Drachenkampf
und
Dichtermet


Dichtung im alten Island


von Petra Riha



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Carta marina, eine Landkarte Nordeuropas, ..
von Olaus Magnus, 1539 (Ausschnitt)
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Einleitung

Man darf ohne Übertreibung behaupten, daß die isländische Literatur des Mittelalters zu den höchsten dichterischen Leistungen der Welt gezählt werden kann.
Doch was war der Grund für die literarische Blüte, die in diesem abseits der kulturellen Zentren Europas gelegenen Land solch beeindruckende Meisterwerke entstehen ließ?
Antworten für diese Sonderstellung findet man in den gesellschaftlichen, kulturellen und geografischen Strukturen, die zusammenwirkend den Nährboden für großartige dichterische Arbeit schufen.

Geografische Lage

Grundvoraussetzung war zunächst einmal die abgeschiedene geografische Lage.
Island ist nach Großbritannien die zweitgrößte Insel Europas, die Entfernung nach Grönland beträgt ca. 290, nach Schottland 790 und nach Norwegen fast 1000 Kilometer.
Bedingt durch die Lage auf dem Mittelatlantischen Rücken – auf der Grenze der eurasischen zur nordamerikanischen Kontinentalplatte – herrscht bis heute eine gesteigerte seismische Aktivität mit häufigen Vulkanausbrüchen und neu entstehenden sprudelnden, heißen Quellen.
Gepaart mit der Kulisse imposanter Gletscher rechtfertigt dieses Bild die Bezeichnung, die die Isländer gerne selbst ihrer Heimat geben:
Insel aus Feuer und Eis.

Besiedlungsgeschichte

Daß Island als letztes europäisches Land besiedelt wurde, lag am rauhen Klima, den zu erwartenden geringen Erträgen des Ackerbaus und den insgesamt eher unwirtlichen Lebensverhältnissen, die neugierige Entdecker zunächst davon abhielten, sich dauerhaft auf der Insel niederzulassen.
Unbekannt war Island allerdings nicht.
Schon 325 v. Chr. berichtet der griechische Seefahrer Pytheas von Marsilia
von „Ultima Thule“, einer Insel am nördlichen Rande der Welt und obwohl nicht gesichert ist, daß es sich tatsächlich um Island handelte, wurde der Name „Thule“ weiterhin für die Insel benutzt.
Auch irische Mönche fanden im 8. Jahrhundert in ihren winzigen Lederbooten den Weg über den Atlantik, verließen jedoch fluchtartig das Land, als die Wikinger kamen.

Es waren die Unzufriedenheit mit den herrschenden politischen Verhältnissen und die Angst vor der Unterdrückung durch König Harald Schönhaar, die die west- und südwestnorwegischen Wikinger zur Flucht aus ihrer Heimat veranlassten.
Im Jahre 874 siedelte sich Ingolfur Arnason als erster Westnorweger in der Nähe der heutigen Hauptstadt Reykjavik an.
Während der nächsten 60 Jahre – der sogenannten Landnahmezeit – folgten ihm mitsamt ihren keltischen Sklaven und Dienstleuten Menschen aus dem gleichen Herkunftsgebiet und Einwanderer aus den Wikingerkolonien im Norden Britanniens.
Anthropologische Forschungen bestätigten, daß mindestens ein Drittel der Neusiedler keltischen Ursprungs war. Man vermutet, daß die außerordentlichen Leistungen auf kulturellem Gebiet deren Einfluß zuzuschreiben sind, denn Kelten galten allgemein als beweglicher mit lebhaftem, feinsinnigem Geist. Auch heute haben 30 % der modernen Bevölkerung keltische Vorfahren, wie die auffallend vielen dunkelhaarigen Isländer zeigen
Doch unabhängig von ihrer Herkunft mussten alle Siedler gemeinsam die Herausforderungen bestehen, die die neuen Lebensbedingungen mit sich brachten.
Um Machtmißbrauch zu verhindern, war man sich einig, keine zentrale Staatsmacht einzusetzen.
Man teilte das besiedelte Land in einzelne Godentümer auf, denen jeweils ein Gode (Häuptling) vorstand.
Übrigens sind auch zwei weibliche Goden bezeugt.
Da die Goden als Tempelpriester bereits kleine Gemeinden um sich geschart hatten, betraute man sie bald auch mit Aufgaben des weltlichen Rechts; um aber das Gerichtswesen insgesamt zu vereinheitlichen, passte man die Gesetze des Mutterlandes Norwegen den neuen Lebensumständen an und verkündete im Jahre 930 zum ersten Mal isländisches Recht: Der Freistaat Island war geboren.
Aus Aufzeichnungen wissen wir, daß der Bevölkerungsanteil an alten norwegischen Adelsgeschlechtern sehr groß war, was auf ein hohes Bildungsniveau bei den Einwanderern schließen läßt.
Deren zahlreiche Nachkommen verteilten diese Bildungsfähigkeit mit den folgenden Generationen über die ganze Insel, so daß gemessen an der Gesamtbevölkerungszahl die intellektuelle Dichte einen außergewöhnlich hohen Standard erreichte.
Der Stolz auf die eigene Herkunft und das in Island entstandene neue Identitätsbewußtsein verlangten geradezu danach, die Erinnerung an Altes und neu Erlebtes aufrechtzuerhalten.
Was lag also näher, als die langen, arbeitsarmen Wintermonate zur Pflege der Erzähl-und Dichtkunst zu nutzen?

Die Dichtung

Geschichten und Gedichte aus der Heimat hatten im Gedächtnis überlebt und dazu gehörten auch die alten Gesänge der Nibelungensage .
Fast 200 Jahre lang vertraute man auf die mündliche Überlieferung von Götter-und Heldenliedern und Berichten über historische Ereignisse, ehe die im Laufe des 12. Jahrhunderts beginnende Verschriftlichung eine Vielzahl von Genealogien, Geschichtswerken und Prosatexten hervorbrachte, darunter die Glanzlichter der isländischen Literatur, die bis heute nichts von ihrer Faszination verloren haben: die Schriften der alten Sagas und natürlich die der eddischen und der Skaldendichtung.
Von den historischen Werken sei hier nur das Landnahmebuch erwähnt, das auf ältere Aufzeichnungen zurückgreift und die Familiengeschichte, die Herkunft und die Nachkommen der ersten 400 Siedler dokumentiert.
Bis heute berufen sich die Isländer nicht ohne Stolz auf ihre Abstammung von den Wikingern und zeigen ungebrochenes Interesse an ihrer Genealogie, können sie doch ihre Ahnenreihe oft bis ins 16. Jahrhundert oder weiter zurückverfolgen.

Die Saga

Der eigentliche Staatsschatz Islands sind die Sagas.
Saga heißt übersetzte „Geschichte“ und überliefert was einst geschehen ist.
Zu den wichtigsten Untergruppen zählen die Königs- die Isländer- und die Vorzeitsagas.
Der Inhalt der Königssagas behandelt die Geschichte der norwegischen Herrscher. Soweit die Namen der Verfasser bekannt sind, lassen sie sich als rein isländisch identifizieren, dokumentieren aber gleichzeitig das nach wie vor große Interesse an der Geschichte des Mutterlandes. Höhepunkt ist die zu Beginn des 13. Jahrhunderts von Snorri Sturluson geschriebene „Heimskringla“ (Kreis der Welt). Snorri stützte sich hier auf ältere Überlieferungen, die er publikumswirksam ausmalte ohne jedoch den Sinn für historische Genauigkeit zu verlieren. Auffällig sind die fast 600 eingefügten Skaldenstrophen, die Snorri's großes Interesse an dieser Form der Dichtung zeigen.
Die zwischen 1200 und 1350 entstandenen Isländersagas thematisieren Geschichten aus dem 1. Jahrhundert des Freistaats, deshalb nennt man die Jahre zwischen 930 und 1030 auch Sagazeit. Die ca. 40 anonym überlieferten rein isländischen Sagas berichten vom Alltagsleben ebenso detailreich wie von Kriegen und Fehden der führenden Geschlechter
Islands und gewähren einen umfassenden Einblick in das Leben der heidnischen Zeit .
Grundlage waren oft die Aufzeichnungen des Landnahmebuchs, die manchmal mit Märchenmotiven ausgeschmückt wurden.
Eine der beliebtesten und romantischsten Sagas ist die Laxdaela Saga, die Geschichte der Leute vom Lachswassertal. Niedergeschrieben im 13. Jahrhundert schildert sie Ereignisse aus dem 9. Jahrhundert.
Eine der Hauptpersonen dieser den Zeitraum von zwei Jahrhunderten umspannenden Familienchronik ist Gudrun Osvifursdottir, die zunächst von bedeutungsschweren Träumen heimgesucht wird, die auf ihre späteren vier Ehen hindeuten.
Nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes lernt sie Bolli kennen, ist jedoch gleichzeitig in seinen Freund Kjartan verliebt. Die Freunde bereisen Norwegen, doch während Bolli nach drei Jahren zurückkehrt, wird Kjartan in Norwegen festgehalten. Gudrun glaubt dem Gerücht, Kjartan und die Schwester des Königs seien ein Paar und nimmt Bolli's Heiratsantrag an. Nach seiner Rückkehr nach Island heiratet Kjartan aus Enttäuschung eine andere Frau. Die fortan gegenseitig zugefügten Kränkungen und Ehrverletzungen beenden die Freundschaft beider Familien und gipfeln in Gudrun's Aufreizung zur Rache. Sie überzeugt ihre Brüder und Bolli, Kjartan zu töten.
Es ist vor allem das Motiv der Eifersucht, in der die Forschung Analogien zwischen Gudrun und Brünhild erkannte. Beide werden um den Mann, den sie lieben, betrogen. Der aussichtslose Kampf gegen eine andere – dem geliebten Mann rechtmäßig angetraute - Frau gipfelt in unbeherrschbarem Rachedurst und der Aufforderung zum Mord.
Doch während die sagenhafte Brünhild ihr Schicksal selbst besiegelt, indem sie sich – je nach Sagenvariante - wahlweise ersticht oder verbrennen läßt, überlebt die historische Gudrun nach Bolli's gewaltsamen Tod noch einen weiteren Ehemann, um sich dann in ein Kloster zurückzuziehen, wo sie als Islands erste Nonne gelebt haben soll.
Auf die Frage ihres Sohnes, welchen ihrer Männer sie am meisten geliebt habe, gesteht sie am Ende ihres Lebens:
„Dem schuf ich die bitterste Stunde, den ich liebte aus Herzensgrunde“.

Die Fragen, wieviel an historischer Überlieferung speziell in der Laxdaelasaga steckt und ob der Verfasser Anleihen beim Nibelungenstoff gemacht hat,sind nicht eindeutig zu beantworten.
Passend erscheint mir hier ein Zitat Rudolf Meißners, das einer Übersetzung der Saga vorangeht:
„Weder ist hier alles Kunst noch Abbild der Wirklichkeit.
In dem Krieg der Geschlechter z. B. müssen sich gewisse Erscheinungen immer wiederholen, so lange er währt. Daß ein liebendes Weib in ihrer Hoffnung auf den Besitz des Geliebten betrogen, dessen Untergang herbeiführt, ist sozusagen ein Urphänomen. Wenn Gudrun auf diese Weise einige Ähnlichkeit mit Brynhild hat, so ist damit nicht bewiesen, daß ihre und Kjartans Geschichte nach den Eddagedichten umgebildet ist.“

Lieder-Edda / Snorra-Edda

Mit „Eddagedichten“ sind hier zwei Werke gemeint, die beide den Namen Edda tragen.
Die Lieder-Edda (ca.1270) ist eine altisländische Sammlung von Göttermythen und Heldenliedern und Versen der Spruchdichtung.
Ein Großteil der darin überlieferten Heldenlieder ist südgermanischer Herkunft und gehörte als Sagenstoff der Völkerwanderungszeit bereits zum Erinnerungsschatz der ersten Siedler.
Abwandlungen dieser alten Maeren erreichten Island später über Deutschland und England oder sie wurden von isländischen Reisenden vom Kontinent in ihr Heimatland gebracht.

Die eddische Liedsammlung enthält einige der ursprünglichsten verschriftlichten Fassungen des Nibelungenstoffes, darunter das Alte Sigurdlied, auf dessen Handlungsgerüst der erste Teil des Nibelungenliedes aufbaut und das Alte Atlilied, das Urlied vom Burgundenuntergang.
Die Aufnahme weiterer Bearbeitungen unterschiedlichen Alters in die Liedersammlung, wie z.B. die Vogelweissagung, Brünhild's Helfahrt und Gripir Weissagung zeigen, daß die Sage von den Nibelungen die Dichter Islands angezogen hat wie keine andere, obwohl sie widersprüchlich die Ereignisse um Sigurd (Siegfried), Brünhild und Gudrun (Kriemhild) wiedergeben.
Beispielhaft seien hier die im Jüngeren Sigurdlied geschilderten Emotionen Brünhild's erwähnt, die den Leser durch die Aufzeichnung von Selbstgesprächen an ihrer Verzweiflung teilhaben lassen.
So spricht sie, als sie erfährt, daß nicht Sigurd, sondern Gunnar ihr Gatte. geworden ist:

„Einsam ging sie
abends draußen,
begann mit sich
so zu reden:
„Halten will ich
den jungen Helden,
Sigurd, im Arm;
sonst muß er sterben.
Geredet hab ich's
bereuen werd ich's:
sein Weib ist Gudrun,
doch ich Gunnars,
finstre Nornen
schufen uns lange Not.“
Brünhild:
„Freudlos geh ich,
gattenlos,
möchte schreien
vor grimmem Scmerz
Sie reizte vor Haß
sich zur Rache auf.“

Auch der Bericht über Sigurd's Drachenkampf, der im Nibelungenlied nur kurze Erwähnung findet, wird in der Edda detailreich beschrieben.
Die eddische Form der Drachenkampfsage entführt uns in die Urzeit, in eine Welt, in der das Schicksal der Menschen eng mit dem der Götter verwoben ist.
Es erzählt von einem durch die Götter Odin, Loki und Hönir ausgelösten Erbstreit, vom verfluchten Gold und der Verwandlung des Riesen Fafnir in einen Drachen.
Auf einer Wanderung tötete Loki einst den in einen Fischotter verwandelten Sohn des zauberkundigen Hreidmar, der daraufhin als Entschädigung und Buße verlangte, das abgezogene Fell des Otters mit rotem Golde zu füllen. Nachdem Hreidmar von seinen anderen Söhnen, Regin und Fafnir – erschlagen wurde, weil er das Gold nicht mit ihnen teilen wollte, verwandelte sich Fafnir in einen Drachen und bewachte fortan den Hort. Regin stachelte daraufhin Sigurd zum Mord an Fafnir auf und wurde dann selbst von Sigurd erschlagen. Nun gehört der Schatz Sigurd allein.
Das Drachenhortlied ist skandinavischen Ursprungs und war bereits um die Jahrtausendwende in Schweden bekannt, wie die Felsritzungen auf dem Runenstein von Södermanland zeigen:

Wir sehen einen Fischotter, dann das Roß Grani, das eine Last auf dem Rücken trägt und an einen Baum gebunden ist, auf dem zwei Vögel sitzen; Sigurd wie er das Drachenherz am Feuer brät und einen Finger in den Mund steckt; den enthaupteten Regin mit seinen Schmiedegeräten, das ganze Bild ist eingerahmt von einem Drachen in Schlangengestalt, den Sigurd von unten mit seinem Schwert durchbohrt.
Die Schärfe dieses Schwertes prüfte Sigurd im Rhein; die Geschichte vom Drachenkampf stammt also aus Deutschland. Die Vorgeschichte von der Herkunft des Hortes und dem Treiben der Götter ist eine rein nordische mythologische Zutat des Dichters vom Drachenhortlied und beweist, daß sich einzelne Sagenzüge unterschiedlicher Herkunft miteinander verbanden.

Um 1220 griff der isländische Politiker und Poet Snorri Sturlusson auf eine ältere, verlorengegangene Fassung dieser Lieder-Sammlung zurück und ergänzte sie mit weiteren Aufzeichnungen und eigenen Gedichten.

Aufgewachsen auf dem als Zentrum der Gelehrsamkeit bekannten Oddi-Hof, versuchte Snorri die alten Lieder zu ordnen und gewährt gleichzeitig einen Einblick in die hohe Kunst der Skaldik. Snorris Götter-und Heldenliedersammlung diente daher nur zweitrangig zur Unterhaltung, sie war vor allem Lehrstoff für Skalden.

Skaldendichtung

Die Skaldendichtung hatte Island schon mit der ersten Einwanderungswelle erreicht.
Sowohl im Mutterland Norwegen als auch in den britischen Wikingerkolonien dichteten Skalden schon im 8. Jahrhundert Lob-Preis-und Liebeslieder und erzählten von Kriegen, Fehden und Abenteuern.
Bald schon galten die isländischen Skalden als die Besten und ernteten Ruhm an ausländischen Königshöfen.
Als Sprachrohr der Zeitgeschichte berichteten sie von aktuellen Ereignissen und versanken im Gegensatz zu den Verfassern der Götter-und Heldenlieder nicht in einem Dasein der Anonymität; über 400 Skalden sind namentlich bekannt.
Als Meister im Verfassen artistischer Reime mußten sie sich an genauestens festgelegte Regeln und vorgegebene Reimbindungen halten, die eine Veränderung des Textes nahezu unmöglich machten und die Verse auch als historische Quellen zulassen.
Ihre poetischen Umschreibungen, die sogenannten Kenninge, ersetzten ein Substantiv durch zwei oder mehr andere und erforderten sowohl beim Dichter als auch beim Zuhörer gute Kenntnisse der alten Mythen.
Man mußte also die Geschichte des Urriesen Ymir kennen, um in der Umschreibung Blut Ymirs das Wort Meer zu erkennen, denn das Meer wurde aus dem Blut des getöteten Riesen erschaffen. Manchmal wurden auch Umschreibungen umschrieben oder miteinander verwoben, was deren Übersetzung bis heute schwierig macht und schmälernd auf die beeindruckende Aussagekraft wirkt. Die Regel, keine Kenningar zweimal zu verwenden, stellte hohe Ansprüche an die Phantasie der Dichter.
Das Werk gliedert sich in zwei erzählende Texte mit altem Sagenstoff, es folgen das Strophenverzeichnis mit Hinweisen zu Versaufbau und Reimbindung und der grammatische Traktat.

Die beiden ersten Teile – Gylfi's Betörung und die Dichtersprache – sind als Lehrdialoge konzipiert.

Gylfi's Betörung ist ein Frage-und Antwortspiel zwischen dem naseweisen, den durchschnittlichen Isländer repräsentierenden Gangleri und drei göttergleichen Häuptlingen, die ihm die Götter-und Mythenwelt erklären.
Hauptstück von Snorri's Edda ist die jedoch Dichtersprache. Eingebettet in eine sagenhafte Rahmenhandlung werden in hunderten von Skaldenstrophen des 9.-12. Jahrhunderts die skaldische Umschreibungstechnik und eine Liste von Synonymen vorgestellt.
Sicher ist es Snorri's Liebe zur Poesie zu verdanken, daß er die Umschreibungen für diese Kunst gleich nach den Begriffserklärungen für Odin an die Spitze stellt.
Es ist der zauberkundige Ägir, der nach Asgard reist und Bragi, dem Gott der Dichtkunst und Hüter der Überlieferung die Frage stellt:“ Wie ist jene Kunst entstanden, die ihr Poesie nennt?“
Als Antwort erhält er eine der ausführlichsten Beschreibungen des Mythos vom Skaldenmet, einem Honigwein, der aus jedem, der davon trinkt, einen begnadeten Dichter macht:
Nach dem Krieg der Asen gegen die Wanen spuckten die Götter als Friedensbeschluß ihren Speichel in einen Kessel. Aus diesem Gemisch schufen sie Kwasir, das klügste aller Wesen, das auf seiner Reise durch die Welt von zwei heimtückischen Zwergen erschlagen wurde.
Aus Kwasir's Blut, vermischt mit Honig, entstand der Skaldenmet.
Nachdem der Met als Wergeld in den Besitz des Riesen Suttung gelangt war, gelang es Odin durch eine List, ihn für die Götter zurückzugewinnen.
In Gestalt eines Adlers spuckte er die Flüssigkeit in bereitgestellte Gefäße und schenkte den Bluthonig jenen Menschen, die dichten konnten.
Umschreibungen für diesen göttlichen Trank und gleichzeitig für die Dichtkunst sind infolgedessen:
Odin's Lippenstrom, Odin's Beute, Kwasir's Blut, Zwergentrank, Odin's Woge.

Die folgenden Seiten enthalten u.a. Umschreibungen für Götternamen, für Erde, Sonne und Himmel. Himmel ist das Haus der Luft, Augen sind Stirnsterne, die Sonne ist die Schwester des Mondes, das Feuer des Himmels und der Luft, der Himmel ist das Heim der Sonnengöttin, der Erde Aal ist eine Schlange, das Wundenmeer ist eine Umschreibung für Blut.
Kapitel 39-41 behandeln die berühmeste aller Heldensagen: die von den Nibelungen.
Eingeleitet wird die Erzählung mit der Frage:“Welchen Grund hat es, daß man für Gold Otterbuße sagt?“
Es folgt die Geschichte, die wir aus dem Drachenkampflied kennen, erweitert um die nordische Variante des Königinnenstreits und der Hortversenkung. Nun hören wir auch zum erstenmal das Wort „Nibelungenschatz“.
Snorri hebt zudem noch das rabenschwarze Haar der Nibelungen hervor, was auf den südländischen Ursprung der Sage hinweist und er berichtet von Aslaug, der Tochter Sigurd's und Brünhild's, und deren erlauchten Nachkommen; das sind keine geringeren als die norwegischen Könige.

Die Nibelungensage war so bekannt , daß der Nibelungenschatz als Synonym für Gold schlechthin galt und sich die passenden nibelungischen Umschreibungen auch in anderen Sagenstoffen großer Beliebtheit erfreuten. In der Saga vom dänischen König Rolf Krake dichtete man „Des Rheines rotes Erz, den Raub der Niblunge“ und meint damit das Gold des dänischen Königs.
Thorwald, der Blandaskalde, bezeichnet Gold in einem seiner Verse als Grani's Last und Einar Schalenklang nennt in einem Gedicht auf Harald Blauzahn Gold 'Kies des Rheines'.
Auch vom Skalden Illugi ist bekannt, daß er in seinen Lob-und Preisliedern auf den norwegischen König Harald den Harten den Nibelungenstoff bevorzugte
Während Snorri's Mythensammlung vorrangig die Regeln der Skaldik erklärt, gipfelte der Beliebtheitsgrad der Nibelungenhelden um die Mitte des 13.Jahrhunderts in der Niederschrift der Wölsungensaga, eines Prosaromans, der ergänzt durch Inhalte der Thidrekssaga die Heldenlieder des Nibelungenzyklus zusammenfaßt und einen so großen Bekanntheitsgrad erreichte, daß sie später u.a. Richard Wagner als Inspirationsquelle für seinen Ringzyklus diente.
Ich zitiere aus Paul Hermann's Ausgabe der Isländischen Heldenromane:
„Die Geschichte von den Völsungen zieht verstehend die Summe aus dem, was die Dichter und Sagamänner Islands über Sigurd und seinen Kreis erzählt hatten“. Und weiter:
„Sie darf endlich, zwar nicht als persönliche Dichterart, aber als abschließende Zusammenfassung und als Kulturfrucht im Allgemeinen dem Nibelungenlied gegenübertreten, das etwa zwei Menschenalter jünger ist.“

Die Abfassung dieser großen Werke fiel bereits in eine Zeit der politischen Unruhen. Snorri Sturluson war als Mitglied der Oberschicht in blutige Machtkämpfe rivalisierender Familien verstrickt und wurde 1241 ermordet. Die innerstaatliche Zerissenheit und der zunehmende Einfluß des norwegischen Königs führten schließlich zum Niedergang des isländischen Freistaates und der Unterwerfung unter die norwegische Krone.
Dieser Einschnitt tat der Literaturbegeisterung jedoch keinen Abbruch. Über die Jahrhunderte hinweg bis heute sind die Einwohner mit ihrer Literatur bestens vertraut und stolz darauf, einer schreib-und lesefreudigen Nation anzugehören.