sich Kriemhilds Gefühle für Siegfried. Als er nach der Eroberung Brünhilds Gunther an sein Versprechen erinnert, entgegnet Kriemhild: „Mein Herr und Bruder, füg es wie du magst“, aber sie ist nur allzu gerne bereit, diesem Wunsch auch zu entsprechen. (II, 6, S. 42) Wohl spürt sie noch den Traum nachwirken, aber sie ist entschlossen, ihr Schicksal anzunehmen: „Ich sag doch eben mutig ja“. Sie ist also keineswegs ein „unbeschriebenes Blatt“, wie sie Karin Beier in der Mythendiskussion genannt hat, sondern schon zu Beginn eine beherzte, entschlossene, wenn auch vom Leben bisher nicht verletzte junge Frau.

Nicht ahnend, dass Brünhild für Siegfried bestimmt war, doch von ihm verschmäht wurde – Hebbel baut diese Episode durch eigene Ergänzungen eindrucksvoll aus – begegnet Kriemhild der Schwägerin zunächst freundlich: „Wir wollen Schwestern werden“ (II,6, S. 40). Doch schon bald wird ihr Grund zur Eifersucht gegeben: sie findet den Gürtel, den Siegfried Brünhild abgenommen hat und ahnt mehr als dass sie es erfährt, wie es dazu gekommen ist. Mit dieser Szene, die der Nibelungenlieddichter ausgespart hat, will Hebbel das Vorhandensein des Gürtels schlüssig erklären, um Siegfried nicht als unsensiblen, schwatzhaften Mann darzustellen. Gleichzeitig entwickelt er ein zärtlich-scherzhaftes Gespräch, das illustrieren soll, wie sich das junge Ehepaar liebt. In dessen Verlauf wird auch eine Anspielung darauf gemacht, dass K. ein wildes Kind war und bei einem Sturz eine Narbe zurück behalten hat. Möglicherweise ist das ein weiterer Versuch Hebbels, die junge Frau als vitalen Menschen zu kennzeichnen.

Den Streit der Königinnen lässt Hebbel interessanterweise anders beginnen als der NL-Dichter (III,6). Zwar kommen die beiden Frauen Hand in Hand, doch Kriemhild (eifersüchtig geworden, wie sie Hagen später gesteht), eröffnet das Feuer: „Nun, ist’s nicht besser Kämpfe anzusehen als selbst zu kämpfen?“ fragt sie perfide, aber die Isländerin zahlt mit gleicher Münze heim und macht sich über Kriemhilds Nähkünste, sprich ihr domestiziertes Verhalten lustig. Anders als im Nibelungenlied, das den Status der Männer bzw. die Frage nach deren Vorherrschaft in den Mittelpunkt stellt, spielen bei Hebbel die Frauen auch ihre unterschiedlichen Welten, Weltanschauungen, Rollen, gegeneinander aus. Dabei sagt Kriemhild recht modern: „Ich seh’, wie alle Unnatur sich rächt. Du hast der Liebe widerstrebt wie keine. Nun macht sie dich zur Strafe doppelt blind“. Und später: „Diesen (Gunther) hättest du Mannweib ja erwürgt und dann vielleicht zur Strafe in den Toten dich verliebt“. Hebbel setzt hier also einen eigenen Akzent, aber allzu weit hergeholt hat er diesen Gedanken natürlich nicht. Immerhin heißt es von Siegfried im Nibelungenlied, als er Brünhild für Gunther gefügig macht (Aven.10): „O weh, gedachte der Recke, soll Leben ich und Leib durch eine Magd verlieren, so möchte jedes Weib hiernach immer höher tragen ihren Mut. Dann versuchte es gar manche, die sonst solches nimmer tut“.

Als sie von den neuerlichen Sachsenkriegen hört, ist Kriemhild von Angst umgetrieben. Hagen versichert ihr (wesentlich stärker als im Nibelungenlied), dass er sich um Siegfried kümmern werde wie um sich selbst, das macht seinen späteren Verrat um so härter; Kriemhild wittert bei aller Erleichterung die Gefahr (IV,6, S. 72), denn sie hat Angst, dass er Siegfried entgelten lassen wird, was sie getan hat.

Als Siegfried schließlich zur Jagd ausreitet, will Kriemhild mit, ist bereit, als Jägerin teilzunehmen (nicht NL), auch hier deutet Hebbel wieder an, dass sie mutig und entschlossen ist, durchaus zu „männlichen“ Aktivitäten fähig. Ob diese Charakterisierungsversuche immer so gelungen sind, bleibt dahin gestellt. Der neuerliche Traum, dass die Berge zusammenstürzen (IV,11), ängstigt sie; sie will erneut Siegfried abhalten zu reiten, fleht schließlich die jüngeren Brüder an, ihn auf die Jagd zu begleiten (IV,14). So versucht sie alles, um ihrem Schicksal zu entgehen. Dabei kennt sie ihren eigenen Beitrag, weiß, dass sie Siegfried ausgeliefert hat, indem sie Hagen seine verwundbare Stelle zeigte (IV, 16, S. 80) Das sind sehr kurze, dichte Szenen, fast atemlos, die nicht nur die Spannung zur Ermordung Siegfrieds hin steigern, sondern auch eine Parallele zu Kriemhilds späterem Verhalten im Etzelland sind: auch hier versucht sie alles, um das Unheil abzuwenden.

Fast noch intensiver als der NL-Dichter beschreibt Hebbel Kriemhilds Schmerz nach der Auffindung Siegfrieds. Sie weiß: „Das riet Brunhild, und Hagen hat’s getan“ (V,7I, aber erst allmählich wird ihr der große Verlust deutlich, sie will abschließen mit dem Leben. Gunther fasst es in Worte: „Ihr tut kein Mensch mehr weh!“, aber Dankwart steuert gleich gegen: „Fürstin, heilig ist dein Schmerz, doch blind zugleich und ungerecht“.

Bei der Bahrprobe wird klar, dass K. nicht den Trost bei Gott sucht, wie die von Hebbel eingefügte Szene mit dem Kaplan zeigt, noch dass sie etwas von christlicher Vergebung wissen will, sondern sie sagt (V,9, S. 93). „Ich suche hier die Wahrheit und das Recht“...„Ich bitte um Gericht“ und später: „Gericht, Gericht, Gericht“. Es geht also, wie der Dichter ausdrücklich betonen will, zunächst nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit.

In „Kriemhilds Rache“ bekommt Siegfrieds Witwe schärfere Konturen, zeigt sich als außergewöhnlich starker Mensch, der seinen Gefühlen und Gedanken überzeugend Ausdruck zu verleihen vermag. Es ist fast unmöglich, sich dieser leidenschaftlichen und immer wieder neu begründeten Argumentation zu entziehen. Dagegen erscheint Dietrich, den Hebbel als Heilsbringer stilisiert, blutlos und blass.

In der von Hebbel frei erfundenen Szene, einem Gespräch mit ihrer Mutter Ute, I,4 beschreibt die junge Frau noch einmal das Ausmaß der Tat. Getötet werde auch im Tierreich, sagt sie, doch das Tier tötet nicht, weil es „ihm das Angesicht beneidet und ihm den stolzen freien Gang nicht gönnt“. Damit benennt sie das Motiv Hagens und ihrer Brüder sehr klar. Am Beispiel der Schlange erläutert sie den Verrat: „Auch kann sie mit der Zunge, die sie braucht, um ihn zu töten, nicht schwören, dass sie ihn küssen will..“.. Als beschämend empfindet sie, dass sie Siegfried „keine Sühne schaffen kann ...denn man misst die Toten nach dem Schmerz der Lebendgen“ (I,5).

Voller Bitterkeit wirft sie ihren Brüdern in der nächsten Szene vor, dass Siegfried sich in ihrer Mitte sicher fühlte und doch verraten wurde und: „Ja, ihr wart zu jung, um mich zu schützen, aber alt genug, um den Mörder zu beschirmen, als ihn der Himmel und die Erde zugleich verklagten“.

Im weiteren Verlauf spricht sie Gunther direkt auf sein Versäumnis als oberste Rechtsinstanz an: er habe sich nicht als König erwiesen, als er den Mord zugelassen habe und den Mörder deckte. Sie beschreibt diesen Mord, die große Blutschuld, als ein geradezu apokalyptisches Ereignis....“wenn du dein königliches Amt versäumst“, sagt sie, „so könnten sie (gemeint ist das ganze Land) zur Eigenhilfe greifen... (I,6 S. 112) Das kommt dem Gedanken nahe, den ich vorhin im Zusammenhang mit dem NL geäußert habe: Muss eine Autorität, für die Recht und Gerechtigkeit nicht zählt, gedeckt und gestützt werden? Fast hat sie in diesen Passagen die Größe einer Antigone.

Wie im NL heiratet Kriemhild Etzel, um sich mit der stärksten – und wie sie gehört hat auch grausamsten und skrupellosesten – Macht zu verbünden und damit endlich ihr Ziel zu erreichen. „Bis zu diesem Augenblick war sie im Bezirk ihrer gültigen Sittlichkeit geblieben, im Bereich des Rechts, der treu ausharrenden Liebe, des tiefen, aber reinen Schmerzes. Jetzt wählt sie ....Damit ist sie aus ihren Grenzen getreten, verfällt sie der Maßlosigkeit des Individuums in seiner Selbstbehauptung, tut sie den ersten Schritt in die Vernichtung (S.49).

Hebbel legt freilich darüber hinaus Wert darauf zu zeigen, dass Kriemhild den Hunnenkönig nicht belügt. Sie schenkt Rüdiger vielmehr von Anfang an klaren Wein ein. Ihr sei Herz tot sei, lässt sie dem zukünftigen Gemahl ausrichten, aber ihre Hand habe einen Preis, und zwar werde sie sich nicht mit Flitter und Tand zufrieden geben. Das, glaubt sie, wird er verstehen. Er ist „ein Mann dafür, dem wird es Wollust sein“. So willigt sie ein. Wie abgrundtief sie sich verlassen fühlt, wie ganz auf sich allein gestellt, wird deutlich, als ihre Mutter sie segnen will: „Lass, lass, dein Segen hat ja keine Kraft!“

Dass Frauen eigentlich von Natur zur Rache nicht fähig sind, schon gar nicht, wenn sie damit Brüder und Mutter töten, wird in den nächsten Szenen noch bezweifelt. In der Tat ist Kriemhild zunächst auch noch nicht zum äußersten bereit. Es scheint, dass sie noch nicht den Pfeil abschießen will, der durch „all diese Herzen gehen muss“, wie Volker mutmaßt. Sie hofft vielmehr auf die Zerstrittenheit der Nibelungen. Im Gespräch mit Werbel äußert sie: „Vielleicht ist alles nicht nötig. Hier wird König Gunther frei, und wenn sich in Burgund der Henker findet, so brauche ich die Heun’schen Rächer nicht“ (III,1, S. 133) Doch ist ihr Herz bereits verhärtet. Utes Locke, weiß geworden vor Kummer, rührt sie kaum. Der ahnungsvollen Traum der Mutter, dass alle Vögel tot vom Himmel fielen, löst keine Beklemmung in ihr aus: im Gegenteil sie frohlockt, verheißt er doch ihren Racheplänen Erfolg. Im Folgenden gibt ihr Etzel freie Hand, die Gäste prunkvoll zu empfangen; zufrieden registriert sie: „Nun hab ich Vollmacht – Sie ist weit genug! Er braucht mir nicht zu helfen, ich vollbringe es schon allein, wenn er mich nur nicht hindert, und dass er mich nicht hindert, weiß ich jetzt!“ (III,4)

Es wäre faszinierend, im Detail die Eskalation der Gewalt zu verfolgen, die immer heftiger, hasserfüllter wird und Kriemhild als kompromisslose, wortgewaltige Drahtzieherin enthüllt. „Und sei gewiss, du wirst mir nicht entkommen, wenn du auch noch die nächste Sonne siehst. Ich will zurück in meines Siegfrieds Gruft, doch muss ich mir das Totenhemd erst färben, und das kann nur mit deinem Blut geschehn“ (IV,3, S. 154).

Wie im Lied appelliert sie an die Brüder, und als auch Giselher sich für Hagen entscheidet, macht sie deutlich: „Ihr tretet bei und haftet mit“. Und: „Müsst ich hundert Brüder niederhauen, um mir Weg zu deinem Haupt zu bahnen, so würd’ ich’s tun, damit die Welt erfahre, dass ich die Treue nur um Treue brach“. (IV,4). Dieser Dialog ist die Krise, die entscheidende Szene, im Nibelungenlied wie bei Hebbel; zum letzten Mal könnte sich das Schicksal wenden, besser gesagt, könnten die beiden Parteien zu Vernunft kommen. Doch die Geschwister sehen diese Möglichkeit nicht, können sie im Kontext damaliger Zeit vielleicht auch nicht sehen; sie fühlen sich beide einer Idee verpflichtet, die sie für unaufgebbar halten, der Gefolgschaftstreue hier und der Gattentreue da. Giselher: „Wir können ja nicht anders“. Kriemhild: „Kann denn ich?“ Oder wie später Dietrich sagt: „Hier hat sich Schuld in Schuld zu fest verbissen, als dass man noch zu einem sagen könnte: Tritt du zurück. Sie stehen gleich im Recht“. (V,5).

Längst geht es Kriemhild nicht mehr um Gerechtigkeit; es passt ihr nicht, dass Etzel ihr einen fairen Kampf verspricht, sobald das Gastrecht nicht mehr greift. „Krieg! Was soll mir der Krieg! ... Doch das wäre Lohn anstatt der Strafe. Für die Schlächterei im dunklen Wald der offene Heldenkampf? Vielleicht sogar der Sieg? Nein, Mord um Mord!“ (IV,15) In dieser Szene liegt die unausgesprochene Ungeheuerlichkeit, dass sie Otnit, ihren gemeinsamen Sohn mit Etzel opfern wird, um den Hunnenkönig aus seiner Passivität zu reißen, und sie hat tatsächlich richtig kalkuliert: der Kampf bricht los.

Kriemhild ist im Blutrausch. Während Dietrich mit hörbarem Entsetzen aufzählt, wer bereits gefallen ist, antwortet sie unerbittlich: „Und Hagen lebt“.... „Die ganze Welt bezahlt mich nicht für ihn“. Und sie begründet das auch aufs eindrucksvollste: „Denn was ich bin, das wurde ich durch die, die Ihr der Strafe gern entziehen möchtet...Sie haben mir die Gedanken umgefärbt. Bin ich verräterisch und falsch? Sie lehrten mich, wie man den Helden in Falle lockt. Und bin ich für des Mitleids Stimme taub? Sie waren’s, als sogar der Stein zerschmolz. Ich bin in allem nur ihr Widerschein, und wer den Teufel hasst, der spuckt den Spiegel nicht an... er schlägt ihn selbst und jagt ihn aus der Welt (V,6, S. 177)“ und sie wiederholt, was Hagen an der Totenbahre Siegfrieds sagte (sehr starke Szene: „Ich schlag den Drachen tot und jeden, der sich zu ihm gesellt und ihn beschirmt.“

Fazit:

Es könnte natürlich an dieser Stelle einiges über Hebbels Begriff der Schuldhaftigkeit gesagt werden, der in der Figur der Kriemhild auf grundsätzliche Weise aufgeworfen wird. Die Maßlosigkeit des Individuums, die auch im Nibelungenlied, wenn auch sicher in einem etwas anderen Verständnis, immer wieder betont wird, ist bei Hebbel ein Schlüsselbegriff. Auch Kriemhild ist maßlos, doch der Dichter macht durch seine sorgfältige Beschreibung ihrer psychischen Entwicklung überzeugend deutlich, dass Kriemhild bei aller Schuld, die sie auf sich lädt, nur ein Spiegelbild der gängigen Unrechtspraxis ist.

Und hier treffen wir nun auch wieder auf Rinke. Er hat Hebbels Worte fast wörtlich aufgegriffen. Aber während Hebbel eigentlich ein eher unpolitisches Drama schreibt, das die Ereignisse eben nicht in die Verantwortung der handelnden Personen legt,– sie können ja nicht anders – klingt bei Rinke ein anderer Gedanke an und kommt damit für mich vom Ansatz her dem Original sehr viel näher. Er hält auf die ihm eigene flapsige Art den Zuschauern einen Spiegel vor. Das tut er vor allem immer wieder durch die Einbeziehung der Kinder; in pointierter Kargheit skizziert er, was ihnen von den Alten, den Erwachsenen mitgegeben wird. Ein prägnantes Beispiel: zwar hat sich Etzel ganz aus dem blutigen Geschäft zurückgezogen, doch als der kleine Sohn eine Gans tötet, wählt er militärisches Vokabular – natürlich hat Rinke den 11. September „mitgebracht“, möchte ich hier an die Adresse von Joachim Lux sagen – und spricht zuletzt freudenstrahlend vom ersten Sieg des Jungen. Das heißt: Gewalt wird geprägt durch die Umgebung, wird weitergegeben durch Vorbild, durch unreflektiertes Geschichtsbewusstsein.

Für das Nibelungenlied, so schreibt Claudia Brinker-van der Heyde, bedeutet die Lösung Auflösung. Bei Hebbel bleibt Dietrich von Bern übrig, der Übermensch, der sich der Macht enthält und deshalb geeignet ist, eine bessere Welt, vielleicht im urchristlichen Sinn, herbeizuführen. Wenn denn die Zeit dafür reif ist. Rinke lässt einen anderen Gedanken, eine Möglichkeit aufblitzen. Als alle tot sind, holt Kriemhild, die bei Rinke ja überlebt, ein Buch aus ihrem Mantel und legt es Giselher auf den Bauch. Das heißt, sie lernt aus dem Vorgefallenen, sie entwickelt sich. Das trifft auch für Brünhild zu, die erneut auftaucht und dieses Mal an Siegfried vorbeigeht, näher kommt. „Es ist still. So sitzen die Frauen da.“ – vielleicht endlich bereit, ganz neue Wege zu gehen.



Literatur:

Das Nibelungenlied nach der Ausgabe von Karl Bartsch, 18. Auflg.

Das Nibelungenlied. Übersetzt von Felix Genzmer

Elisabeth Lienert in Gender Studies. Gewalt und das Nibelungelied, in: Der Mord und die Klage. IV. Symposium der NL-Gesellschaft, 2002.

Helmut de Boor in Friedrich Hebbel, Die Nibelungen. Dichtung und Wirklichkeit. Ullstein-Verlag, Ffm: 1966

Claudia Brinker-von der Heyde in „Hagen - valant oder trost der nibelungen. Zur Unerträglichkeit ambivalenter Gewalt im Nibelungenlied und ihrer Bewältigung in der Klage.“ In: Der Mord und die Klage, 4. Symposium der NL-Gesellschaft, 2002)

Hermann Reichert an, der in seinen Ausführungen (Psychoanalyse und Nibelungenlied, in: Sagen und Märchenmotive im NL, 3. Wormser Symposium, 2001