Dietrich von Bern
im Nibelungenlied

kontroverse Deutungen
seines Verhaltens


von Hans Müller



....
Dietrich fesselt Hagen, Schmoll von Eisenwerth, 1912 .



 

Bevor ich mich mit den kontroversen Deutungen Dietrichs von Bern im Nibelungenlied beschäftige, möchte ich zwei Bemerkungen vorausschicken:

Das Nibelungenlied ist bekanntlich nur in voneinander abweichenden Handschriften überliefert, wobei großer Konsens besteht, dass die Handschriften B und C dem Original am nächsten kommen. Da es für mein Thema zwischen den Handschriften B und C keine nennenswerten Unterschiede gibt, habe ich mich aus praktischen Gründen für die Handschrift B entschieden. Ich zitiere nach der Fassung B, wie sie seit 1997 bei Reclam vorliegt: im mittelhochdeutschen Text und einer Übertragung ins Neuhochdeutsche durch Siegfried Grosse.

Eine zweite Bemerkung füge ich hinzu:
Mir ist bewusst, dass das Nibelungenepos nicht wie ein psychologischer Roman des 19. Jahrhunderts interpretiert werden kann und dass es nach der Meinung der meisten Interpreten problematisch ist, von den Handlungen auf den Charakter der Personen zu schließen, da ihr Agieren eher durch Motivformeln der Heldendichtung und durch eine lange Erzähltradition in Bezug auf das Verhalten der Hauptpersonen vorgegeben ist. Außerdem sind Bewertungen der Personen durch den Dichter nur auf die jeweilige Handlung bezogen. Das lässt sich gut an der Beurteilung Hagens durch den Dichter zeigen. So verurteilt er wiederholt ungewöhnlich scharf die Ermordung Siegfrieds durch Hagen als Treulosigkeit (Str. 876, 911, 915, 916), als Verrat (Str. 876), als Untat. (Str. 981) – Dagegen wird Hagen im 2. Teil des Nibelungenliedes „ein helflîcher trôst“ (Hilfe und Zuversicht) der Burgunden genannt. (Str. 1526, ähnlich: Str. 1726) Aber er bewertet nicht sein negatives Verhalten auf diesem Weg: die Tötung des Fährmanns (Str. 1562), die er Gunther gegenüber leugnet (Str. 1568), den Mordversuch am Kaplan (Str. 1576+1578) und die Zerstörung der einzigen Fähre über die Donau (Str. 1581). Dann erst enthüllt er den Burgunden, dass sie nicht mehr in ihr Land zurückkehren werden. (Str. 1587) Er nimmt also seinen Königen die Möglichkeit einer wenn auch unwahrscheinlichen Umkehr. – Am Schluss des Epos, nachdem Kriemhild Hagen enthauptet hat, nennt Etzel Hagen, der ja seinen Sohn getötet hat – wahrlich keine Heldentat - , den allerbesten Ritter, und sein Tod ist ihm ein großer Schmerz, auch wenn er sein Feind gewesen ist. (Str. 2374) – Aber es gibt bei der Darstellung des Handelns von Dietrich von Bern wie auch bei dem der anderen Personen durchaus intuitive Ansätze zur psychologischen Motivierung. Durch diese Art der Personendarstellung fühle ich mich in meiner Vorgehensweise bei der Deutung der Dietrichgestalt im Nibelungenlied ermutigt.

Nun aber zum eigentlichen Vortrag:
Bei den widersprüchlichen Bewertungen der Handlungsweisen Hagens wundert es nicht, dass ein auch nur flüchtiger Blick in die Rezeptionsgeschichte, in die unzähligen Versuche, ihn zu charakterisieren, zeigt, wie unterschiedlich er beurteilt wird: Hagen als Verräter und/oder als treuer Vasall bis zur letzten Konsequenz. Frau Riha kam im letzten Jahr in ihrem Vortrag über Hagen zu dem Schluss, dass sich Anteile beider Verhaltensmuster in seiner Persönlichkeit finden und ihn deshalb zu einer der widersprüchlichsten und gleichzeitig facettenreichsten Figuren des Nibelungenliedes machen. Widersprüchlich beurteilt werden natürlich auch Siegfried als jugendlicher Held und/oder als Betrüger und Kriemhild als große Liebende und/oder als maßlose Rächerin.
Aber es gibt auch Personen im Nibelungenlied, deren Verhalten weniger widersprüchlich erscheint. Frau Dr. Bender hat in ihrem Vortrag in der letzten Woche eindrucksvoll gezeigt, was für ein schwacher König Gunther ist. – Auch bei der Charakterisierung Dietrichs sind sich die meisten Interpreten einig. Sie heben seine edelmütigen Handlungen hervor, seine Versuche der Deeskalation während des unerbittlichen Kampfes der Burgunden bis zum letzten Mann gegen die Hunnen, sehen in ihm eine lichte Idealgestalt. So nennt Bert Nagel, ein namhafter Nibelungenliedforscher der Nachkriegszeit, in seiner Monographie von 1965 über das Nibelungenlied Dietrich einen Vertreter einer vom Christentum geprägten ritterlichen Humanität der Stauferzeit. (1) Seine Beurteilung Dietrichs werde ich in meinem Vortrag wiederholt heranziehen. - Aber es gibt auch einige Stimmen, die aufzeigen, dass sein Verhalten keineswegs immer diesem Idealbild entspricht. Blanka Horacek, eine Wiener Germanistin, hat in einem Aufsatz 1976 mit dem Titel „Der Charakter Dietrichs von Bern im Nibelungenlied“ sehr kritisch die einzelnen Textstellen untersucht, in denen Dietrich vorkommt, und zieht daraus den Schluss, dass die Figur auf keinen Fall als Idealgestalt konzipiert ist, weder im germanischen noch im christlichen Sinn. (2) Für sie ist er geradezu ein Paradigma der Ichbezogenheit. Auch wenn ich nicht alle ihre Rückschlüsse auf Dietrichs Charakter nachvollziehen kann, verdanke ich ihrem Aufsatz viel für meinen Vortrag, in dem ich die unterschiedlichen Deutungen von Dietrichs Verhalten gegenüberstellen will, um zu einer abschließenden Beurteilung zu kommen.

Dietrich von Bern war als Mittelpunktgestalt eines im Mittelalter weit verbreiteten Sagenkreises dem damaligen höfischen Publikum sehr bekannt. In Dietrich von Bern, dessen Name auf den Ostgotenkönig Theoderich den Großen zurückgeht, der von 493 bis 526 ein großes Reich von Ravenna aus regierte, verquicken sich Personen und Vorgänge aus der gotischen Geschichte. Schon Anfang des 9. Jahrhunderts ist im bekannten Hildebrandslied aus dem mächtigen Ostgotenkönig, der seinen Widersacher Odoaker eigenhändig erstochen hat, durch eine seltsame Verkehrung der Geschichte ein aus seinem Reich vertriebener Herrscher geworden. Darin erfahren wir, wie er als aus seinem Reich Vertriebener mit seinem Waffenmeister Hildebrand, mit dem er eng verbunden ist, bei den Hunnen aufgenommen worden ist, dort 30 Jahre gelebt hat und nun sein Reich zurückerobern will. - Das höfische Publikum zur Zeit der Abfassung des Nibelungenliedes wusste also, dass Dietrich von Bern aus seinem Reich vertrieben worden war und mit Hildebrand und seinen Gefolgsleuten am Hunnenhof Aufnahme gefunden hatte.
Im Nibelungenlied wird er deshalb, als er zum ersten Mal erscheint, nicht vorgestellt. Im Laufe des Epos erfahren wir folgende Einzelheiten über ihn eher nebenbei: Dietrich ist ein hochgestellter mächtiger König. (Str. 2319) Einmal bezeichnet er sich selbst als „ellenden recken“. (als „einen Recken in einem fremden Land“) (Str. 2345) Er wird Vogt von Bern und König der Amelungen genannt. (Str. 1981) - Verlobt ist er mit Herrat, der Nichte von Helche, der verstorbenen Frau Etzels. (Str. 1381) Seine Verlobte hat eine vertrauensvolle Position am Hof bei Kriemhild inne. (Str. 1381+1389) Dietrich von Bern ist verwandt mit der Frau von Rüdiger von Bechelaren. (Str. 2314)

Zum ersten Mal wird Dietrich im Nibelungenlied beim Empfang Kriemhilds durch Etzel in Tulln erwähnt. Er erscheint als Letzter mit seinen Gefährten neben Etzel vor dessen künftiger Gemahlin. (Str. 1347) Bei der anschließenden Hochzeit in Wien heißt es über Dietrich:

Str. 1372:
Swaz iemen tet mit milte, daz was gar ein wint,
unz an Dietrîchen, swaz Botelunges kint
im gegeben hête, daz was nu gar verswant.


(Aber was auch jemand aus Gebefreudigkeit tat, das war so gut wie gar nichts im Vergleich zu Dietrich. Alles, was Botelunges Kind [=Etzel] ihm übereignet hatte, war nun verteilt.)

Beide Textstellen zeigen die Vorrangstellung Dietrichs an Etzels Hof, das Zitat außerdem seine ungewöhnliche Freigebigkeit.

13 Jahre nach Kriemhilds Heirat mit Etzel kommen die Burgunden an dessen Hof. Als Dietrich von Bern durch Hildebrand vom Herannahen der Burgunden hört, reitet er ihnen entgegen. Hagen erkennt ihn sofort. Eindringlich warnt Dietrich vor Kriemhild, die immer noch um Siegfried weine.

Str. 1730:
„Ich hoere alle morgen weinen unde klagen
mit jâmerlîchen sinnen daz Etzelen wîp
dem rîchen got von himele des starken Sîfrides lîp.“


(„Ich höre jeden Morgen Etzels Gemahlin vor dem allmächtigen Gott im Himmel leidvoll über den starken Siegfried weinen und klagen.“)

Die meisten Interpreten sehen in Dietrichs Warnung das Bemühen, eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Burgunden und den von Kriemhild angestachelten Hunnen zu verhindern. Wäre es aber nicht effektiver gewesen, Dietrich von Bern hätte Etzel vor Kriemhilds Absicht gewarnt? Blanka Horacek geht in ihrer Kritik noch weiter. Sie sieht in Dietrichs Verhalten einen groben Vertrauensbruch gegenüber Kriemhild. Er habe nicht ihren größten Feind warnen dürfen, sondern hätte sein offensichtliches Vertrauensverhältnis zu ihr nutzen müssen, um sie von ihrer Racheabsicht gegenüber Hagen abzubringen. Diese Interpretation nennt ihn einen Intriganten. (3)
Während des Gesprächs zwischen Dietrich und den Burgunden verspottet Hagen brutal-zynisch Kriemhilds Trauer um Siegfried. (Str. 1725) Daraufhin sagt Dietrich:„Die Sîfrides wunden lâzen wir nu stên.“ („Lassen wir Siegfrieds Wunden außer Betracht.“) (Str. 1726) Bert Nagel sieht darin das Bemühen Dietrichs, „im christlichen Aspekt der Verzicht- und Verzeihungsbereitschaft die verjährte Schuld vergessen sein zu lassen.“ (4) Blanka Horacek dagegen weist darauf hin, dass nicht Hagen und auch nicht Dietrich den Mord an Siegfried zu verzeihen haben, sondern nur Kriemhild dazu aufgefordert werden könnte. (5) - Ich kann keinem der beiden Interpreten folgen. Vielmehr sehe ich in Dietrichs Reaktion auf Hagens zynische Verspottung von Kriemhilds Weinen einen Versuch der Deeskalation.

Die Burgunden reiten trotz der Warnung weiter und geben trotz Kriemhilds Aufforderung ihre Waffen nicht ab. So vermutet sie, dass sie gewarnt worden sind. Der Warner müsse sterben. Da bekennt sich Dietrich dazu und nennt Kriemhild schonungslos „vâlandinne“ („Teuflin“). Sie solle ihn, den Warner, dafür bestrafen. Beschämt geht sie weg. Dietrich von Bern und Hagen fassen sich demonstrativ bei der Hand. (Str. 1747-1750) Bert Nagel sieht in Dietrichs Brandmarkung Kriemhilds zwar einen Zornesausbruch, aber dahinter die Erkenntnis, dass der Teufel hinter Kriemhilds Racheabsicht am Werke sei. Für ihn ist es ein Beweis für Dietrichs ritterlich-christliche Sittlichkeit, für die es kein Paktieren mit dem Teufel gebe. (6) - Sehr negativ beurteilt Blanka Horacek Dietrichs öffentliche Beschimpfung Kriemhilds als „Teuflin“, zumal wenn man davon ausgehe, dass er ein Christ ist. Die Bloßstellung Kriemhilds, ihre öffentliche Demütigung verstärke nur noch ihren Rachedurst. Die demonstrative Solidarisierung Dietrichs mit Hagen erwecke den Eindruck, dass er ganz auf dessen Seite steht. (7)

Nach dem Gottesdienst am nächsten Morgen lässt Dietrich von Bern seine Mannen nicht am Turnier teilnehmen. „Er vorhte sîner manne, des gie im sicherlîchen nôt.“ („Denn er war – und zwar mit Recht - um seine Männer besorgt.“) (Str. 1874) Also keine Entscheidung, um die drohende Auseinandersetzung zu vermeiden, sondern eindeutig, um seine Mannen zu schonen.

Als es dennoch von Seiten der Burgunden zu Ausschreitungen kommt und Etzel beschwichtigt, bittet Kriemhild Dietrich um Beistand. Er lehnt entschieden ab und weist Kriemhild zurecht:

Str. 1901:
Dô sprach in sînen zühten dar zuo her Dietrîch:
„die bete lâ belîben, küneginne rîch.
mir habent dîne mâge der leide niht getân,
daz ich die degen küene mit strîte welle bestân.

Str. 1902:
Diu bete dich lützel êret, vil edeles fürsten wîp,
daz du dînen mâgen raetest an den lîp.
si kômen ûf genâde her in diz lant.
Sîfrit ist ungerochen von der Dietrîches hant.“

Str. 1901: Dazu bemerkte Herr Dietrich höflich:„Mächtige Königin, unterlass
diese Bitte. Deine Verwandten haben mir keinen Schaden zugefügt,
dass ich die mutigen Ritter angreifen müsste.

Str. 1902: Es dient deinem Ansehen nicht, Gemahlin eines hochgeborenen
Fürsten, dass du deinen Verwandten das Leben nehmen willst. Sie
sind vertrauensvoll hierher ins Land gekommen. Siegfried bleibt
ungerächt von Dietrichs Hand.“

Unter Wahrung der höfischen Form lehnt er es also ab, Rache zu nehmen, die ihm nicht zukommt, außerdem wirft er Kriemhild vor, Verwandtenmord begehen zu wollen und gegen das Gastrecht zu verstoßen. Es ist keine prinzipielle Ablehnung der Rache. Bert Nagel dagegen sieht in Dietrichs Weigerung einen Appell an Kriemhilds sittliche Einsicht, die nichts Geringeres erstrebt als deren christliche Erweckung. (8) Eine solche Interpretation gibt der Text nicht her.

Als während des Festmahls Hagens Bruder Dankwart blutüberströmt berichtet, wie die Hunnen alle Knappen erschlagen haben, besteht für Hagen kein Zweifel, dass es auf Veranlassung Kriemhilds geschehen ist. Daher schlägt er dem Sohn Etzels und Kriemhilds den Kopf ab, was einen erbitterten Kampf zwischen Burgunden und Hunnen auslöst.

Str. 1982:
Der wirt het grôze sorge, als im dô daz gezam,
(waz man im lieber vriunde vor sînen ougen nam!)
wande er vor sînen vînden vil kûme dâ genas.
er saz vil angestlîchen: was half in, daz er künec was?

Str. 1983:
Kriemhilt diu rîche rief Dietrîchen an:
„nu hilf mir, ritter edele, mit dem leben dan
durch aller fürsten tugende ûz Amelungen lant!
wand` erreichet mich Hagene, ich hân den tôt an der hant.“

Str. 1984:
„Wie sol ich iu gehelfen“, sprach her Dietrich,
„edeliu küneginne? Nu sorge ich umbe mich.
Ez sint sô sêre erzürnet die Guntheres man,
daz ich an disen zîten gefriden niemen enkan.“

Str. 1985:
„Neinâ, herre Dietrich vil edel ritter guot.
lâzâ hiute schînen den tugentlîchen muot,
daz du mir helfest hinnen, oder ich belîbe tôt.“
der sorge gie Kriemhilde vil harte groezlîche nôt.

Str. 1986:
„Daz wil ich versuochen, ob ich iu helfen kann;
wande ich in manegen zîten nie gesehen hân
sô bitterllîch erzürnet sô manegen ritter guot.
jâ sihe ich durch die helme von swerten springen daz bluot.“

Str. 1987:
Mit kraft begonde ruofen der degen ûzerkorn.
daz sîn stimme erlûte alsam ein wisentes horn,
unt daz diu burc vil wîte von sîner kraft erdôz
die sterke Dietrîches was unmaezlîche grôz.

Str. 1988-1991: -

Str. 1992:
Dô spach der herre Dietrîch: „mir ist niht getân.
lât mich ûz em hûze mit iuwerm vride gân
von diesem herten strîte mit dem gesinde mîn:
daz will ich sicherlîchen immer dienende sîn.“

Str. 1993: -

Str. 1994:
Dô sprach der künec Gunther: „erlouben ich iu wil:
füeret ûz dem hûse lützel oder vil
âne mîne vînde; die suln hie bestân.
si hânt mir hie zen Hiunen sô rehte leide getân.“

Str. 1995:
Dô er daz gehôrte, under arme er beslôz
die edeln küneginne; der sorge diu waz grôz.
dô fuort er anderthalben Etzeln mit im dan.
Ouch gie mit Dietrîche sehs hundert waetlîcher man.

Str. 1982:
Der Landesherr (= Etzel) hatte aufgrund seiner Verantwortung die
größte Sorge. Wen hatte man ihm alles an lieben Freunden in
seiner Gegenwart umgebracht! Außerdem konnte er sich selbst vor
den Feinden kaum retten und befand sich in großer Gefahr. Was
half ihm, dass er König war?

Str. 1983:
Die mächtige Kriemhild rief zu Dietrich:„Edler Ritter, hilf mir
bei den Tugenden aller Fürsten aus dem Amelungenland, lebendig
hier herauszukommen. Denn wenn mich Hagen erreicht, muss ich
sofort sterben.“

Str. 1984:
„Wie soll ich Euch helfen, edle Königin?“ fragte Dietrich.
„Jetzt habe ich Sorge um mich. Die Leute Gunthers sind so sehr
erzürnt, dass ich zu diesem Zeitpunkt niemanden mehr beschützen
kann.“

Str. 1985:
„Aber nein, Herr Dietrich, edler, tüchtiger Ritter, beweise mir
heute deine höfische Haltung, indem du mir von hier forthilfst,
sonst gehe ich zugrunde.“ Diese Sorge brachte Kriemhild in große
Bedrängnis.

Str. 1986:
„Ich will versuchen, ob ich Euch helfen kann, denn ich habe seit
langer Zeit niemals so viele tapfere Ritter in solch erregtem
Zorn gesehen. Ja, ich bemerke, wie unter ihren Schwerthieben das
Blut aus den Helmen herausspringt.“

Str. 1987:
Kräftig schrie der auserwählte Ritter, so dass seine Stimme
ertönte wie ein Wisenthorn und die Burg von seiner Stimmgewalt
weithin erschallte. Dietrichs Stärke war unermesslich groß.

Str. 1988–1991:
Als König Gunther im Kampfsturm Dietrichs Stimme hört, lässt er den Kampf unterbrechen und fragt Dietrich nach dem Grund seines Rufens. Er bietet ihm Sühne an, wenn ihm seine Männer etwas zugefügt hätten.

Str. 1992:
Da antwortete Herr Dietrich:„Mir ist nichts geschehen. Lasst
mich unter eurem Schutz aus dem Haus zusammen mit meinem Gefolge
weg von diesem harten Kampf gehen. Dafür werde ich euch gewiss
immer danken.“

Str. 1993: Dietrich weist den ungestümen Wolfhart zurecht, der mit Gewalt ausbrechen will.

Str. 1994: Da sagte König Gunther: „Ich will es Euch erlauben: führt aus
dem Hause wenige oder viele heraus, allerdings nicht meine
Feinde. Die sollen hierbleiben. Sie haben mir bei den Hunnen
schon viel Leid zugefügt.“

Str. 1995: Als Dietrich das gehört hatte, nahm er die edle Königin unter
seine Arme. Ihre Angst war sehr groß. Auf der anderen Seite
führte er Etzel mit sich hinaus. Auch begleiteten Dietrich
sechshundert tüchtige Männer. (= seine Amelungen)

Die vielen Interpreten, die in Dietrich eine lichte Idealgestalt sehen, verweisen auch auf diese Textstelle. Kriemhild, im Vertrauen auf Dietrichs Ritterlichkeit, flehe ihn an, sie schützend aus dem Kampfgetümmel hinauszuführen. Kraft seiner Stimmgewalt und seiner unermesslichen Stärke gelinge es ihm, sich bei den Burgunden Gehör zu verschaffen und König Gunther um seinen freien Abzug zu bitten, und zwar mit der ausdrücklichen Versicherung bleibenden Dankes. Er habe den Vorschlag des draufgängerischen jungen Wolfhart, eines seiner Dienstmannen, sich mit Gewalt den Abzug aus dem Saal zu erzwingen, energisch zurückgewiesen. Dass er die Königin „unter seine Arme nahm“, zeige ihnen seine große Fürsorge für sie, seine christliche Haltung der „erbermde“, des Erbarmens, obwohl er ja energisch ihr Rachehandeln missbilligt habe.– Blanka Horacek dagegen kommt bei einer genauen Analyse dieser Textstelle zu einer anderen Deutung seines Verhaltens. Die erste inständige Bitte Kriemhilds lehne er barsch ab mit der Begründung, jetzt müsse er sich große Sorge um sich selbst machen. Das zeige, dass es ihm zunächst um seine eigene Person gehe. Erst als sie ihn weiter anflehe, verspreche er ihr, zu versuchen, ihr zu helfen. Er bitte dann König Gunther nicht, wie zu erwarten, auch und zwar in erster Linie um freies Geleit für Kriemhild und Etzel, sondern nur für sich und seine Mannen. Dass er dann aber Kriemhild und Etzel mit hinausführe, geschehe wohl weniger aus Mitleid, sondern eher, um seine Standesehre zu wahren. (9) - Ich kann die Meinung von Blanka Horacek nicht ganz teilen. Dass Dietrich von Bern zunächst ablehnt, Kriemhild aus dem Saal zu führen, lässt sich rechtfertigen als realistische Einschätzung der Lage. Die Burgunden mit ihrem Anführer Hagen wissen, dass Kriemhild die Knappen hat umbringen lassen und demnach beabsichtigt, wenn nicht alle, so doch Hagen töten zu lassen. Daher kämpfen sie erbittert gegen die Hunnen im Saal. Man kann sich nicht vorstellen, dass sie Kriemhild und Etzel freien Abzug gewährt hätten. Wohl aus diesem Grund – so meine ich – hat Dietrich von Bern für sie kein freies Geleit verlangt, sondern sie ohne ausdrückliche Erlaubnis der Burgunden mit starker Hand aus dem Saal geführt. Dadurch wird der Vorwurf der Ichsucht Dietrichs in dieser Situation zumindest relativiert.

Dietrich bleibt neutral, auch als Kriemhild den Saal, in dem sich die Burgunden befinden, anzünden lässt. Dabei kommen viele Burgunden um, aber die Königsbrüder, Hagen und die anderen namentlich genannten Helden überleben. Da fragt Rüdiger bei Dietrich an, ob man nicht mit den Burgunden noch eine Schlichtung versuchen könne. Dietrich lehnt mit der Begründung ab, Etzel verweigere jede Verhandlung. (Str. 2137) Aber hätte Dietrich nicht doch das Unmögliche versuchen müssen, wenn er so darum bemüht gewesen sein sollte, den blutigen Kampf zu beenden? Hätte er nicht – auch gegen den Willen Etzels – versuchen können, eine Schlichtung herbeizuführen? Meiner Meinung nach hätte Dietrich zu diesem Zeitpunkt keine Chance für eine Aussöhnungsinitiative gehabt.

Nachdem Rüdiger mit seinen Mannen den Kampf gegen die Burgunden angetreten hat, hört man großes Wehgeschrei an Etzels Hof. Man vermutet, dass Etzel oder Kriemhild umgekommen ist. Dietrichs Bindung an den König, der ihn so reich beschenkt hat und ihm so nahe steht, würde ihn dann wohl zum Kampf verpflichten, da es nicht nur um Kriemhilds Rache geht, sondern auch um Vergeltung für den Erbprinzen und möglicherweise um Rache für Etzels Tod. In dieser Situation mahnt er zur Besonnenheit und weist auch darauf hin, dass er den Burgunden seinen Frieden angeboten habe. (Str. 2238)- Er fühlt sich ihnen wohl zumindest zur Neutralität verpflichtet, da Gunther ihm und seinen Mannen während der Saalschlacht freien Abzug gewährt hat.
So lässt er statt des Heißsporns Wolfhart seinen besonnenen Lehnsmann Helfrich Genaueres in Erfahrung bringen. Als dieser ihm unter Tränen berichtet, Rüdiger sei gefallen, klagt Dietrich:

Str. 2245:
„daz ensol niht wellen got.
daz waere ein starkiu râche unde ouch des tiuvels spot.
wâ mit hete Rüedegêr an in daz versolt?
jâ ist mir daz wol künde, er ist den elenden holt.“

Str. 2245:
„Das darf Gott nicht wollen. Das wäre eine furchtbare
Rache und gleichzeitig der Spott des Teufels. Womit sollte
Rüdiger das um sie verdient haben? Ja, ich weiß wohl, dass er
mit den Fremden befreundet war.“

Die Interpreten, die in Dietrich einen Vertreter christlicher Humanität sehen, verweisen u. a. auf diese Strophe, um Dietrichs Christlichkeit zu belegen. Aber könnte es sich nicht lediglich um eine um 1200 klischeehafte Reaktion handeln?

Dietrich von Bern schickt seinen Waffenmeister Hildebrand zu den Burgunden, um Näheres zu erfahren. Er verbietet ihm streng, sich in Kämpfe gegen sie verwickeln zu lassen. (Str. 2310) Hildebrand will ihnen daher ohne Waffen entgegen treten. Aber er lässt sich von dem „tumben“ („unbesonnenen“) Wolfhart umstimmen. (Str. 2250) Schließlich ziehen Hildebrand und seine Mannen bewaffnet gegen die Burgunden. Es kommt zu einem erbitterten Kampf, aus dem nur Hagen und Gunther auf der einen Seite und Hildebrand auf der anderen Seite mit dem Leben davonkommen. Als sein Waffenmeister Hildebrand blutüberströmt Dietrich die Nachricht über die Gewissheit von Rüdigers Tod überbringt, ist dessen Reaktion sehr aufschlussreich. Statt Mitleid mit seinem Waffenmeister zu haben, gibt er ihm vorwurfsvoll die Schuld an seiner Verwundung, da er gegen den ausdrücklichen Willen Dietrichs den Frieden mit den Burgunden gebrochen habe. Ja, er würde Hildebrand töten, wenn es nicht gegen seine Ehre wäre. (Str. 2313) - Blanka Horacek kommentiert zu Recht:„Nicht weil ein Christ nicht töten darf, sondern weil es seiner Ritterehre Abbruch täte, ihm Schande bereitete, sieht Dietrich von dem Schlag gegen den Alten ab. Wie für den germanischen Helden, so ist also auch für ihn oberster Wert die Ehre.“ (10)
Dann klagt Dietrich:

Str. 2314:
„So wê mir dirre leide ist Rüedegêr doch tôt!
Daz muoz mir sîn ein jâmer vor aller mîner nôt:
Gotelint diu edele ist mîner basen kint.
ach wê der armen weisen, die da ze Bechelâren sint.“

Str. 2314: „Weh über dieses große Leid; dann ist Rüdiger tatsächlich tot.
Dieser Jammer übersteigt meine eigene Not: Die edle Gotelind ist
meine Base. Ach, die armen Waisen, die es jetzt in Bechelaren gibt.“
[„mîner basen kint“ heißt wörtlich „Kind meiner Base/Tante“, also Kusine. So wird es auch in einigen Übertragungen wiedergegeben. Weshalb bei Grosse „Base“ steht, wird nicht erklärt.]

Weinend klagt er in Strophe 2315:„Owê getriuwer helfe die ich verlorn hân! / jane überwinde ich nimmer des künec Etzelen man.“ („Weh, welch getreue Hilfe habe ich verloren! Ja, ich werde niemals diesen Gefolgsmann König Etzels verschmerzen.“)
Blanka Horacek behauptet, er verleihe zuerst ganz allgemein seiner Trauer über den Verlust des Freundes Ausdruck, dann beklage er das Leid von Rüdigers Familie im Hinblick auf seine Verwandtschaft mit dessen Frau. Anschließend beweine er intensiv seinen Freund, weil er in ihm einen unersetzlichen treuen Helfer verloren habe – für Blanka Horacek ein weiterer Beweis für Dietrichs Ich-Bezogenheit. (11) Dass Dietrich den Verlust für ihn selbst beklagt, ist nicht zu leugnen und eine natürliche Reaktion. Aber die vorausgehende Strophe 2314 drückt doch wohl deutlich aus, dass er zuerst um Rüdigers Tod trauert und großes Mitgefühl für seine Verwandte, Rüdigers Frau, und die zurückgelassenen Waisen empfindet – also kein deutlicher Beweis für seine Ich-Bezogenheit. Wenn man wie Blanka Horacek argumentierte, müsste man den Arbeitgebern in unserer Zeit, die in einem Nachruf ausdrücken, dass sie Verstorbene vermissen, dass sie mit ihnen Personen mit besonderen positiven Eigenschaften verloren haben, Ichsucht vorwerfen.

Als Dietrich von Hildebrand erfährt, dass die erschöpften Burgunden alle seine Mannen getötet haben, dass allerdings von ihnen nur noch Hagen und Gunther am Leben sind, klagt er:„Sô hât mîn got vergezzen, ich armer Dietrîch. / ich was ein künec hêre, vil gewaltec unde rîch.“ („Dann hat Gott mich armseligen Dietrich vergessen. Ich bin ein hochgestellter, mächtiger König gewesen.“) (Str. 2319). Und er beklagt sein „ungelücke“, seine „unsaelde“. (Str. 2320/21) Grosse weist darauf hin, dass nach De Boor, einem namhaften Nibelungenliedforscher, mit diesen Begriffen unheilvolle Schicksalskräfte insbesondere des Königs gemeint sind, die in seiner Position als vertriebener König besonders negativ wirken. (12) Offensichtlich ist er vom Walten schicksalhafter Kräfte überzeugt. Es bleibt unklar ob es der heidnisch-germanische Glaube an ein unabwendbares Schicksal ist oder dagegen ein Wissen um Gottes unerklärlichen Ratschluss, also Ausdruck einer vorbildlichen Christlichkeit. - Während die meisten Interpreten in diesen Versen eine Bestätigung von Dietrichs christlicher Einstellung erkennen und sie mit Rüdigers Ringen mit Gott in seinem Konflikt zwischen seiner Treue gegenüber Etzel und Kriemhild auf der einen Seite und der gegenüber den Burgunden auf der anderen Seite sehen, führt Blanka Horacek diese Textstelle als Beweis für seine Ichbezogenheit an. Und sie fühlt sich in ihrer Meinung durch die Strophen 2322/23 bestätigt, wo der Dichter schildert, wie Dietrich um seine gefallenen Getreuen trauert und dabei ausruft:„Wer soll mir danne helfen in der Amelunge lant?“ („Wer soll mir denn beistehen im Land der Amelungen?“) (Str. 2322) Ja, er bedauere sogar in seiner Verzweiflung, dass man nicht vor Leid sterben könne. (Str. 2323)(13)

Am Anfang der letzten Aventiure schildert der Dichter anschaulich, wie Dietrich so laut klagt, dass das ganze Haus von seiner Stimme widerhallt. (Str. 2324) Die Stelle erinnert an seine Reaktion, als es nach dem Mord an Etzels und Kriemhilds Sohn zur Saalschlacht kommt. Dort heißt es:„Mit kraft begonde ruofen der degen ûzerkorn. / daz sîn stimme erlûte alsam ein wisentes horn, / unt daz diu burc vil wîte von sîner kraft erdôz / die sterke Dietrîches war unmaezlîche groz.“ („Kräftig schrie der auserwählte Ritter, so dass seine Stimme ertönte wie ein Wisenthorn und die Burg von seiner Stimmgewalt weithin erschallte. Dietrichs Stärke war unermesslich groß.“) (Str. 1987) Aber hier geht es nicht darum, für sich, die Amelungen und das Königspaar freien Abzug zu erreichen, sondern sich in die richtige Stimmung zu versetzen, um „rechten heldes muot“ („den richtigen Heldenmut“) zurückzugewinnen und sich „in grimme“ („voller Zorn“) zu rüsten, um gegen Gunther und Hagen zu kämpfen. (Str. 2325) Dietrich rächt nicht das Leid Etzels, das ihm durch die Ermordung seines Sohnes Ortlieb und den Tod seiner Mannen angetan wurde, schon gar nicht das Leid Kriemhilds durch die hinterlistige Ermordung Siegfrieds. Aus dem Kontext geht eindeutig hervor, dass er einzig und allein gegen Gunther und Hagen kämpft, um seine im offenen Kampf gefallenen Mannen zu rächen. - Und Hagens Vermutung, Dietrich von Bern wolle sie „nach sînem starken leide“ („nach seinem tiefen Leid“) angreifen, bestätigt sich. (Str. 2326) Er schildert vor Gunther und Hagen ausführlich das ihm – wie er meint - zu Unrecht von ihnen zugefügte Leid durch den Tod seiner Mannen, weist aber auch auf das ihnen widerfahrene Leid hin. Hagen und Gunther rechtfertigen ihren vernichtenden Angriff auf Dietrichs Mannen mit deren Verhalten.
Daraufhin macht ihnen Dietrich folgendes Angebot:

Str. 2336:
Dô sprach der helt von Berne: ez muos‘ et alsô sîn.
Gunther, künec edele, durch die zühte dîn
ergetze mich der leide, die mir von dir sint geschehen
und süene iz, ritter küene daz ich des künne dir gejehen.

Str. 2337:
Ergip dich mir ze gîsel du und ouch dîn man.
sô will ich behüeten, so ich aller beste kan,
daz dir hie zen Hiunen niemen niht entuot.
dune solt an mir niht vinden niwan triuwe unde guot.

Str. 2336:
Da sagte der Held von Bern:„Es muss nun also sein, Gunther,
edler König, bei deiner höfischen Erziehung entschädige mich für
alles Leid, das mir von dir zugefügt worden ist, und sühne es
so, tapferer Ritter, dass ich davon Genugtuung erfahre.

Str. 2337: Ergib dich mir als Geisel, zusammen mit deinem Gefolgsmann. Ich
werde dich dann schützen, so gut ich nur kann, damit dir hier
bei den Hunnen niemand etwas tut. Du wirst an mir nur Treue und
guten Willen finden.“

Obwohl sich Dietrich an Gunther wendet, lehnt Hagen entrüstet das Angebot ab. Daraufhin wiederholt Dietrich eindringlich sein Angebot.

Str. 2339:
„Ir ensult iz niht versprechen,“ sô redete Dietrich,
„Gunther unde Hagene, ir habt beide mich
sô sêre beswaeret daz herze und ouch den muot,
welt ir mich ergetzen, daz irz vil billîche tuot.

Str. 2340:
Ich gibe iu mîne triuwe und sicherlîche hant,
daz ich mit iu rîte heim in iuwer lant.
ich leit‘ iuch nâch den êren oder ich gelige tôt
und will durch iuch vergezzen der mînen groezlîchen nôt.“

Str. 2339:
„Ihr sollt das nicht ablehnen,“ so sprach Dietrich, „Gunther und
Hagen, ihr beide habt mir Herz und Denken so schwergemacht, dass
es recht und billig wäre, ihr würdet mich das vergessen lassen.

Str. 2340:
Ich gebe euch mein Wort und verspreche in die Hand, dass ich mit
euch in euer Land reite. Ich begleite euch, wie die höfische
Sitte es erfordert, oder ich sterbe; und euch zuliebe will ich
nicht mehr an meinen großen Kummer denken.“

Obwohl Dietrich als im Exil lebender König sein ganzes Heer durch die Burgunden verloren hat, schlägt er vor, Gunther und Hagen sollten sich ergeben. Er verlangt von ihnen Sühne für das nicht Etzel und Kriemhild, sondern ausschließlich ihm angetane Leid und verspricht ihnen, sie nach besten Kräften zu schützen, ja sogar, sie nach Worms zu geleiten. Wie die folgenden Strophen zeigen, versucht er, den Kampf gegen sie nicht aus Angst um sein Leben zu vermeiden. - Die meisten Interpreten sehen in diesem Verhalten einen wichtigen Beweis seiner ritterlichen Humanität, gar seinen christlichen Altruismus (14), der auf angetanes Unrecht nicht mit Vergeltung, Rache reagiere, sondern mit dem Versuch einer Wiedergutmachung durch eine Sühneleistung. Dietrich wolle Gunther und Hagen der Rache Etzels und Kriemhilds entziehen, soweit es in seiner Macht stehe. Er biete ihnen sogar persönliches Geleit in die Heimat unter Verpfändung seines Lebens an. Für das Leben der Burgunden würde er sogar gegen die Hunnen kämpfen. - Worin die geforderte Wiedergutmachung, Sühne genau besteht, wird allerdings nicht ganz klar. Was ist konkret mit folgenden Aussagen Dietrichs gemeint? „Ergetze mich der leide, die mir von dir sint geschehen, und süene iz, ritter küene, daz ich des künne dir gejehen“. („Entschädige mich für alles Leid, das mir von dir zugefügt worden ist, und sühne es so, tapferer Ritter, dass ich davon Genugtuung erfahre.“) (Str. 2336) Und was bedeutet konkret:„Welt ir mich ergetzen, daz irz vil billîche tuot.“ („ … dass es recht und billig wäre, ihr würdet mich das vergessen lassen.“) (Str. 2339) Der letzte Vers wird unterschiedlich übersetzt. Das liegt daran, dass das mittelhochdeutsche Wort „ergetzen“ die Bedeutung von „vergessen machen“ und „entschädigen“ hat. Könnte sein Angebot nicht die Forderung bedeuten, ihn am Burgundenhof durch neue Vasallen für den Verlust seiner Amelungen zu entschädigen? Dann wäre sein Angebot auch ein Zeichen für eigennütziges Verhalten. Die Bedeutung dieser Textstelle dürfte sich nicht abschließend klären lassen.

Da Gunther und Hagen Dietrichs Vorschlag, sich als Geiseln zu ergeben, ablehnen, ist der Kampf unvermeidlich. Zuerst kämpfen Hagen und Dietrich erbittert gegeneinander. Schließlich gelingt es Dietrich, Hagen, der mit Siegfrieds Schwert Balmung kämpft, eine schwere Wunde beizubringen.
Der Dichter gibt Dietrichs Gedanken wieder:

Str. 2351:
„Du bist in nôt erwigen,
ich hâns lützel êre, soltu tôt vor mir geligen.
ich wilz sus versuochen ob ich ertwigen kan
dich mir ze einem gîsel.“

Str. 2351:
„Du bist durch den Kampf erschöpft. Ich gewinne
geringes Ansehen, wenn du tot vor mir liegst. Deshalb will ich
versuchen, ob ich dich dazu zwingen kann, meine Geisel zu sein.“

Dietrich verzichtet also nicht aus Mitleid, Erbarmen mit Hagen auf dessen Tötung, sondern aus Rücksichtnahme auf die eigene Ehre. - Mit großer Anstrengung gelingt es ihm, Hagen zu fesseln. Dann bringt er ihn gefangen zu Kriemhild mit der Bitte:

Str. 2355:
„ir sult in lân genesen,
edeliu küneginne, und mac daz noch gewesen,
wie wol er iuch ergetzet daz er iu hât getân!“
er ensoldes niht entgelten, daz ir in seht gebunden stân.“

Str. 2355:
„Ihr sollt ihm das Leben lassen, edle Königin. Und wenn das noch
möglich ist, wie wird er Euch dann Genugtuung für das leisten,
was er Euch angetan hat! Er soll nicht deshalb zu leiden haben,
dass Ihr ihn in Fesseln seht.“

Kriemhild lässt Hagen wortlos in den Kerker werfen, während Dietrich von Bern Gunther überwältigt und gefesselt zu Kriemhild bringt. Nochmals fleht Dietrich Kriemhild an, diesmal für Hagen und Gunther:

Str. 2364:
„Ez enwart nie gîsel mêre sô guoter ritter lîp,
als ich iu, vrouwe hêre, an in gegeben hân.
nu sult ir die ellenden mîn vil wol geniezen lân.“

Str. 2364:
„Es sind noch niemals so vorzügliche Ritter Geiseln gewesen, wie
ich sie Euch, erhabene Herrin, mit ihnen übergeben habe. Nun
sollt Ihr die Fremden mir zuliebe schonen.“

Die Interpreten haben sich gefragt: Hätte es Dietrich nicht versuchen können, die beiden Gefangenen als seine Geiseln nach Worms zu bringen, wie er es ihnen ja vorgeschlagen hatte? Wäre es nicht für die Gefangenen besser gewesen, Dietrich hätte sie Etzel statt Kriemhild übergeben?
Die erste Alternative kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil es ihm und Hildebrand wohl nicht möglich gewesen sein dürfte, allein die beiden Geiseln nach Worms zu bringen. Vor allem aber hatten ja Hagen und Gunther dieses Angebot strikt abgelehnt.
Hätte Dietrich die Gefangenen Etzel ausgeliefert, wären sie noch gefährdeter gewesen als bei Kriemhild. Etzel hatte nach dem Mord an Ortlieb und dem Tod seiner Mannen ein größeres Recht auf Rache als Kriemhild.
Warum übergibt Dietrich die Geiseln Kriemhild, von der er ja weiß, dass sie Siegfrieds Ermordung rächen will, weshalb er sie ja „vâlandinne“ (Teuflin“) (Str. 1748) genannt hat? - Hatte Kriemhild als Frau überhaupt ein Recht auf Rache? Konnte Dietrich nicht auf Kriemhilds verwandtschaftliche Bande hoffen? Auch lag der Mord an Siegfried im Gegensatz zu dem an Ortlieb und dem Tod von Etzels Mannen sehr weit zurück.

Nach Kriemhilds nichtssagender Antwort verlässt er die „helden lobelîch“ „mit weinenden ougen“. („die tadellosen Helden mit weinenden Augen.“)(Str. 2365)- Der Dichter gibt nicht an, weshalb Dietrich von Bern weint, der offensichtlich vergeblich für die Gefangenen ein gutes Wort eingelegt hat. (Str. 2364: „Nu sult ir die ellenden mîn vil wol geniezen lân.“ („Nun sollt Ihr die Fremden mir zuliebe schonen.“) Aus dem Kontext heraus liegt es nahe, dass er über die schmachvolle Behandlung, den erahnten Tod der beiden Gefangenen weint, die ja früher seine Freunde waren. Oder weint er, weil es für ihn keine Möglichkeit mehr gibt, sich am Burgundenhof eine neue Existenz aufzubauen? Was meint er mit „mîn“/„mir zuliebe“? Weint er aus Mitgefühl oder Selbstmitleid? Der Dichter lässt die Antwort offen. Jedenfalls entzieht sich Dietrich von Bern der Verantwortung.

Er verlässt also weinend Kriemhild mit den Gefangenen.
Nachdem sie ihren Bruder Gunther hat töten lassen und Hagen eigenhändig enthauptet hat, tötet Hildebrand „mit zorne“ („zornentbrannt“) Kriemhild. (Str. 2376) Es geht aus dem Text nicht hervor, ob Dietrich anwesend war. Falls ja, hätte er dann nicht die Ermordung Kriemhilds durch Hildebrand verhindern müssen? – Die nordische Thidrekssaga, die an vielen Stellen mit dem Nibelungenlied verwandt ist, lässt Kriemhild nicht durch Hildebrand, sondern durch Dietrich von Bern auf Geheiß Etzels töten. Sollte die Thidrekssaga hier eine ältere Erzähltradition des Nibelungenstoffes wiedergeben, dann hätte der Nibelungenlied-Dichter bewusst Dietrich von Bern aufgewertet. – Das wäre ein Beweis für ein eher positives Dietrichbild im Nibelungenlied.

Nach der Tötung Kriemhilds wird Dietrich von Bern zum letzten Mal erwähnt. Es heißt lakonisch:

Str. 2377:
Dietrîch und Etzel weinen dô began,
si klagten inneclîche beide mâge unde man
.

Str. 2377:
Dietrich und Etzel weinten.
Sie klagten von Herzen um Verwandte und Freunde.

Bevor ich zur abschließenden Beurteilung von Dietrichs Handlungsweise komme, möchte ich zwei für die Bewertung seines Handelns wichtige Fakten ausführlicher darlegen.
Man muss sich klarmachen, dass der Autor nicht frei über die Handlung entscheiden kann, da er typische Reaktionsweisen seiner Personen, die er im Sagenstoff vorfindet, ebenso berücksichtigen muss wie den Stoffzwang der Überlieferung. So muss die Geschichte so erzählt werden, dass am Ende Kriemhild persönlich Siegfrieds Tod an Hagen rächt. Damit entfällt die Möglichkeit, Dietrichs Verhalten am Schluss des Epos für seine Charakterisierung heranzuziehen.
Ferner müssen bei der Deutung der Personen Reaktionsweisen berücksichtigt werden, die im Sagenstoff vorgeben sind. – Ein sehr gutes Beispiel dafür findet sich auch bei Dietrich, der Mittelpunktfigur eines weit verbreiteten Sagenkreises. Für ihn ist charakteristisch, dass er lange Zeit scheinbar passiv am Geschehen teilnimmt, zaudert, dann aber durch einen äußeren Anlass so in Zorn gerät, dass er unüberwindbare Kampfkraft entwickelt. Das lässt sich gut an seinem Verhalten im „Lied vom Rosengarten zu Worms“, einem volkstümlichen Versepos aus dem 13. Jahrhundert, zeigen. Kriemhild, die Hüterin eines Rosengartens in Worms, der von 12 Helden bewacht wird, darunter auch von Siegfried, lädt Dietrich von Bern mit 11 seiner Recken ein, gegen ihre Helden anzutreten. Er nimmt die Herausforderung an. Als Letzter soll Dietrich gegen Siegfried kämpfen. Er fürchtet sich vor dem Held mit dem Schwert Balmung und dem Schutz durch seine ungewöhnlich starke Brünne und seine Hornhaut. Hildebrand verspottet deshalb Dietrich und schlägt ihm mit der Faust auf den Mund, so dass er zu Boden fällt. Daraufhin schlägt Dietrich Hildebrand mit dem flachen Schwert nieder. Wolfhart hält Dietrich vor, einen Dienstmann zu Boden zu werfen statt gegen Siegfried zu kämpfen, den er nicht besiegen könne. Daraufhin gerät Dietrich so in Kampfeszorn, dass er Siegfried angreift und ihm so lange standhält, bis ihm dieser eine schwere Wunde zufügt. Hildebrand greift zu einer List. Er lässt Wolfhart gegenüber Dietrich vortäuschen, er, Hildebrand, sei an seinen Verletzungen gestorben. Für Dietrich ist Siegfried an Hildebrands Tod schuld, denn dessen Stärke hat ja zur Auseinandersetzung zwischen Dietrich und Hildebrand geführt, in deren Verlauf er – wie er nun glaubt – Hildebrand getötet hat. Das facht Dietrichs Zorn gegen Siegfried noch mehr an, so dass ihm Flammen aus dem Mund schießen. So kann er durch Siegfrieds Harnisch und Hornhaut schlagen, so dass er ihn verwundet und schließlich besiegt. - Als dann Hildebrand nach Dietrichs Sieg über Siegfried vor ihm steht, weicht sein Zorn, und er lässt von dem besiegten Siegfried ab. (15)– Wie im „Rosengarten“ braucht es auch im Nibelungenlied einen äußeren Anlass, der Dietrich zum kraftvollen Helden werden lässt, so bei der Saalschlacht nach dem Mord an Ortlieb. Und am Ende des Epos zögert er mit dem Eingreifen in den Kampf, bis sich die Klage über den Verlust seiner Mannen in Zorn gegen die Verursacher verwandelt, der ihm seine volle Kampfkraft gibt.

Um zu einem angemessenen Urteil Dietrichs zu kommen, muss geklärt werden, inwieweit sich aus dem Text nachweisen lässt, dass er – wie u.a. Nagel an vielen Stellen behauptet - aus christlichen Moralvorstellungen heraus handelt. – Allgemein ist festzustellen, dass die Handlung im Nibelungenlied deutlich vom Ethos des germanischen Kriegeradels geprägt ist, was insbesondere am Verhalten Hagens und auch dem Kriemhilds im 2. Teil deutlich wird. Zwar wird der Nibelungenstoff an die Vorstellungen der Adelswelt in Deutschland um 1200 angepasst, die durch das Christentum stark geprägt ist. Aber die Verchristlichung des Stoffes beschränkt sich weitgehend auf Äußerlichkeiten. So wird ausführlich dargelegt, wie Kriemhild ganz im Sinn von christlichen Trauerritualen um Siegfried trauert, aber dann bis zur bitteren Konsequenz auf ihrer Rache am Mörder besteht. - Hagen rät den Burgunden vor Beginn der Auseinandersetzungen, bei der Messe dem mächtigen Gott ihre Sorge und Notlage zu klagen und nicht zu vergessen, was sie alles getan haben. (Str. 1855/56) Aber vorher hat er den Kaplan in die Donau geworfen, um zu überprüfen, ob die Weissagungen der Nixen stimmen. Nach dem Gottesdienst wird er dem unschuldigen Sohn von Kriemhild und Etzel aus Rache den Kopf abschlagen und bis zum Schluss erbittert kämpfen. Seine letzten Worte, die er an Kriemhild richtet, lauten:„Den schaz den weiz nu niemen wan got unde mîn: / der sol dich, vâlandinne, immer wol verholn sîn.“ („Den Schatz, den weiß jetzt niemand – außer mir und Gott. Der soll dir, du Teufelsweib, für immer verborgen bleiben!“) (Str. 2371)
So ist auch Vorsicht geboten, wenn man wie Bert Nagel in Dietrichs Beschimpfung Kriemhilds als „vâladinne“ („Teuflin“) (Str. 1748) seine Erkenntnis ableitet, der Teufel sei hinter Kriemhilds Racheabsicht am Werk. (Nagel S. 254/55) Es kann auch Dietrichs Ausdruck einer starken Missbilligung ihrer Rachepläne sein. – Sein Ausruf bei der Nachricht von Rüdigers Tod:„Daz ensol nicht wellen got“ („Das darf Gott nicht wollen.“) (Str. 2245) lässt sich als bloße Floskel verstehen, die die Hoffnung ausdrückt, dass es sich um eine Falschmeldung handelt, denn die Formel „das (en)welle got“ („Das wolle Gott [nicht]“) kommt an vielen Stellen im Nibelungenlied vor. - Als Dietrich erfährt, dass alle seine Leute gefallen sind, ruft er aus: „Sô hat mîn got vergessen, ich armer Dietrîch.“ („Dann hat Gott mich armseligen Dietrich vergessen.“) (Str. 2319) Dieser Aufschrei Dietrichs klingt allerdings weniger klischeehaft. – Wenn Dietrich anschließend sein „ungelücke“, seine „unsaelde“ (Str. 2320/21) beklagt, kann es sich, wie bereits dargestellt, um germanischen Schicksalsglauben oder um Wissen um Gottes unerklärlichen Ratschluss handeln.

Ich komme zum Schluss. Man kann Dietrich von Bern nicht uneingeschränkt einen Vertreter einer vom Christentum geprägten ritterlichen Humanität der Stauferzeit nennen. (16) Dafür ist bei ihm der Einfluss des christlichen Ethos der Zeit um 1200 nicht eindeutig genug, und sein Verhalten kann nicht immer als ritterlich bezeichnet werden. Er ist aber auch nicht, wie Blanka Horacek nachzuweisen versucht, das Paradigma selbstsüchtigen Handelns, ein vorsichtig überlegender Taktierer. (17) Dietrich handelt meiner Meinung nach zwar in wohlverstandenem Eigeninteresse, aber nicht selbstsüchtig.
Dass er sich, offensichtlich um Kriemhilds Rache zu verhindern, auf die Seite der Burgunden stellt, obwohl er Etzel und damit auch Kriemhild zu großem Dank verpflichtet ist, ehrt ihn. - Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass die Ereignisse dazu führen, dass er sich am Schluss verpflichtet fühlt, gegen Hagen und Gunther zu kämpfen und nicht die Möglichkeit hat, ihr Leben zu retten.
Der Nibelungenlied-Dichter – so meine ich – entwirft in Dietrich von Bern ein positives Gegenbild zu all denen, die für das Gemetzel am Schluss Verantwortung tragen.



Literaturangaben


(alle Zitate der ab 2006 gültigen amtlichen Regelung der Rechtschreibung und Zeichensetzung angepasst)

Textgrundlage
Grosse, Siegfried: Das Nibelungenlied - Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor, ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert, Stuttgart: Reclam, 2003 (Diese Ausgabe fußt auf der St. Gallener Handschrift B)

Zitierte Literatur
Holz, Georg (Herausgeber): Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms, Niemeyer Halle, 1893 – zitiert nach dem Nachdruck im Verlag Georg Olms, Hildesheim, New York, 1982
Horacek, Blanka: Der Charakter Dietrichs von Bern im Nibelungenlied, in: Birkhan, Helmut (Hrsg.): Festgabe für Otto Höfler zum 75. Geburtstag, Braumüller: Wien, 1976 S. 297 – S. 336
Nagel, Bert: Das Nibelungenlied, Hirschgraben: Frankfurt/Main, 2. Aufl. 1970

Anmerkungen


1: Nagel S. 265
2: Horacek S. 329
3: Horacek S. 307/08
4: Nagel S. 257
5: Horacek S. 309
6: Nagel S. 254/55
7: Horacek S. 311/12
8: Nagel S. 256
9: Horacek S. 314
10: Horacek S. 316
11: Horacek S. 317
12: Grosse S. 928
13: Horacek S. 318
14: Nagel S. 252
15: Holz S. 57-64 - Kapitel XVI, Str. 322-370
16: Nagel S. 265
17: Horacek S. 310