„Die Klage“
als zeitgenössische Deutung
des Nibelungenliedes



von Hans Müller



....
Franz von Stuck, Der Nibelungen Not, um 1920 .

Gliederung

1. „Die Klage“ in mittelalterlichen Handschriften
2. Die Situation an Etzels Hof nach dem Untergang der Burgunder
3. „Die Klage“ als notwendige Ergänzung des Nibelungenliedes
.... 3.1. menschlich-emotionale Verarbeitung der Katastrophe
.... .... .... mit Entheroisierung des heldenhaften Todes
.... 3.2. Zukunftsperspektive für die jüngeren Überlebenden
.... 3.3. „Die Klage“ als Indiz für die Betroffenheit des mittelalterlichen Literaturpublikums
........ .... von der perspektivlosen Katastrophe am Schluss des Nibelungenliedes
4. pragmatische Annahme von der Vermeidbarkeit der Katastrophe
5. Schuldzuweisungen in den Kommentaren des Erzählers und der einzelnen Personen
6. Die Umdeutung des Nibelungenliedes durch das christliche Deutungsmuster der „Klage“
.... Exkurs: „Heiden und Christen“
7. Rückschlüsse auf den Verfasser der „Klage“

 
1. „Die Klage“ in mittelalterlichen Handschriften

Für die Untersuchung des Umgangs mit dem Nibelungenlied nach seiner Wiederentdeckung in der Mitte des 18. Jahrhunderts liegen eine Vielzahl von Zeugnissen vor, Zeugnisse für seine Deutung, seine Umdeutung, seine Fehldeutung und seinen Missbrauch. – Wie Menschen um 1200 nach Abfassung des Nibelungenliedes auf das Epos reagierten, könnten wir nur auf indirektem Weg erahnen, gäbe es nicht ein literarisches Werk, das aus über 4.000 4-hebigen Versen mit Paarreim besteht, dessen äußere Form also nicht der Heldenepik, sondern dem höfischen Roman entspricht wie z. B. dem Parzival. Grob charakterisiert, handelt es sich um eine Fortsetzung des Nibelungenliedes. Dieser Text heißt „Diu klage“ („Die Klage“), weil in 5 der 9 erhaltenen Handschriften in der Überschrift das Wort „klage“ vorkommt. [1] Diese Handschriften folgen auf 9 der 11 mehr oder weniger vollständigen Handschriften des Nibelungenliedes. [2]
Lange Zeit wurde „Die Klage“ am Nibelungenlied gemessen, was zu vernichtenden Urteilen führte wie „redselig“, „höchst ungeschickt in Sprache und Darstellung“, „mechanisch-hölzerner Tonfall“, „überflüssige Fortsetzung des Nibelungenliedes“. [3]
Das mittelalterliche Literaturpublikum kam da offensichtlich zu einem ganz anderen Urteil. Wie würde sich sonst erklären, dass „Die Klage“ nur in 2 von 11 Handschriften des Nibelungenliedes fehlt, die beide aus dem 15. Jahrhundert stammen. [4] In 6 der 9 Handschriften schließt sich „Die Klage“ auf der gleichen Seite an das Nibelungenlied an. [5] Dass es sich dabei nicht unbedingt um Sparsamkeit im Gebrauch von Pergament handeln dürfte, legt die Sammelhandschrift B nahe, in der alle literarischen Texte mit einem neuen Blatt beginnen, nur „Die Klage“ schließt sich auf der gleichen Seite direkt an das Nibelungenlied an. [6] In der Handschrift A beginnt nach den 8 letzten Strophen des Nibelungenliedes sogar „Die Klage“ ohne Leerzeile mit der roten Überschrift „Ditze buoch haeizet div chlage.“ [7]
Im Mittelalter wurde also offensichtlich „Die Klage“ als notwendige Ergänzung zum Nibelungenlied verstanden, als Fortsetzung des Nibelungenliedes, aber auch - wie ich zeigen werde - als seine Deutung. Letzterer Gesichtspunkt, also die zeitgenössische Deutung des Epos durch „Die Klage“ steht im Mittelpunkt meiner Ausführungen.
Ich kann im Rahmen meines Vortrags nicht auf die unterschiedlichen Fassungen des Nibelungenliedes und der „Klage“ eingehen, auch nicht auf die Frage der Beziehungen zwischen den Fassungen des Nibelungenliedes und denen der „Klage“, sondern beschränke mich beim Nibelungenlied auf die mittelhochdeutsche und neuhochdeutsche Ausgabe von Siegfried Grosse, der die Handschrift B zugrunde liegt. Gelegentlich gehe ich kurz auf die Handschrift C in der Ausgabe von Ursula Schulze ein. Für „Die Klage“ benutze ich die mittelhochdeutsche Fassung mit Übertragung ins Neuhochdeutsche von Elisabeth Lienert, deren ausführliche Einführung für meinen Vortrag eine große Hilfe war.
Ich zitiere Nibelungenlied und „Klage“ nach den Strophen- bzw. Versangaben dieser Ausgaben, das Nibelungenlied mit vorausgestelltem „B“ oder „C“.

2. Die Situation an Etzels Hof nach dem Untergang der Burgunder


Da „Die Klage“ ausführlich darstellt, was an Etzels Hof nach dem Untergang der Burgunder geschieht, ist es wichtig, sich klarzumachen, welche Folgen der Kampf gegen die Burgunder für Etzel hat. In besonderer Weise trifft ihn der Tod seiner Frau und der seines Sohnes, seines einzigen Thronfolgers. Aus dem mächtigen König Etzel ist ein schwacher, gebrochener Herrscher ohne nennenswerte Streitmacht geworden. Denn er hat in diesem Kampf seinen Bruder Blödel mit vielen Mannen verloren (32. Aventiure), zahlreiche weitere hunnische Kämpfer, seinen Vasall Rüdiger von Bechelaren mit dessen Gefolge (37. Aventiure), außerdem Irnfried aus Thüringen und Hawart aus Dänemark mit Iring zusammen mit ihren 1.000 Mann (36. Aventiure). Ebenso sind bei den Kämpfen alle Mannen Dietrichs von Bern mit Ausnahme seines Waffenmeisters Hildebrand umgekommen. (38. Aventiure)
So haben von den namentlich erwähnten hochgestellten Personen an Etzels Hof nur Dietrich von Bern mit Herrat, seiner Verlobten, einer Verwandten von Etzels 1. Frau, und sein Waffenmeister Hildebrand überlebt. Dietrich von Bern, als Verbannter an Etzels Hof lebend, fehlt mittlerweile jede Unterstützung durch eigene Gefolgsleute.

3. „Die Klage“ als notwendige Ergänzung des Nibelungenliedes


3.1. menschlich-emotionale Verarbeitung der Katastrophe
... . mit Entheroisierung des heldenhaften Todes


Nach einem kurzen Epilog wird der Handlungsablauf des Nibelungenliedes von der Ermordung Siegfrieds an bis zur Katastrophe am Schluss in wesentlichen Einzelheiten wiedergegeben, meist in Übereinstimmung mit dem Epos. Schon dort wird vom Erzähler die Handlungsweise der Personen, ihre Mitschuld an der Katastrophe erörtert, worauf ich später näher eingehen werde.
Insbesondere auf Veranlassung Dietrichs von Bern werden die prominenten Toten beider Seiten geborgen und aufgebahrt (2179-2181), Kriemhild und ihr Sohn in kostbare Tücher gewickelt (2330) und die Könige in Särge gelegt. (2364/65) Man bestattet sie und die anderen hohen Adligen prunkvoll (2375) und beerdigt anschließend die zahllosen übrigen Toten in einem Massengrab. (2394 ff.)
Der Klage-Dichter schildert sehr drastisch die Bergung der unübersehbaren Zahl der Toten, die in ihrem Blut liegen. Viele makabre Details wirken als Entheroisierung des heldenhaften Kampfes. „Das Blut“, heißt es, „strömte überall durch die Abflusslöcher hinunter.“ (1638/39) Etzel stellt mit Entsetzen fest, dass die Toten da liegen wie Vieh, das die Löwen gerissen haben. (2070/71) Wolfhart, Dietrichs Neffen, muss sein Schwert mit Zangen aus den mittlerweile totenstarren Fingern gebrochen werden.(1681 ff.) Der verwundete Hildebrand bricht beim Bergen des schwer gewordenen Rüdigers in der Tür der Halle zusammen. (2099 ff.) Detailliert wird auch beschrieben, wie man zu Kriemhilds Leiche ihren Kopf, den blutüberströmten Körper ihres Kindes und seinen Kopf legt. (795 ff. + 860/61)
Vorherrschend sind in diesem Teil der „Klage“ viele Textpassagen, in denen Etzel, Dietrich von Bern und Hildebrand, aber auch das einfache Volk die Toten und auch ihr eigenes Schicksal beklagen, jeder auf seine Weise, alle in einer Form, die für uns maßlos erscheint. Junge Damen brechen sich beim Händeringen die Knochen. (660 ff.) Edle Damen zerreißen sich beim Anblick ihrer lieben Toten die kostbaren Kleider, da sie nicht zu ihrer Trauer passen. (2268 ff.) Dietrich von Bern, der ja außer Hildebrand alle seine Mannen verloren hat, wünscht sich den Tod. (1508 ff. + 1975) Etzels „Klageschreie ertönten so kräftig und laut, dass durch seine heftige Klage das Gebäude hätte einstürzen können.“ (1570 ff.) Er setzt sich ins Blut auf der Türschwelle der Halle. (1780 ff.) Auch er wünscht sich den Tod. (1293/94) An mehreren Stellen hat man den Eindruck, dass Etzel in seiner maßlosen Trauer den Verstand verliert.
Während der Klagen werden die Toten in Nachrufen gebührend geehrt, insbesondere Rüdiger von Bechelaren und Kriemhild, aber ebenso die anderen Recken, die auf Etzels Seite gefallen sind. Auch der Gegner, der Burgunder, wird ehrenvoll gedacht. Auf die in diesem Teil der „Klage“ enthaltenen Versuche, Gründe für die Katastrophe und die Verantwortung einzelner Personen an ihr darzustellen, behandele ich ausführlich im weiteren Verlauf meines Vortrags.

3.2. Zukunftsperspektive für die jüngeren Überlebenden

Im letzten Teil der „Klage“ wird erzählt, wie die Nachricht von der Katastrophe nach Bechelaren, Passau und Worms kommt und wie darauf reagiert wird. Der Spielmann Swemmel, der die Burgunder an den Hunnenhof eingeladen hat, und überlebende Knappen Rüdigers bzw. Boten überbringen die Botschaft. Sie führen gleichzeitig die gereinigten Rüstungen der Gefallenen mit. In Bechelaren wollen sie die Trauernachricht verschweigen, aber Rüdigers Frau und Tochter ahnen Schlimmstes. Große Trauer überfällt sie. Die Mutter stirbt später an ihrem Leid. - In Passau bringen sie die Trauernachricht dem Bischof Pilgrim, dem Bruder der Königinmutter, der dem Boten rät, in Worms den Sohn Brünhilds und Gunthers zum König zu krönen. - Dort setzt sich erwartungsgemäß das Trauern und Klagen bei Hochgestellten und einfachem Volk fort. Ute, die Königinmutter stirbt wie Rüdigers Frau vor Kummer. Brünhild ist sehr betroffen. Man befolgt den Rat des Bischofs und krönt Siegfried, den jungen Sohn Gunthers und Brünhilds, zum König. Damit ist der Fortbestand der Dynastie gewährleistet.- Nach der Rückkehr der Boten zu Etzel brechen Dietrich von Bern mit seiner Verlobten Herrat und Hildebrand in seine italienische Heimat auf. Unterwegs besuchen sie Rüdigers Tochter Dietlind, die das Erbe ihres Vaters antreten wird. Dietrich stellt ihr einen neuen Gemahl in Aussicht.
Im letzten Teil der „Klage“ wird berichtet, wie Etzel in geistige Umnachtung fällt. (4183-4203) Am Schluss werden merkwürdige Vermutungen über sein Ende aufgezählt. (4323 ff.)

3.3. „Die Klage“ als Indiz für die Betroffenheit des mittelalterlichen Literaturpublikums von ... . der perspektivlosen Katastrophe am Schluss des Nibelungenliedes

Das Nibelungenlied endet mit dem Untergang der Burgunder und den großen Verlusten auf Seiten Etzels. Das Epos bricht abrupt ab mit der Feststellung: „Ich kann euch nicht berichten, was später noch geschehen ist.“ Und es begnügt sich anschließend mit einem kurzen Hinweis auf Trauer und Klage. (B 2379)
Das Klagen, das Trauern und das kirchliche Totengedenken nach Siegfrieds Tod, Kriemhilds fortgesetztes Trauern um den Toten waren im Nibelungenlied ausführlich dargestellt worden. So kann man sich gut vorstellen, dass das mittelalterliche Publikum das Bedürfnis hatte, ebenso ausführlich oder noch ausführlicher von der Trauerarbeit nach diesem blutigen Ende zu erfahren. Das leistete die „Klage“. Die Betonung der Maßlosigkeit der Klage der Überlebenden und die drastische Darstellung der Opfer der Katastrophe legen Zeugnis ab von der Irritation des mittelalterlichen Literaturpublikums durch den Schluss des Nibelungenliedes.
Und außerdem wollte es offensichtlich auch wissen, wie es nach der Katastrophe weiterging, was der Nibelungenlied-Dichter nicht mehr erzählen wollte. Davon erfuhr es im letzten Teil der „Klage“: von der Aussicht Dietlinds auf einen neuen Gemahl und die Gewissheit der Burgunder auf ein Fortbestehen ihres Königtums, wenn auch sicher nur in bescheidenem Rahmen. So erscheint mir der große Erfolg der „Klage“ als ein Indiz dafür, dass sich das damalige Literaturpublikum mit dem perspektivlosen abrupten Schluss des Nibelungenliedes nicht zufrieden gab und die „Klage“ als erwünschte Fortsetzung empfand.


4. pragmatische Annahme von der Vermeidbarkeit der Katastrophe


Von Anfang an und durchgängig erweckt der Nibelungenlied-Dichter den Eindruck, dass die Handlung schicksalhaft auf die Katastrophe zuläuft. Schon in der 2. Strophe erfahren wir, dass wegen der schönen Kriemhild viele Krieger ihr Leben verlieren mussten. Durch den Hass zweier Könige, so steht es in der 6. Strophe, ging die stattliche Ritterschaft aus Worms „kläglich zugrunde.“ Und der Dichter lässt uns am Ende der 1. Aventiure (B 19) wissen, dass wegen des Todes eines einzigen die Söhne unzähliger Mütter starben. Kriemhilds Befürchtung, dass sich an vielen Frauen bewahrheitet hat, dass Liebe mit Leid belohnt wird, (ebenfalls in der 1. Aventiure, B 17) erweist sich im Nachhinein als Grundstruktur des Weltlaufs, wenn es in der vorletzten Strophe des Liedes heißt:„Leidvoll war das Fest des Königs zu Ende gegangen, wie stets die Liebe schließlich zum Leid führt.“ (B 2378) Es ließen sich noch viele weitere Vorausdeutungen anführen.
Die Unheilsträume Kriemhilds, der Falkentraum in der 1. Aventiure (B 13) und ihre beiden Träume vor Siegfrieds Ermordung (B 921/22 + B 924), ebenso der Unheilstraum der Königinmutter vor Abreise der Burgunder an Etzels Hof (B 1509) bewahrheiten sich. Auf der Reise zu den Burgundern sagen Nixen Hagen den Untergang aller Burgunder voraus mit Ausnahme des Kaplans, der als
einziger lebend nach Worms zurückkehrt. (B 25. Aventiure)
Man wird an den Ausspruch von Piccolomini in Schillers „Wallenstein“ (Piccolomini V,1) erinnert:„Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären.“ Die „böse Tat“ ist Siegfrieds Werbungs- und Brautbetrug mit seiner Standeslüge und der unbedachten Übergabe von Brünhilds Ring und Gürtel an seine Frau, Letzterer für sie ein Symbol für den Verlust der Virginität Brünhilds durch Siegfried. Zur Beurteilung der darauf folgenden verhängnisvollen Reaktionen muss man sich die höfischen Verhaltensnormen und rechtlichen Konventionen um 1200 vor Augen halten. Dazu zählt die hohe Bedeutung der Ehre und ihre Verteidigung, das weithin praktizierte Recht auf Blutrache, ebenso die „triuwe“ (Treue), die jeden sozialen Zusammenhalt zwischen Verwandten, zwischen Lehnsherrn und Lehnsmannen und zwischen Freunden garantierte.
Bei Hagen, später bei allen Kämpfern kommt aus der germanischen Kriegerethik die trotzige Herausforderung des Schicksals bis zur Bewährung im heldischen Tod hinzu.
Der durch das Fehlverhalten Siegfrieds provozierte Rangstreit der Königinnen mit der öffentlichen Entehrung Brünhilds lässt sich durch König Gunther und Siegfried nicht beilegen. So fühlt sich Hagen verpflichtet, Siegfried zu ermorden. Sein Tod kann nicht gerächt werden, da Kriemhilds Brüder, insbesondere Gunther, in den Mord verwickelt sind. Das gilt auch für die Versenkung von Kriemhilds Nibelungenschatz durch Hagen. - Schließlich findet Kriemhild an Etzels Hof die Möglichkeit der Rache. Dass alle Versuche der Deeskalation, der Vermittlung scheitern, liegt vor allem an der dargestellten heroischen Grundhaltung der Burgunder. Und so endet das Fest an Etzels Hof unvermeidbar in deren Untergang.

In der „Klage“ wird dagegen immer wieder die Schicksalhaftigkeit der Katastrophe dementiert. Es fehlen konsequenterweise alle Vorausdeutungen auf sie, so auch die Träume Kriemhilds und der Königinmutter, ebenso die Weissagungen der Nixen. – Verantwortlich für die Katastrophe sind nach der „Klage“ Hauptpersonen aus dem Nibelungenlied mit ihren Schwächen, ihrem Fehlverhalten, ja sogar durch ihre bloße Existenz. Das gilt für Hagen, von dem der Bischof Pilgrim sagt:„Dass seine Mutter ihn je in ihrem Leib getragen hat, das sei Gott geklagt.“ Zur Begründung verweist er auf „lang anhaltendes Leid durch ihn.“ (3420-3426)
Nach Ansicht der „Klage“ wäre es nicht zum Untergang der Burgunder und großer Teile von Etzels Heer gekommen, wenn Folgendes vermieden worden wäre:

  • das Kennenlernen Siegfrieds und Kriemhilds und ihre Ehe (Erzähler 35/36 + 548 ff.) – Hier wie bei dem Wunsch, dass Hagen nie geboren worden wäre, spielt das Schicksal allerdings durch die Hintertür eine Rolle.
  • der törichte Frauenzank, der nicht beigelegt wird (Rumolt 4051-4055), Entschuldigung und Desavouierung zugleich
  • die Ermordung Siegfrieds (Swemmel 3778/79)
  • der Hortraub (Pilgrim 3430 ff.)
  • die Reise der Burgunder ins Hunnenland, von der Rumolt im Nibelungenlied abgeraten hat (Rumolt 4056 ff.)
  • die unterlassene Information Etzels über die wahren Beziehungen zwischen Kriemhild und den Burgundern (Erzähler 282 ff. und Etzel 913 + 944 ff. + 1114 ff. + 1214 ff.+ 1246 ff.) - Etzel hebt in der „Klage“ so oft diese fehlende Kenntnis der wahren Beziehungen zwischen seiner Frau und den Burgundern hervor, um zu zeigen, wie wenig er an der Katastrophe schuld ist, die ja auch ihn besonders hart trifft. - Diese unterlassene Information Etzels wird allerdings auch im Nibelungenlied als vermeidbare Mitursache für die Katastrophe genannt. (B 1865)
  • die Rache Blödels, (Hildebrand 1260 ff.) verursacht durch Kriemhilds Auftrag an ihn, Hagens Bruder Dankwart zu erschlagen (Leute 1302 ff.) - Im Nibelungenlied allerdings bittet Kriemhild Blödel nur, ihr bei ihrer Rache an den Burgundern zu helfen. Daraufhin verspricht er ihr, einen
    Streit vom Zaun zu brechen mit dem Ziel, ihr Hagen gefangen auszuliefern.
    Zu diesem Zweck überfällt er die Knappen, die sich mit Hagens Bruder Dankwart in einer Herberge befinden. Er wird von Letzterem getötet, Dankwart bleibt unverletzt. „Die Klage“ bezieht sich hier also sehr ungenau auf das Nibelungenlied.
  • der gescheiterte Versuch Kriemhilds, Hagen zu isolieren und seine Auslieferung zu erreichen (Erzähler 238-243 und Etzel 1908-1911).- Beide begründen das Scheitern Kriemhilds mit ihren geringen Verstandeskräften, bzw. mit denen aller Frauen, also auch hier Entschuldigung und
    Desavouierung zugleich.
  • Einsatz von Etzels christlichen Kämpfern, die allein in der Lage sind, die Burgunder im Endkampf zu besiegen (Swemmel 3923 ff.)

Das in der „Klage“ verurteilte Fehlverhalten einzelner Personen lässt völlig außer Acht, dass es sich – wie erwähnt - im Nibelungenlied um eine Adelsgesellschaft handelt, die ihr Verhalten an gängigen Verhaltensweisen der Adelskreise um 1200 und am germanischem Kriegerethos orientiert.


5. Schuldzuweisungen in den Kommentaren des Erzählers
... und der einzelnen Personen


Im Gegensatz zur „Klage“ ist das Bild, das der Dichter des Nibelungenliedes von den Hauptpersonen entwirft – aus welchem Gründen auch immer – ambivalent, was mit ein wichtiger Grund für die widersprüchlichen Deutungen des Liedes ist. Diese Ambivalenz im Nibelungenlied möchte ich kurz darstellen, bevor ich auf die davon abweichende Charakterisierung der Personen in der „Klage“ eingehe.
Stereotype Adjektive, die den Personen zugeordnet werden, nur selten bewertende Kommentare zum Geschehen und, wenn sie vorliegen, oft als punktuelle Beurteilungen zu verstehen, führen zu dieser Ambivalenz. So werden z. B. Siegfrieds Werbungsbetrug mit der Standeslüge und sein Brautbetrug so gut wie nicht kritisch gesehen. Dagegen verurteilt der Dichter seine Ermordung durch Hagen an 3 Stellen: so in B 876, mit Nachdruck in B 915, besonders scharf in B 981, wo es heißt:„Eine so folgenschwere Untat wird nie wieder ein Held begehen.“ Bei der ersten Stellungnahme (B 876) wird auch König Gunther der „großen Treulosigkeit“ bezichtigt. Dass Hagen in einen Gewissenskonflikt kommt zwischen der Rettung der Ehre seines Lehnsherrn und dessen Frau einerseits und andererseits der Treue, zu der er gegenüber Siegfried verpflichtet ist, wird nicht thematisiert. – Als Kriemhild den Nibelungenschatz benutzt, um sich Ritter zu verpflichten, die Siegfrieds Ermordung zu rächen bereit wären, raubt Hagen ihr ihn und versenkt ihn im Rhein, was der Dichter nicht kommentiert. Er vermerkt aber, dass Hagen hofft, davon später Nutzen zu haben. (B 1137) – Schon im 1. Teil des Nibelungenliedes erscheint Hagen häufig positiv als weiser, ja hellsichtiger Ratgeber seines Königs. Diese Rolle wird vor allem im 2. Teil deutlich. So rät er Gunther dringend davon ab, der Heirat Kriemhilds mit Etzel zuzustimmen, weil er ihre Rache fürchtet. (B 1203-1206) Noch eindringlicher warnt er davor, der Einladung Etzels zu folgen. Als ihm aber Giselher Feigheit vorwirft, macht er sich zum Anführer eines mächtigen Heeres, mit dem er an Etzels Hof zieht. (B 1458-1464) Der Dichter nennt ihn „den kühnen Ritter, der für die Nibelungen (d. h.: für die Burgunder) Hilfe und Zuversicht verkörperte.“ (B 1526) Trotzig fordert er das Schicksal heraus, bewährt sich als Anführer der Burgunder bei der Konfrontation mit Kriemhild, später auch mit Etzel, kämpft geradezu vorbildlich heldenhaft, bis er erschöpft von Dietrich überwältigt wird. Nach seinem Tod durch Kriemhild beklagt ihn Etzel, dessen Sohn er ja erschlagen hat und dessen Mannen große Verluste durch ihn erlitten haben, mit folgenden Worten:„Wie liegt nun der allerbeste Ritter hier, erschlagen von den Händen einer Frau, der je zum Kampfe angetreten ist oder einen Schild getragen hat. Wenn ich auch sein Feind gewesen bin, so ist mir sein Tod ein großer Schmerz.“ (B 2374) Ein größeres Lob kann kaum ausgesprochen werden.
Kriemhild erscheint in der 2. und 3. Strophe des Nibelungenliedes als unbeschreiblich schöne, liebenswerte Schwester der Burgunderkönige. Man hat den Eindruck, dass sie mit Siegfried eine glückliche Ehe führt, bis sie im verhängnisvollen Königinnenstreit – wohl auch um Siegfrieds Ehre zu verteidigen - Brünhild öffentlich bloßstellt. – Das Leben nach Siegfrieds Tod widmet sie ausschließlich der Trauer und hofft wohl immer, dass seine Ermordung gerächt wird. - Als die Burgunder an Etzels Hof kommen, setzt sie alles daran, für den Mord an Siegfried Rache zu nehmen. Dabei scheut sie nicht davor zurück, ihr Kind, das sie mit Etzel hat, dem Tod preiszugeben, um ihn in die Auseinandersetzung mit hineinzuziehen. Der Dichter verurteilt das eindeutig. „Wie hätte eine Frau aus Rache schrecklicher handeln können?“ (B 1912) Später lässt sie den Saal, in den die kämpfenden Burgunder zurückgetrieben worden sind, anzünden, was der Dichter jedoch nicht kommentiert. Obwohl Dietrich von Bern die von ihm besiegten letzten Burgunder, Gunther und Hagen, mit der Bitte zu Kriemhild bringt, sie zu schonen, lässt sie ihren Bruder enthaupten und schlägt eigenhändig Hagen den Kopf ab, woraufhin Hildebrand sie „in Stücke zerhaut,“ (B 2376/77) was als deutliche Kritik an ihrer letzten Rachehandlung zu verstehen ist.

So ambivalent das Bild von den Hauptpersonen im Nibelungenlied ist, so eindimensional werden sie in der „Klage“ gesehen. Es werden eindeutige Schuldzuweisungen ausgesprochen, aber auch eine ebenso eindeutige Rehabilitierung im Gegensatz zum Epos.
Bevor ich ausführlicher auf die Beurteilung von Hagen und Kriemhild in der „Klage“ eingehe, möchte ich kurz die Schuldzuweisungen gegenüber den anderen Burgundern darstellen. Hauptvorwurf ist die „übermüete“, der Hochmut. Am Tod Siegfrieds ist sein Hochmut schuld. (Erzähler 37-39) Ebenso schreibt der Klage-Dichter diesem Hochmut den Untergang der Burgunder zu, die – wie schon dargestellt - Etzel über ihre Beziehung zu Kriemhild im Unklaren lassen. (Erzähler 2898/99 und Etzel 912) Auch Dietrich (1276) und Bischof Pilgrim (3435) sehen im Hochmut der Burgunder den Grund für ihren Tod. – Eine weitere Ursache für die Katastrophe ist die Habsucht der Könige, die sich das Gold der Nibelungen angeeignet haben, (Pilgrim 3430 ff.) die es nicht mitgebracht haben. (Erzähler 192/93) – Der Erzähler wirft ihnen auch vor, sie hätten nicht zugelassen, dass Hagen Kriemhild ausgeliefert wurde. (268/69) Gunther wird – im Gegensatz zum Nibelungenlied – beschuldigt, er habe dazu geraten, Siegfried zu töten. (Erzähler 494/95) Im Epos dagegen heißt es eindeutig, Gunther sei nur zögernd dem Rat Hagens gefolgt. (B 876)
Schon in der Handschrift C gibt es im Gegensatz zur Handschrift B, die ich bislang meinen Ausführungen zu Grunde gelegt habe, Ansätze zu einer moralisierenden Deutung, wobei Hagen negativer und Kriemhild positiver als in Handschrift B dargestellt wird.
In einer Zusatzstrophe (C 1153) wird vermerkt, Hagen habe den Hort für sich persönlich besitzen wollen. - In beiden Fassungen weigert er sich am Ende des Epos (B 2368 + C 2427), den Ort zu nennen, wo der Hort im Rhein liegt. Er habe geschworen, ihn nicht zu verraten, solange einer seiner Herren lebe. Daraufhin lässt Kriemhild Gunther enthaupten. In einer Zusatzstrophe in C unterstellt der Erzähler Hagen, er habe Gunther vorsätzlich dem Tod preisgegeben, weil er fürchtete, er werde im Gegensatz zu ihm heil nach Worms zurückkehren. Der C-Dichter kommentiert unmissverständlich: „Wie konnte Untreue jemals stärker sein?“ (C 2428)
In der „Klage“ wird Hagen zum Hauptverantwortlichen für die Katastrophe. Nur an einer Stelle (1302–1308) wird die Schuld von Hagen genommen. Wenn Kriemhild Blödel nicht dazu angestiftet hätte, Hagens Bruder zu erschlagen, was sich allerdings nicht mit der Darstellung im Nibelungenlied deckt, hätte Hagen – so merkwürdigerweise der Erzähler – nichts unternommen. - Zwar wird vom Erzähler manchmal Hagens Stärke und Tapferkeit erwähnt, wohl eher stereotyp. (z. B. 1088 + 1090) Bemerkenswert ist jedoch, dass er als einziger nach Bergung der Leiche nicht rühmend beklagt wird, sondern dass die Leute ihn verfluchen. „Heftig wurde er verflucht. Viel von ihrer Freude und auch von ihrem Ansehen hatten sie durch ihn verloren. Aus Zorn redeten die Leute, es sei seine Schuld.“ (1297–1301)
Schuldzuweisungen finden sich über die ganze „Klage“ verteilt. Ich führe sie in der Reihenfolge an, in der sie genannt werden:


  • 228 ff.: Hagen hat in seinem Hochmut so sehr gegen Kriemhilds Gnade gehandelt, dass sie es nicht lassen konnte, ihr Leid zu rächen. (Erzähler)
  • 1252/53: Durch Hagens Schuld konnte man es nicht im Guten beilegen. (Hildebrand)
  • 3417–3426: Pilgrim sieht in der Ermordung Siegfrieds durch Hagen die Ursache für die Katastrophe. Deshalb klagt er vor Gott – wie schon dargestellt – dass Hagen überhaupt geboren worden sei.
  • 3504–3526: Als der Markgraf Else vom Tod Hagens erfährt, der beim Zug ins Hunnenland den Tod seines Bruders verschuldet hat, drückt er seine Genugtuung darüber aus, dass durch Hagens schreckliches Ende der Tod seines Bruders gerächt worden sei. Einige aus seinem Gefolge sagen:„Gott im Himmel sei dafür gepriesen, dass Hagen aufgehört hat zu wüten. Der konnte nie satt werden vom Kampf. Er ist nun an einen Ort gekommen, wo seine Hoffahrt uns
    nun keinen Schaden zufügen wird.“ (3521–3526)
  • 3778/79: Alle sind tot, weil Siegfried erschlagen wurde. (Swemmel)
  • 4030–4045: Rumolt nennt als Ursache für die Katastrophe Hagens Hochmut, seine Treulosigkeit gegenüber Kriemhild bei der Ermordung Siegfrieds und dem Hortraub, seine zahlreichen grundlosen Beleidigungen, die er ihr zugefügt hat.Wenn man auch noch berücksichtigt, dass in der „Klage“ Hagen zweimal als Teufel bezeichnet wird, worauf ich später näher eingehen werde, ist klar, dass die „Klage“ Hagen zum Übeltäter schlechthin macht.


Wie schon angedeutet, wird Kriemhild in der Handschrift C im Gegensatz zu Hagen positiver als in der Handschrift B dargestellt. In 8 Zusatzstrophen (C 1158-1165) wird erzählt, dass Kriemhilds Mutter in Lorsch eine reiche Abtei gründete, für die Kriemhild zu Siegfrieds Seelenheil eine große Stiftung machte. Sie wollte von Worms zu ihrer Mutter ziehen. Daher ließ sie Siegfried dorthin umbetten. Kriemhild zog jedoch nicht, wie beabsichtigt, nach Lorsch, da sie Etzels Heiratsantrag annahm. Diese Zusatzstrophen unterstreichen deutlich, wie groß Kriemhilds Trauer war, und lässt ihr weiteres Streben nach Rache für seine Ermordung verständlicher erscheinen. - Der schwere Vorwurf in Handschrift B (1912), Kriemhild opfere bewusst ihr Kind, das sie mit Etzel hat, um ihn in die Auseinandersetzung mit hineinzuziehen, fehlt in Handschrift C. Viel häufiger als in B betont der Verfasser von C, Kriemhild habe sich nur an Hagen rächen wollen: in einem Monolog (C 1757) und bei ihrem Kampfauftrag an Etzels Mannen, die sie beschwört, nur Hagen Leid zuzufügen (C 1882). Schließlich bittet sie Dietrich von Bern und Hildebrand, ausschließlich gegen Hagen vorzugehen, die jedoch jede Feindseligkeit gegenüber den Burgundern ablehnen. (C 1947) In der Zusatzstrophe C 2143 unterstreicht der Erzähler, es tue Kriemhild leid, dass ihre Rache an Hagen so vielen Menschen das Leben koste. Das habe der böse Teufel bewirkt.
Noch viel positiver erscheint Kriemhild in der „Klage“. Offen bleibt, wie in Handschrift C, ob sie bewusst ihren Sohn geopfert hat, um Etzel in ihre Rachepläne einzubeziehen. (500/01) Der von Kriemhild angeordnete Saalbrand wird nicht erwähnt. Zwar tadeln sie die Leute, wie schon dargestellt, dass sie Blödel angestiftet habe, Hagens Bruder zu töten (1302 ff.), und der Erzähler vermerkt, dass sie „aus kluger List“ Etzel gegenüber ihre wahren Absichten verschwiegen hat. (290 ff.) Aber an einigen Stelle wird ihr Fehlverhalten zwar nicht geleugnet, aber es werden mildernde Umstände angeführt, sie wird geradezu exkulpiert. Ich erinnere an das, was ich über die Annahme der Vermeidbarkeit der Katastrophe ausgeführt habe. Rumolt schreibt die Eskalation des Königinnenstreits der Torheit der beiden Frauen zu. (4051-4055) Ebenfalls mit dem Hinweis auf die Beschränktheit Kriemhilds entschuldigen der Erzähler und Etzel (238 - 243 + 1908 - 1911) ihren misslungenen Versuch, Hagen zu isolieren und seine Auslieferung zu erreichen.
Zentral für die positive Beurteilung Kriemhilds ist ihre Rache als Beweis ihrer unverbrüchlichen Treue zu Siegfried – trotz ihrer Heirat Etzels. An keiner Stelle in der „Klage“ wird übrigens Blutrache für einen Mord geächtet, überall als selbstverständlich angesehen. Auch die Christen an Etzels Hof wie Irnfried aus Thüringen und Hawart aus Dänemark mit Iring und ihren Gefolgsleuten sind bereit, für Kriemhilds Leid Rache zu nehmen. (Erzähler 390 ff.) Selbst Dietrich würde gerne den Tod Wolfharts, seines Lehnsmanns, rächen. (1734 - 1736) Sogar der Bischof Pilgrim ist er Meinung, Kriemhild wäre nicht zu tadeln, wenn nur Hagen ihrer Rache zum Opfer gefallen wäre. (3414-3417) Kritisiert wird nur der Tod so vieler Menschen, insbesondere der ihrer Brüder, als ungewollte Folge ihrer beabsichtigten Rache an Hagen (Pilgrim 3406-3419) und dass „der Hass einer Frau“ (Erzähler 317-319) Ursache der Katastrophe ist.
Hervorgehoben wird vom Erzähler in geradezu überschwänglichen Worten ihre Treue zu Siegfried. „Treue ist dazu gut: Sie verleiht dem Mann Wert und auch schönen Frauen Ansehen, so dass ihre Gesittung und Gesinnung sie niemals schändlich handeln lassen: So geschah es mit Frau Kriemhild, der niemals irgendein Mensch mit Grund Schlechtes nachsagte. Jeder, der diese Geschichte zu beurteilen versteht, erklärt sie für vollkommen unschuldig; vielmehr vollzog die edelste angesehene Frau aus Treue ihre Rache in großem Schmerz.“ (Erzähler 146-158)
Mehr noch, der Erzähler vertritt vehement die Ansicht, Kriemhild sei trotz des unsagbaren Leides, das sie so vielen zugefügt habe, im Himmel. (552-573) Auf diese Stelle gehe ich im letzten Teil meines Vortrags näher ein. Auffallend ist, dass in der „Klage“ die Treue eingeschränkt ist auf die Gattentreue, auf die Treue Kriemhilds zu Siegfried. Andere Treuebindungen, die im Nibelungenlied eine wichtige Rolle spielen, werden völlig ausgeblendet. Ich erinnere nur an die Stelle im Nibelungenlied, wo Kriemhild von ihren Brüdern die Auslieferung Hagens verlangt. Gernot erklärt:„Wenn wir tausend aus der Familie deiner Verwandten wären, so würden wir eher sterben als hier einen Mann als Geisel zu übergeben.“ Und Giselher fügt hinzu:„Ich verliere niemals einen Freund durch einen Treuebruch.“ (B 2105/06)
Zur positiven Darstellung Kriemhilds passt auch, dass Hildebrand sie zwar wie im Nibelungenlied tötet, weil sie den wehrlosen Hagen totgeschlagen hat, aber er „haut sie“ nicht wie im Epos „in Stücke“ (B 2375–2377), sondern enthauptet sie und beklagt später ihren Tod. (Erzähler 795-799) Swemmel verschweigt sogar vor dem Wormser Hof, dass Kriemhild Hagen eigenhändig getötet hat. Er berichtet, sie habe Gunther und Hagen töten lassen. (3938/39)
So wird Kriemhild in der „Klage“ im Vergleich zum Epos deutlich aufgewertet.


6. Die Umdeutung des Nibelungenliedes
... durch das christliche Deutungsmuster der „Klage“


Die Neigung des Klage-Dichters zu monokausaler, polarisierender Sicht der Personen lässt sich als Deutung aus christlicher Perspektive verstehen.
Im Nibelungenlied finden sich zahlreiche christliche Elemente, z. B. die Erwähnung von kirchlichen Feiertagen, von Geistlichen, Kriemhilds betont christlich geprägter Totenkult. Auch in der „Klage“ werden die Trauerriten für die gefallenen Christen dargestellt, durch Priester an Etzels Hof (2344 ff.), ebenso in Passau durch Priester und Mönche auf Anordnung des Bischofs Pilgrim. (3378 ff.) - Die Bitte vieler Burgunder im Nibelungenlied, Gott möge jemanden für eine besondere Tat belohnen, bezeugt ihre Vorstellung, dass Gott die Geschicke der Menschen lenkt. So auch in der „Klage“, wenn Dietrich beklagt, dass Gott ihn „schlimm beschenkt“ hat, da er Wolfhart verloren hat (1723/24) und Hildebrand Gott dankt, dass Volker tot ist. (1367 ff.)
Darüber hinaus deutet die „Klage“ im Gegensatz zum Nibelungenlied den Untergang der Burgunder als Strafe Gottes für ihre Sünden, ein eindeutig christliches Deutungsmuster. So werden die Verfehlungen der Burgunder vom Erzähler als „alte Sünde“ (196) und „alte Schuld“ (227) bezeichnet. Hildebrand kommentiert ihren Untergang mit folgenden Worten:„Ich kann es mir nicht anders erklären, als dass die auserlesenen Helden sich nun schon seit langem verdientermaßen Gottes schrecklichen Zorn zugezogen haben. […] Da mussten sie wegen ihrer Hoffahrt den Schlag Gottes erleiden.“ (1270–1273 + 1276/77)
Im mittelhochdeutschen Text steht „übermuot“, ein Begriff, der in dieser Zeit auch eine positive Bedeutung haben konnte, im Kontext der „Klage“ aber immer „Hoffahrt“, „Hochmut“ bedeutet, lateinisch „superbia“, eine der 7 Hauptsünden der mittelalterlichen christlichen Morallehre. Dieser Hochmut wird – wie schon dargelegt - den Burgundern noch an vielen anderen Stellen vorgeworfen: vom Erzähler (289), von Etzel (913) und von Pilgrim (3435) - Eine weitere Hauptsünde, die „avaritia“, der Neid, der Geiz, die Gier nach Besitztümern wird ebenfalls als Verfehlung der Burgunder mehrmals genannt: vom Erzähler (196 + 227) und von Pilgrim, (3430/31) wie schon ausgeführt.
Symptomatisch für die veränderte Beurteilung Kriemhilds und Hagens im Vergleich zum Nibelungenlied ist die Tatsache, dass im Nibelungenlied Kriemhild zweimal, von Dietrich (B 1748) und von Hagen (B 2371), „vâlandinne“ (Teuflin) genannt wird, während in der „Klage“ stattdessen Hagen als „vâlant“ (Teufel) bezeichnet wird, nämlich von Hildebrand (1250-1253), obwohl er Kriemhild aus Zorn, dass sie diesen Hagen erschlagen hat, enthauptet.
Der Klage-Dichter verstrickt sich allerdings gelegentlich in Widersprüche oder zieht bei seinem Bemühen, den Tod der Helden durch Gottes Strafgericht zu erklären, nicht nachvollziehbare Gründe für schuldhaftes Verhalten heran, worauf ich aber in der Kürze der Zeit nicht eingehen kann. Hildebrand gibt an einer Stelle gar dem Teufel die Schuld am Untergang. (1314/15)
Etzel als gebrochener Herrscher ohne nennenswerte Streitmacht verzweifelt an seiner Situation. Er selbst deutet sein bitteres Schicksal als Strafe Gottes. („Gottes Schlag“ 954). Wie in der C-Handschrift des Nibelungenliedes (C 1284) war auch der Etzel der „Klage“ für einige Zeit Christ, dann aber wieder Heide geworden. Für diesen Abfall vom Christentum, im Mittelalter eine besonders schwere Sünde, hat ihn Gott nach seiner Meinung schwer gestraft. Er vermag nicht auf Gottes Gnade zu hoffen, die ihm eine erneute Bekehrung zum Christentum ermöglichen könnte. So kommt zum Abfall vom Christentum die schwere Sünde des Zweifels an Gottes Güte. (976–984 + 990–995) Er wünscht sich den Tod (1006/07) und endet in geistiger Umnachtung.
An keiner Stelle in der „Klage“ wird allerdings von einer Person ausgesagt, sie sei in die Hölle gekommen, auch nicht von Etzel oder Hagen. Dagegen betont der Erzähler, wie schon erwähnt:„Weil sie [= Kriemhild] wegen ihrer Treue starb, wird sie noch lange Zeit in Gottes Gnade im Himmel leben.“ (571–573)
Wenn der Klage-Dichter den Tod so vieler Menschen als Gottes Strafgericht deutet, so liegt es nahe, auch wenn es der Dichter nicht ausdrücklich vermerkt, das glückliche Ende mit dem Fortbestehen der burgundischen Dynastie im Gegenbild dazu als Gottes segensreiches Wirken im Fortgang der Geschichte zu verstehen.

Exkurs: „Heiden und Christen“
In der „Klage“ wie im Nibelungenlied ist oft formelhaft von „Heiden und Christen“ die Rede, wodurch auch in der „Klage“ das Gemeinsame statt des Trennenden betont wird. An keiner Stelle bewertet der Klage-Dichter auch hier negativ, dass viele Christen Etzel dienen, ja sogar nur sie den endgültigen Sieg über die Burgunder ermöglichen. (Swemmel 3923 ff.) „Heiden und Christen“ sind Helden und Opfer von Kriemhilds Rache. (Erzähler 270 ff. + 553 ff.) Etzel beklagt den Tod von „Heiden und Christen“. (848) „Heiden und Christen“ nehmen Abschied von den Toten. (Erzähler 2425/26) Auch die Heiden beklagen den Tod der christlichen Knappen. (Erzähler 186 ff.) Der Erzähler betont ausdrücklich, dass man auch mit den gefallenen Heiden Erbarmen haben muss. (874/75) Zwar werden für die Bestattung Heiden und Christen getrennt, aber der Erzähler weist nicht nur ausdrücklich auf die christlichen Trauerriten für die Christen durch Priester hin, sondern erwähnt, dass auch die Heiden den ihnen gemäßen religiösen Beistand erhalten. Wenn es heißt, dass die Priester Gott und den heiligen Michael um Gnade „für ihrer aller Sünden“ baten, kann das möglicherweise heißen, dass auch die Heiden in ihr Gebet eingeschlossen wurden. (Erzähler 2344–2360)
Die Deutung aus christlicher Perspektive bedeutet also nicht Abwertung, Intoleranz gegenüber den Heiden, wie wir sie in Zeiten der Kreuzzüge vermuten, sondern die „Klage“ – das sei ausdrücklich von mir betont – legt ähnlich wie Wolframs „Parzival“ und mehr noch sein „Willehalm“ Zeugnis ab von einer humanen Sicht auf die Heiden, wie wir sie ansatzweise auch schon im Nibelungenlied finden.


7. Rückschlüsse auf den Verfasser der „Klage“



Das Nibelungenlied warf schon zu seiner Zeit offensichtlich Fragen auf, seine Personen wurden sicher auch schon damals kontrovers gedeutet. - Nach Ehrismann in seiner Nibelungenliedbiographie verschärfte sich das negative Kriemhild-Bild. So wird im „Rosengartenlied“ ihre „übermüete“ (Hoffahrt) be¬sonders deutlich. Unter der Redewendung „auf Kriemhilds hôchgezît (Fest) einladen“ verstand man „eine hinterlistige Tat ausführen.“ In einem Lübecker Fastnachtsspiel wurde Kriemhild in die Hölle verbannt, und die große Kanone von Nürnberg von 1388 wurde „Kriemhild“ getauft. Dagegen erklärte in der Mitte des 13. Jahrhunderts der berühmte Prediger Berthold von Regensburg in einer lateinischen Predigt:„Man sagt, Kriemhild sei total böse gewesen, aber das stimmt nicht.“ Er reflektiert – so Ehrismann – einen allgemeinen Trend in der Beurteilung Kriemhilds durch die lateinisch Gebildeten, also die Kleriker. [8]
Mit Ursula Schulze in ihrer Monographie über das Nibelungenlied [9] bin ich der Meinung, dass die „Klage“ wohl das Werk eines Klerikers ist, der die diskutierten Antworten auf das Epos in einer kommentierenden Dichtung ausformulierte, wobei er – möchte ich hinzufügen – ganz im Sinne des Predigers aus der Mitte des 13. Jahrhunderts Kriemhild deutlich aufwertete.
Der Titel meines Vortrags lautete: „Die Klage“ als zeitgenössische Deutung des Nibelungenliedes.“ – Wie ich glaube gezeigt zu haben, handelt es sich bei der „Klage“ um eine solche Deutung, man könnte auch sagen um eine Umdeutung aus christlicher Sicht.




Literaturangaben


(alle Zitate der ab 2006 gültigen amtlichen Regelung der Rechtschreibung und Zeichensetzung angepasst)

Textgrundlage
Grosse, Siegfried: Das Nibelungenlied - Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor, ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert, Stuttgart: Reclam, 2003 – Diese Ausgabe fußt auf der St. Gallener Handschrift B.
Schulze, Ursula: Das Nibelungenlied nach der Handschrift C, Stuttgart 1997
Lienert, Elisabeth: Die Nibelungenklage – Einführung, mittelhochdeutscher Text (nach der Ausgabe von Karl Bartsch, die auf der HS B fußt), neuhochdeutsche Übersetzung und Kommentar, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh, 2000
Ich zitiere nach der Strophennummerierung der angegebenen Nibelungenlied-Ausgaben und der Zeilennummerierung der angegebenen Klage-Ausgabe.

Anmerkungen


1. siehe: Joachim Bumke, Die vier Fassungen der „Nibelungenklage“, Berlin,
... New York: Walter de Gruyter, 1996 S. 145, S. 164, S. 180, S. 185, S. 189
2. siehe: Elisabeth Lienert (wie Lienert, Textgrundlage), S. 12/13
3. zitiert nach Joachim Bumke (wie Fußnote 1), S. 105
4. siehe: Elisabeth Lienert (wie Lienert, Textgrundlage),S. 12
5. siehe: Joachim Bumke (wie Fußnote 1), S. 145, S. 157, S. 164, S. 170,
S. 175, S. 180
6. siehe: Joachim Bumke (wie Fußnote 1), S. 157
7. siehe: Joachim Bumke (wie Fußnote 1), S. 145
8. siehe: Otfried Ehrismann, Das Nibelungenlied: Epoche – Werk – Wirkung
2., neu bearbeitete Auflage, München: Beck, 2002 S. 168
9. siehe: Ursula Schulze, Das Nibelungenlied, Stuttgart: Reclam, 1997 S.274