Rüdiger
und Dietrich
im Nibelungenlied
und bei Hebbel


Ein Vortrag von Hans Müller

.....

Dietrich von Bern fesselt Hagen ..
Karl Schmoll von Eisenwerth, 1911/12
..


Gliederung:

....

1.

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Einleitung

2.

Hauptteil

2.1

Rüdiger von Bechelaren

2.1.1

im Nibelungenlied

2.1.2

in Hebbels „Die Nibelungen“

2.2

Dietrich von Bern

2.2.1

im Nibelungenlied

2.2.2

in Hebbels „Die Nibelungen“

3.

Zusammenfassung




1. Einleitung

Im Nibelungenepos aus der Zeit um 1200 und seiner dramatischen Ausgestaltung durch Hebbel sind die Protagonisten ohne Zweifel Siegfried und Kriemhild, Gunther und Brünhild - und Hagen. Es geht um große Liebe, unerhörten Betrug, Neid, Mord, und am Ende steht eine Eskalation der Gewalt, die in einer blutigen Orgie endet, die nur Etzel und Dietrich von Bern mit seinem Waffenmeister Hildebrand überleben.
Bei dem dominierenden Eindruck der Entfesselung von Gewalt insbesondere im letzten Teil der Geschichte verliert man leicht aus den Augen, dass es bis zum Schluss immer wieder Versuche gibt, die Eskalation der bewaffneten Auseinandersetzung zu verhindern. Neben dem Hunnenkönig Etzel sind es insbesondere Rüdiger von Bechelaren und Dietrich von Bern, die eine De-Eskalation der Gewalt auch unter großem persönlichem Einsatz in die Wege zu leiten versuchen. In meinem Vortrag stelle ich vergleichend dar, wie diese beiden Personen im Nibelungenlied und in Hebbels Nibelungentrilogie charakterisiert werden.
Für die Interpretation des Nibelungenliedes möchte ich 2 Bemerkungen vorausschicken:

1. Mir ist bewusst, dass das Nibelungenepos nicht wie ein psychologischer Roman des 19. Jahrhunderts interpretiert werden kann und dass es nach der Meinung der meisten Interpreten problematisch ist, von den Handlungen auf den Charakter der Personen zu schließen, da ihr Agieren eher durch Motivformeln der Heldendichtung und den durch eine konkrete Heldendichtung vorgebenen Ausgang bestimmt ist. – Aber es gibt bei der Darstellung des Handelns von Dietrich von Bern und Rüdiger von Bechelaren durchaus intuitive Ansätze zur psychologischen Motivierung und bei der Ausgestaltung der Konfliktsituation, in die Rüdiger von Bechelaren gerät, ein außerordentlich großes Gespür für Innnerseelisches. Durch diese Art der Personendarstellungen fühle ich mich in meiner Vorgehensweise bei der Personencharakteristik im Nibelungenlied ermutigt.

2. Es gibt das Nibelungenlied bekanntlich nur in z.T. stark abweichenden Handschriften, wobei großer Konsens besteht, dass die Handschriften B und C für die Interpretation von besonderer Bedeutung sind. Da es für mein Thema zwischen den Handschriften B und C keine nennenswerten Unterschiede gibt, habe ich mich aus praktischen Gründen für die Handschrift B entschieden. Ich zitiere nach der Fassung B, wie sie seit einigen Jahren bei Reclam vorliegt: im mittelhochdeutschen Text und einer Übertragung ins Neuhochdeutsche durch Siegfried Grosse.

2. Hauptteil

2.1 Rüdiger von Bechelaren

2.1.1. Rüdiger von Bechelaren im Nibelungenlied

Der Markgraf Rüdiger von Bechelaren gehört zu den Germanen, die in Etzels Lehnsdienst stehen. Er ist ein mächtiger Vasall, der über 500 Gefolgsleute verfügt. (1266) Zum erstem Mal tritt er in Erscheinung, als man Etzel nach dem Tod seiner Frau rät, die Witwe Kriemhild zu heiraten. Rüdiger von Bechelaren wird im Kreis der Vertrauten Etzels – von ihm ausdrücklich als Freund angeredet (1149) – um seine Meinung gefragt, da er «Land und Leute am Rhein seit seiner Kindheit kennt» (1147 ff.). Rüdiger von Bechelaren lobt die Burgundenkönige als edle Ritter und nennt Kriemhild die schönste aller Frauen nach der verstorbenen Frau Etzels.
So ist es naheliegend, dass Etzel den Markgrafen an der Spitze einer Schar prächtig ausgestatteter Ritter als Werber an den Burgundenhof schickt. Dort kennt ihn Hagen offensichtlich von früheren Begegnungen. Mit seinem Gefolge wird Rüdiger herzlich empfangen. 13 Jahre nach Siegfrieds Tod lehnt Kriemhild zunächst die Heirat mit Etzel aus Treue zu Siegfried energisch ab. Erst als Rüdiger zum 2. Mal von ihr empfangen wird - diesmal unter 4 Augen – und ihr versichert, er wolle sie für erlittenes Unrecht entschädigen («er wolde si ergetzen, swaz ir ie geschach» 1255), da beginnt sie ihren Widerstand gegen diese Heirat langsam aufzugeben. Kriemhild verlangt von ihm:
«.....:„sô swert mir eide swaz mir iemen getuot,
daz ir sît der naehste, der büeze mîniu leit.“» (1257)
«„So schwört mir, dass Ihr der erste sein werdet, mein Leid zu rächen, was
auch immer mir jemand zufügt.“»
Rüdiger von Bechelaren ist dazu bereit und bekräftigt ihr seinen Beistand in aller Öffentlichkeit zusammen mit allen Gefolgsleuten mit dem Schwur
«mit triuwen immer dienen» (1258)
«ihr immer treu zu dienen.» Das besiegelt er mit Handschlag.
Kriemhild gibt sich mit dem von Rüdiger geleisteten Eid zufrieden.

Die Widersprüche zwischen dem versprochenen, dem von Kriemhild geforderten und dem öffentlich geleisteten Eid können wohl nicht so verstanden werden, dass ihr der Markgraf heimlich die Rache am Mörder Siegfrieds schwört, aber in der Öffentlichkeit einen Eid vagen IInhalts leistet, der die Burgunden nicht misstrauisch macht. Richtig ist wohl, dass Kriemhild dem Markgrafen sozusagen eine Falle stellt und er arglos den Eid schwört. Später wird Kriemhild Rüdiger von Bechelaren an diesen Eid erinnern, und der Markgraf wird sich verpflichtet fühlen, gegen die Burgunden zu kämpfen.

In prächtigem Zug fährt Kriemhild mit Rüdiger und seinem Gefolge Etzel entgegen. Der Markgraf bereitet Kriemhild ein würdiges Treffen mit ihm in Tulln an der Donau (westl. von Wien) vor, sorgt aber als ihr Vormund dafür, dass es nicht zwischen Etzel und Kriemhild zu heimlichen Vertraulichkeiten kommen kann. (1358) Bei der Hochzeit in Wien wird Rüdigers Freigebigkeit hervorgehoben.

13 Jahre später reisen Boten nach Worms, um die Burgunden zu einem Fest einzuladen. Sie reiten in Bechelaren vorbei. Der Markgraf, seine Frau Gotelind und ihre Tochter geben den Boten herzliche Grüße an die Burgunden mit auf den Weg, Rüdiger von Bechelaren trägt ihnen auf, den Burgundenkönigen zu versichern, dass kein Markgraf ihnen so zugetan sei wie er. (24. Aventiure)
Die Burgunden nehmen trotz Hagens Warnung die Einladung an und kehren auf ihrem Weg zu Etzel bei Rüdiger ein. Im Verlauf eines prächtigen Festes schlägt Hagen – sicher mit klaren Hintergedanken – eine eheliche Verbindung zwischen dem jüngsten Königssohn Giselher und Rüdigers Tochter vor. Alle willigen ein und die Ehe wird geschlossen und gefeiert. Als Morgengabe weisen die Burgundenkönige dem Mädchen Burgen und Länder zu. Da Rüdiger kein Gegengeschenk dieser Art machen kann, verspricht er ihnen, was - zusätzlich zu seiner Vasallität gegenüber Etzel - in die Nähe einer Vasallität gegenüber den Burgundenkönigen führt:
«„Sô soll ich iu mit triuwen immer wesen holt.“» (1682)
«„So werde ich Euch immer treu verbunden sein.“»
Die Ehe ist zwar geschlossen, aber ihr Vollzug auf die Rückkehr vom Etzelhof verschoben. - Nach drei Tagen brechen die Burgunden dorthin auf. Der Markgraf hat ihnen reiche Geschenke gemacht und gibt ihnen mit seinen 500 Mann sicheres Geleit.

Am Hunnenhof nimmt er bewusst mit seinen Mannen an einem Turnier zwischen den Burgunden und den Gefolgsleuten Etzels nicht teil, da er wegen der aufgeheizten Stimmung Schlimmes befürchtet. (31. Aventiure)
Beim Tumult im Festsaal nach der Ermordung von Etzels und Kriemhilds Sohn durch Hagen bittet er um freien Abzug mit seinen 500 Mann mit dem Versprechen:
«„sô sol ouch vride staete guoten vriunden gezemen.“» (1996)
«„Es soll ein fester Frieden unter guten Freunden gehalten werden.»
Daraufhin gewährt ihm und seinen Mannen sein Schwiegersohn Giselher den freien Abzug.
Der Kampf zwischen den Burgunden und den Mannen Etzels eskaliert zu immer größerer Brutalität mit großen Verlusten auf beiden Seiten. Nicht einmal der Saalbrand, von Kriemhild angeordnet, kann die Burgunden zur Kapitulation zwingen.

Rüdiger von Bechelaren steht zwischen den Fronten:
Der vasallitische Vertrag bindet ihn an Etzel. Es ist seine älteste Bindung, die von ihm als Vasall moralisch nicht aufkündbar ist, wenn der Lehnsherr Hilfe braucht. Kriemhild gegenüber verpflichtet ihn der in Worms geleistete Eid, ihre Leiden zu rächen. – Mit den Burgunden ist er nicht nur durch Freundschaft verbunden, sondern auch als ihr Gastgeber, der ihnen zusätzlich Gastgeschenke gemacht und sicheres Geleit gewährt hat, und vor allem durch die Verheiratung seiner Tochter mit dem Königssohn Giselher. Dabei hat er den Burgunden versprochen, ihnen immer treu verbunden zu sein.
Außerdem hat ihm und seinen Mannen Giselher bei dem ausbrechenden Kampf nach der Ermordung von Etzels und Kriemhilds Sohn freien Abzug gewährt.
Es mag für diese tragische Situation im 13. Jahrhundert eine juristische Lösung gegeben haben, aber die Situation war menschlich gesehen ausweglos.
Wie verhält sich Rüdiger von Bechelaren in dieser Situation?

Gegen Morgen kommt er an den Hof Etzels, sieht auf beiden Seiten das bittere Leid. Er will gerne den Frieden vermitteln, aber er weiß, bestärkt von Dietrich von Bern, dass Etzel dazu nicht mehr bereit ist, da sein Leid immer größer wird.
Der Markgraf weint in seiner Rat- und Hilflosigkeit. Ein Hunne wirft ihm indirekt Untreue und Undank gegenüber Etzel vor. In einem affektiven Kurzschlussakt schlägt er ihn mit der Faust tot. (2142)


Marktgraf Rüdiger - Rosengarten zu Worms, 15. Jh.

.....


Rüdiger verteidigt sich in dieser Erregung mit dem Argument, er würde Etzel beistehen, wenn er den Burgunden nicht das Geleit gegeben hätte. (2144) Kriemhild geht auf die Geleitfrage nicht ein. Weinend erinnert sie ihn an die Gefolgschaftstreue ihr und Etzel gegenüber, außerdem in vager Formulierung an den Eid, den er ihr in Worms geleistet hat. Der Markgraf antwortet:

«„Daz ist âne lougen: ich swuor iu, edel wîp,
daz ich durch iuch wâgte êre und ouch den lîp.
daz ich die sêle vliese, des enhân ich niht gesworn.
zuo dirre hôhgezîte brâht’ ich die fürsten wol geborn.“» (2150)

«„Das stimmt, ich habe Euch, edle Frau , geschworen, um Euretwillen
Ehre und Leben aufs Spiel zu setzen. Aber ich habe nicht geschworen,
die Seele zu verlieren. Ich habe die hochgeborenen Fürsten zu diesem
Fest hergeführt.“»

Rüdiger betont also nochmals die Geleit-Verpflichtung. Sie zu brechen bedeutet für ihn die Verwirkung des Seelenheils. Hier argumentiert er also als Christ, dem das Seelenheil sein höchstes Gut ist, das er eindeutig über die Ehre stellt.
Kriemhild geht nicht auf Rüdigers Klage ein, sondern erinnert ihn nochmals flehend an den ihr geleisteten Eid.
Und dann tun der Lehnsherr Etzel und seine Frau etwas, was um 1200 unerhört war. Sie knien beide vor ihrem Lehnsmann nieder, um ihrer flehenden Bitte Nachdruck zu verleihen. Der Markgraf gibt seiner Ausweglosigkeit in einer erschütternden Klage beredten Ausdruck:
«„Owê mir gotes armen, daz ich dize gelebet hân.
aller mîner êren der muoz ich abe stân,
triuwen unde zühte, der got an mir gebôt,
owê got von himele , daz michs niht wendet der tôt!
Swelhez ich nu lâze unt daz ander begân,
sô hân ich boeslîche unde vil übele getân.
lâze aber ich si beide, mich schiltet elliu diet.
nu ruoche mich bewîsen der mir ze lebene geriet.»“ (2153-54)

«„Weh über mich gottverlassenen Mann (Nach meiner Meinung ist die Übersetzung von «gotes armen» mit «armselig» viel zu schwach.), dass ich dies erleben muss. Mein ganzes Ansehen werde ich verlieren, die Treue und die höfische Erziehung, die Gott mir hat zuteil werden
lassen. Ach, Gott im Himmel, weshalb kann der Tod mir diese Schande nicht ersparen?
Wenn ich nun das eine unterlasse und mich für das andere entscheide, so habe ich immer ehrlos und schlecht gehandelt; wenn ich aber
beides nicht tue, dann wird mich jeder beschimpfen. Nun möge mich derjenige leiten, der mir das Leben geschenkt hat.“»

Er empfindet sich also von Gott verlassen, nicht mehr in der Lage, gemäß der ihm von Gott verliehenen Tugenden zu leben. Daher klagt er vor Gott, dass er nicht durch den Tod aus dieser ausweglosen Lage befreit wird.
Noch einmal erklärt er die Tragik der Situation und bittet Gott gebethaft um seine Entscheidungshilfe.
Etzel und Kriemhild haben kein Verständnis für seine seelische Not, gehen nicht auf seine Klage ein, sondern flehen ihn weiter um seinen Beistand an.
In einer um 1200 unerhörten Verzichtleistung will er auf sein Lehen verzichten und zu Fuß in die Fremde gehen. Aber Etzel nimmt den Verzicht nicht an, sondern verspricht ihm, ihn zu einem mächtigen König zu machen, wenn er ihm beisteht.
Schließlich erklärt sich der Markgraf bereit, gegen die Burgunden zu kämpfen. - Im abschließenden Erzählerkommentar («Da setzte er Leib und Seele aufs Spiel.» 2166) wird noch einmal die religiöse Dimension von Rüdigers Konflikt deutlich. Seine letzten Worte vor Etzel und Kriemhild lassen erkennen, dass er wegen des Kriemhild geleisteten Eides mit seinen 500 Mannen gegen die Burgunden kämpft.
Ihnen gegenüber äußert er zweimal den Wunsch, dass sie gesund an den Rhein zurückkehren mögen, während er hier ehrenvoll als Ritter sterbe. Er bekräftigt seinen Wunsch zweimal mit «„Daz wolde got“» (2183 + 2187). Nachdem er Hagen auf dessen Bitte hin seinen Schild gegeben hat, stürzt er sich mit seinen Mannen in den Kampf. Dabei töten sich der Burgundenkönig Gernot und Rüdiger gegenseitig, wobei Gernot Rüdiger mit dem Schwert tötet, das er ihm in Bechelaren geschenkt hat.
Das Sterben von Rüdiger wird ohne Hinweis auf seine Seelenqual, auf seine Angst vor dem Verlust des Seelenheils, ohne Aufblick zu Gott – wie auch sonst im Nibelungenlied üblich – dargestellt. Allerdings kommentiert der Erzähler seinen Tod mit den Worten:«vater aller tugende lag an Rüedegêren tôt.» (2202)
Wir sollten seine Ahnungslosigkeit aus Gutgläubigkeit, die ihn Bindungen eingehen lässt, die zu einem tragischen Konflikt führen müssen, und seine Unbeherrschtheit, als er den Hunnen erschlägt, nicht überbewerten. Denn auffallend oft wird Rüdiger im Nibelungenlied der «guote» genannt und Grosse überträgt «vater aller tugende» mit «Vater aller ritterlichen Vollkommenheit».
Rüdiger ist die einzige Person im Nibelungenlied, deren Leben eindeutig als im christlichen Glauben verankert dargestellt wird. Er durchleidet seinen Konflikt als Christ und wendet sich in persönlichen Formulierungen an Gott.
Allerdings entscheidet er sich im Sinne des Gefolgschaftsdenkens und stirbt als germanischer Held wie alle anderen Personen im Nibelungenlied und nicht als christlicher Ritter, nicht getragen vom christlichen Jenseitsglauben.

2.1.2 Rüdeger von Bechelaren in Hebbels "Die Nibelungen"

In Hebbels „Die Nibelungen“ heißt Rüdiger Rüdeger.

Hebbel hat die Gestalt Rüdigers in groben Zügen aus dem Nibelungenlied übernommen. Dabei wurde die Konfliktsituation vereinfacht und der religiöse Bezug etwas verflacht. Ich kann mich daher kurz fassen.
Rüdeger tritt zum 1. Mal auf als Brautwerber für Etzel am Burgundenhof. Vor seinem Gefolge verbürgt er Kriemhild in ihrer Kemenate, dass Etzel ihr keinen Dienst versagen wird, und er schwört ihr:«Was ich vermag,/ Ist dein bis auf den letzten Odemzug.» (I,8 V.3274-75) Erst dann ist Kriemhild bereit, Etzel zu heiraten. Im Auftrag Gunthers führt Rüdeger Kriemhild Etzel zu. - Erst bei der Einkehr der Burgunden auf ihrem Weg zu Etzel in Bechelaren tritt Rüdeger wieder auf. Auch bei Hebbel empfängt er sie herzlich. In der hebbelschen Fassung fädelt Volker, von Hagen ausdrücklich begrüßt, die Verbindung zwischen Giselher und Rüdegers Tochter ein, um den Beistand von Rüdeger im zu erwartenden Kampf am Etzelhof zu erhalten. Nach Zustimmung aller wird die Verlobung gefeiert. Die Hochzeit soll nach der Rückkehr von Etzels Hof stattfinden. Das Treueversprechen Rüdegers gegenüber den Burgunden ist weggefallen, und nur Hagen erhält ein Gastgeschenk. (II,9) Mit Dietrich von Bern begleitet er die Burgunden an den Hof Etzels. (III,6). - Auf die Frage Dietrichs, wie er die Lage einschätze, antwortet er:«Es steht in Gottes Hand, Doch hoff’ ich immer noch.» (IV,17 V.4809-10)
Nach der Ermordung von Etzels und Kriemhilds Sohn durch Hagen darf Rüdeger zusammen mit Etzel und Kriemhild und weiteren germanischen Fürsten den Saal verlassen. Es geschieht bei Hebbel jedoch nicht auf seine Bitte hin und nicht mit ausdrücklicher Erlaubnis von Giselher. So ist die Bindung gegenüber den Burgunden nicht so stark wie im Nibelungenlied. - Eine Zutat Hebbels ist die Szene, wo Kriemhild Rüdeger veranlassen will, Giselher unter einem Vorwand nach Bechelaren zu schicken. Rüdeger weigert sich, weil er wohl genau weiß, dass Giselher in der Notsituation nicht die Burgunden verlassen würde. (IV,9)
Wie im Nibelungenlied verlangen Etzel mit Verweis auf Rüdegers Vasallenpflicht und Kriemhild mit Verweis auf den ihr geleisteten Eid, dass er für sie gegen die Burgunden kämpft. Rüdeger rechtfertigt seine Neutralität damit, dass er die Burgunden gastlich empfangen, zu Etzel gebracht und seine Tochter mit Giselher verbunden habe. Den Eid habe er einer mildtätigen Kriemhild geleistet, keiner Rachefurie.
«Kriemhild. Das alles hättest du erwägen sollen,
Bevor der Bund geschlossen ward. Du wusstest,
Was du geschworen!
Rüdeger. Nein, ich wusst’ es nicht,
Und, beim allmächt’gen Gott, du hast es selbst
Noch weniger gewusst.» (V,9 V.5187-91)
Etzel und Kriemhild bleiben bei ihrer Forderung. Rüdeger beklagt vor ihnen seine tragische Situation wie im Nibelungenlied, aber ohne Gottesbezug:
«So schwer, wie ich, ward noch kein Mensch geprüft,
Denn was ich tun und was ich lassen mag,
So tu ich bös und werde drob gescholten,
Und lass ich alles, schilt mich jedermann.» (V,11 V.5261-64)
Stärker noch als im Nibelungenlied fleht er Etzel an, ihn aus seiner Vasallenpflicht zu entlassen. Er kniet vor Etzel und Kriemhild nieder und will, «an einem Bettelstab die Welt durchziehn.» (V,11 V.5310).
«Das alles fahre hin, ich fleh’ zu euch
Um meine Seele, die verloren ist,
Wenn ihr mich nicht von diesem Eide löst.» (V,11 V.5291-94)

Kriemhild erwidert auf seine Klage über das mögliche Verwirken seines Seelenheils bloß:
«Glaubst du, dass ich die Seele rettete,
Als ich [...]
Mit Etzel in das zweite Ehbett stieg?» (V,11 V.5312-14)

So muss Rüdeger gegen die Burgunden kämpfen. Als Freund, wohl auch als Christ mildert er die Folge seiner Entscheidung gegen die Burgunden, indem er Hagen auf dessen Bitten hin einen Schild, seinen eigenen Schild gibt. (V,12) Er beginnt mit den Seinigen den Kampf gegen die Burgunden, bei dem er zuletzt sein Leben verliert. Vorher sind Gernot und Giselher umgekommen, wobei unklar bleibt, wer Gernot, Giselher und Rüdeger getötet hat.
So entscheidet er sich auch bei Hebbel im Sinne des Gefolgschaftsdenkens und stirbt als germanischer Held und nicht als christlicher Ritter, ohne Blick auf das Jenseits des christlichen Glaubens.

Zusammenfassend kann man sagen: Die Bindungen an die sich feindlich gegenüber stehenden Personengruppen sind im Vergleich zum Nibelungenlied nicht ganz so stark, dadurch der tragische Konflikt nicht ganz so ins Unermessliche übersteigert. Die Bezugnahmen auf Gott erscheinen bei Hebbel eher wie fromme Formeln, während sie im Nibelungenlied Ausdruck eines ganz persönlichen religiösen Empfindens sind.

2.2 Dietrich von Bern

2.2.1 Dietrich von Bern im Nibelungenlied

Im Nibelungenlied tritt Dietrich von Bern zum ersten Mal auf, als Etzel Kriemhild in Tulln an der Donau (westl. von Wien) empfängt. Unmittelbar neben Etzel reitet Dietrich mit allen seinen Gefährten (1347), Zeichen seiner herausgehobenen Stellung am Hunnenhof. Er ist mit einer Nichte Etzels verlobt (1382), mit der Frau Rüdigers verwandt (2314). Zu dieser Stellung passt, dass er sich bei der Hochzeitsfeier in Wien durch besondere Freigebigkeit hervortut; alles, was er von Etzel erhalten habe, sei verteilt worden. (1372) Später erfahren wir, dass zu seinen Kriegern 600 Ritter gehören. (1873 + 1995) Die Gefolgsleute Dietrichs von Bern werden Amelungen genannt, Dietrich von Bern einmal ihr König. (1981) Sein enger Gefährte ist Hildebrand, sein Waffenmeister. Es wird im Nibelungenlied deutlich, dass Dietrich im Gegensatz zu Rüdiger von Bechelaren kein Vasall Etzels ist. Die Hörer bzw. Leser des Nibelungenliedes im Mittelalter wussten aus den verbreiteten Sagen um Dietrich, dass er ein vertriebener König war, der geachtet an Etzels Hof im Exil lebte.
13 Jahre nach Kriemhilds Heirat mit Etzel kommen die Burgunden an dessen Hof. Da beginnt Dietrichs Bemühen um die Wahrung des Friedens und, als die Gewalteskalation begonnen hat, sein Bemühen um De-Eskalation und um einen gütlichen Ausgleich bis zum Schluss.
Als Dietrich von Bern durch Hildebrand vom Herannahen der Burgunden hört, reitet er ihnen entgegen. Hagen erkennt ihn sofort. Eindringlich warnt Dietrich vor Kriemhild, die immer noch um Siegfried weine. (1730) Doch die Burgunden reiten trotz der Warnung weiter und geben trotz Kriemhilds Aufforderung ihre Waffen nicht ab. So vermutet sie, dass sie gewarnt worden sind. Der Warner müsse sterben. Da bekennt sich Dietrich dazu und nennt Kriemhild schonungslos „vâlandinne“ (Teuflin). Sie solle ihn dafür bestrafen. Beschämt geht sie weg. Dietrich von Bern und Hagen fassen sich demonstrativ bei der Hand. (1747 ff.)
Nach dem Gotttesdienst am nächsten Morgen lässt Dietrich von Bern ebenso wie Rüdiger von Bechelaren seine Mannen nicht am Turnier teilnehmen, um Gewalttätigkeiten zu verhindern. – Als es dennoch von Seiten der Burgunden zu Ausschreitungen kommt und Etzel beschwichtigt, bittet Kriemhild Dietrich um Beistand. Er lehnt entschieden ab und weist Kriemhild zurecht:

«Dô sprach in sînen zühten dar zuo her Dietrîch:
”ie bete lâ belîben, küneginne rîch.
mir habent dîne mâge der leide niht getân,
daz ich die degen küene mit strîte welle bestân.

Diu bete dich lützel êret, vil edeles fürsten wîp,
daz du dînen mâgen raetest an den lîp.
si kômen ûf genâde her in diz lant.
Sîfrit ist ungerochen von der Dietrîches hant.“» (1901/02)

«Dazu bemerkte Herr Dietrich höflich:„Mächtige Königin, unterlass diese
Bitte. Deine Verwandten haben mir keinen Schaden zugefügt, dass ich die
mutigen Ritter angreifen müsste. Es dient deinem Ansehen nicht,
Gemahlin eines hochgeborenen Fürsten, dass du deine Verwandten das
Leben nehmen willst. Sie sind vertrauensvoll hierher ins Land gekommen.
Siegfried bleibt ungerächt von Dietrichs Hand.“»

Als während des Festmahls Hagen dem Sohn Etzels und Kriemhilds den Kopf abgeschlagen hat, beginnt ein erbitterter Kampf. Kriemhild bittet Dietrich, sie aus dem Saal zu führen. Mit Verweis darauf, dass er selbst in Gefahr schwebe, weist er zunächst ihre Bitte ab, dann aber ist er bereit, sich für sie einzusetzen. Der Nibelungenlieddichter betont seine «unermesslich große Stärke» und die Kraft seiner Stimme, die wie ein «Wisenthorn» erschallt. (1987). Er erreicht für sich und seine 600 Ritter freien Abzug. Unwidersprochen kann er die verängstigte Kriemhild («unter seinen Armen» 1995) und Etzel aus dem Saal führen.

Am nächsten Morgen lässt Rüdiger anfragen, ob man nicht mit den Burgunden noch eine Schlichtung versuchen könne. Dietrich lehnt mit dem Hinweis auf die Aussichtslosigkeit des Versuchs ab. (2137) Ob er nicht doch das Unmögliche hätte versuchen sollen?

Als er vom Tod Rüdigers erfährt, mahnt er zur Mäßigung und schickt seinen Waffenmeister Hildebrand unbewaffnet zu den Burgunden, um Näheres zu erfahren. Ihm schließt sich dessen hitzköpfiger Neffe gegen den ausdrücklichen Willen Dietrichs von Bern an, ebenso die Mannen Dietrichs ohne dessen Wissen. Es kommt zu einem erbitterten Kampf, aus dem nur Hagen und Gunther auf der einen Seite und Hildebrand auf der anderen Seite mit dem Leben davonkommen. Als sein Waffenmeister Hildebrand blutüberströmt Dietrich die Trauernachricht überbringt, weint er über Rüdigers Tod und beklagt den Tod seiner Mannen, insbesondere den der ihm Nahestehenden.
Er fühlt sich von Gott verlassen(«„sô hât mîn got vergezzen, ich armer Dietrîch.“» 2319) Die Formulierung erinnert an Rüdigers Ausspruch „gotes armer“ (2154). Er fühlt sich vom Unheil verfolgt. («„ungelücke´“» 2320, «„unsaelde“» 2321). Offensichtlich ist er vom Walten schicksalhafter Kräfte überzeugt. Das muss nicht der heidnisch-germanische Glaube an ein unabwendbares Schicksal sein, das lässt sich auch verstehen als Wissen um Gottes unerklärlichen Ratschluss.
Voll Kampfeszorn geht er mit Hildebrand zu Hagen und Gunther und erfährt, dass seine Mannen Mitschuld an dem vorausgegangenen Gemetzel tragen. Obwohl er als im Exil lebender König sein ganzes Heer durch die Burgunden verloren hat, schlägt er vor, sie sollten sich ergeben. Er verlangt Sühne für das ihm angetane Leid. Mit Etzels und Kriemhilds Rache habe er nichts zu tun.(2336) Er verspricht ihnen, sie nach besten Kräften zu schützen(2337), ja sogar, sie nach Worms zu geleiten unter ausdrücklichem Verzicht auf eine Sühneleistung. (2340) Hagen lehnt das Angebot ab. So kommt es zum erbitterten Kampf zwischen beiden. Obwohl es ungefährlicher gewesen wäre, Hagen zu töten, überwältigt er ihn und bringt ihn gefangen zu Kriemhild mit der Bitte: «„ir sult in lân genesen,
edeliu küneginne, und mac daz noch gewesen,
wie wol er iuch ergetzet daz er iu hât getân.“» (2355)

«„Ihr sollt ihm das Leben lassen! Wenn das geschieht, wird er Euch
Genugtuung leisten für alles, was er Euch angetan hat.“»

Kriemhild lässt Hagen wortlos in den Kerker werfen, während Dietrich von Bern Gunther überwältigt und gefesselt zu Kriemhild bringt.
Nochmals fleht Dietrich Kriemhild an, diesmal für Hagen und Gunther:
«„ez enwart nie gîsel mêre sô guoter ritter lîp,
als ich iu, frouwe hêre, an in gegeben hân.
nu sult ir die ellenden mîn vil wol geniezen lân.“» (2364)

«„Es sind noch niemals so vorzügliche Ritter Geiseln gewesen, wie ich
sie Euch, erhabene Herrin, mit ihnen übergeben habe. Nun sollt Ihr
die Fremden mir zuliebe schonen.“»

Kriemhilds nichtssagende Antwort lässt ihn wohl Schlimmes befürchten. Er verlässt die «helden lobelîch» «mit weinenden ougen». (2365)
Nach dem Tod Gunthers, Hagens und Kriemhilds wird Dietrich zum letzten Mal erwähnt. Es heißt lakonisch:
«Dietrîch und etzel weinen dô began,
si klagten inneclîche beide mâge unde man.» (2377)
«Dietrich und Etzel weinten. Sie klagten von Herzen um Verwandte und Freunde.»

Viele Forscher sehen in Dietrich eine lichte Idealgestalt, andere finden negative Züge in seinem Handeln, etwa dass er die Geiseln der rachsüchtigen Kriemhild ausliefert. Sie erklären manche seiner edelmütigen Handlungen durch Selbstsucht motiviert. Dietrichs Charakter ist sicher bis zu einem gewissen Grad ambivalent. Aber vorherrschend bleibt doch seine humane Gesinnung: wiederholt versucht er, kämpferische Auseinandersetzungen zu verhindern. Obwohl er Kriemhilds bedingungslose Vergeltungssucht unmissverständlich ablehnt, rettet er die Bedrängte in ihrer Notlage. - Als die blutige Auseinandersetzung eskaliert, bleibt er besonnen und ist am Schluss sogar bereit, großes ihm angetanes Leid (Tod seiner Mannen) zu verzeihen. Man kann sagen, dass er weithin dem Ideal des christlichen Ritters um 1200 entspricht.

2.2.2 Dietrich von Bern in Hebbels "Die Nibelungen"
Auch in Bezug auf Dietrich von Bern entspricht die äußere Handlung bei Hebbel der im Nibelungenlied in groben Zügen: Er warnt die Burgunden eindringlich vor Kriemhilds Rache, bei Hebbel bereits in Bechelaren bei Rüdeger (II,10). Vor der erbosten Kriemhild bekennt er sich dazu, allerdings ohne sie als Teuflin zu verurteilen. Er steht dafür ein, dass die Burgunden keine Gewalttätigkeiten beginnen. (III,8) Der Verzicht auf ein Turnier fehlt, da es bei Hebbel von Etzel selbst abgesagt wird. - Als beim Festmahl Hagen den Sohn Etzels und Kriemhilds ermordet hat, befiehlt Dietrich Volker offensichtlich mit großer Autorität:«Platz dem König!» Volker erlaubt daraufhin Etzel und Kriemhild, Rüdeger, Hildebrand und zwei nordischen Königen das Verlassen des Saales. Etzel befiehlt Dietrich, dafür zu bürgen, dass die Burgunden im Saal bleiben müssen. (KR IV,23) – Nach dem Saalbrand bleibt Dietrich wie im Nibelungenlied neutral. Nicht der Verlust seiner Mannen – von ihnen ist bei Hebbel nirgendwo die Rede - , sondern Etzels Bereitschaft, nach dem Tod aller anderen Burgunden selbst Gunther und Hagen zu bezwingen, veranlasst ihn, an Etzels Stelle gegen Gunther und Hagen zu kämpfen. (V,13 V. 5411) Hebbel stellt nur das Resultat dieses Endkampfes dar: Dietrich bringt Gunther und Hagen gefesselt nicht wie im NL zu Kriemhild, sondern zu Etzel mit der Bitte:
«Begnadigt sie
Soweit, dass Ihr’s dem Tode überlasst,
Ob er ein Wunder dulden will.“ (V,14 V.5420-22)
Etzel verspricht ihm, sie bis zum nächsten Tag zu schützen, dann werde er sie Kriemhild ausliefern. Aber wie im Nibelungenlied übt Kriemhild unverzüglich ihre Rache, und Dietrichs Waffenmeister Hildebrants schlägt sie tot. (V,14)
Nach dieser Darstellung könnte man bei Hebbel im Vergleich zum Nibelungenlied in Dietrich ein weniger entschiedenes Engagement für Friedenswahrung und Gewalteindämmung vermuten, eine Verflachung seines Charakters. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Deutlich über das Nibelungenlied hinaus hat Hebbel ihn in der Übergangszeit vom Heidentum zum Christentum zu einem machtvollen Vertreter der neuen Zeit gemacht.
Zunächst muss betont werden, dass er dem Mythischen in besonderer Weise verbunden ist. Am Nixenbrunnen hat er Zukünftiges erlauscht. In einem Gespräch mit Rüdeger nimmt er auf dieses geheime Wissen Bezug. Jetzt wisse er, dass eine Weltenwende mit gewaltigen Veränderungen komme. (IV,17)

Aber darüber hinaus erscheint Dietrich von Bern stärker noch als im NL als übermächtiger idealisierter christlicher Fürst.
Etzel stellt Dietrich von Bern Kriemhild mit folgenden Worten vor:
«Etzel. Es sind drei Freie auf der Welt,
Drei Starke, welche die Natur, wie’s heißt,
Nicht schaffen konnte, ohne Mensch und Tier
Vorher zu schwächen, und um eine Stufe
Herabzusetzen.
Kriemhild. Drei?
Etzel. Der erste ist –
Vergib! Er war! Der zweite bin ich selbst.
Der dritte und der mächtigste ist er!» (III,3 V.3915-21)
Und Etzel schildert eine Demonstration von Dietrichs Riesenkraft, als er bei seiner Ankunft von einem Knecht Etzels herausgefordert wird.

In einem Gespräch Etzels mit Kriemhild erfahren wir Wesentliches über Dietrich, was an anderen Stellen nur angedeutet wird: Dietrich ist aus eigenem Entschluss mit abgelegter Krone und gesenktem Degen vor Etzel getreten. Er dient ihm freiwillig. In selbstgewählter Armut nimmt er als Lehen nur einen Meierhof an «und auch von diesem schenkt er alles weg.» (III,3 V.3961) Etzel vermag sein Verhalten nicht zu verstehen, aber er vermutet, dass er sich so aus christlicher Überzeugung verhält, wie ein Heiliger und Büßer.

Etzel erklärt seine Arglosigkeit Kriemhild gegenüber damit, dass er von Dietrich von Bern erfahren habe, dass die Christen ihre Feinde lieben. Dietrichs Antwort:
«So sollt’ es sein,
Doch ist nicht jeder stark genug dazu.» (IV,7 V.4554/55)
Als Kirchenvogt (a) leitet er die Burgunden vor der Katastrophe in den Dom zur Messe. (IV,12)
Dietrichs «Gott helfe uns» (V,3 V.5000), als er das Leiden der Burgunden nach dem Saalbrand aus nächster Nähe in seiner ganzen Grausamkeit wahrnimmt, ist sicher keine nichtssagende Floskel, sondern Ausdruck seiner tiefen Überzeugung.
Hildebrant, Dietrichs Waffenmeister, befürchtet, dass die Burgunden umkom¬men, «die Gott bis jetzt so wunderbar verschont.» (V,5 V.5020). So fleht er Dietrich an, dem Gemetzel ein Ende zu bereiten, indem er vor Etzel für die Burgunden eintritt. Aber Dietrich fühlt sich Etzel zur Treue verpflichtet, da er sich «freiwillig und aus bloßem Herzensdrang / Ihm unterwarf.»
(V,5 V.5014/15) Er kann auch deswegen nicht eingreifen, weil er als Ein¬ziger erkennt, dass beide Seiten in Schuld verstrickt sind und keine Seite auf ihr Recht auf Rache zu verzichten bereit ist. So sagt er zu Hildebrant:
«Wenn ich auch wollte, wie vermöcht ich’s wohl?
Hier hat sich Schuld in Schuld zu fest verbissen,
Als dass man noch zu einem sagen könnte:
Tritt du zurück! Sie stehen gleich im Recht.» (V,5 V.5037-40)
Dann stellt er Hildebrant die sinnlose Destruktivität der Rache im Bild eines gefräßigen Ungeheuers dar, das erst dann zur Ruhe kommt, wenn es sich überfressen hat. Er sagt:
«Wenn sich die Rache nicht von selbst erbricht
Und sich vom letzten Brocken schaudernd wendet,
So stopft ihr keiner mehr den grausen Schlund.» (V,5 V.5041-43)

Im Gegensatz zum Nibelungenlied endet Hebbels Trilogie nicht mit dem Tod Kriemhilds. Er erfindet eine kurze Fortführung der Szene, die dadurch besonderes Gewicht erhält: Etzel, vom Herrschen in einem «Blutmeer» «angewidert», übergibt die Krone Dietrich von Bern.
Die letzten Worte der Trilogie gehören Dietrich von Bern, der die Krone annimmmt mit den Worten:«Im Namen dessen, der am Kreuz erblich.» (V,14 V.5456)
Wenn man von diesem eindrucksvollen Schluss ausgeht, gewinnt man den Eindruck, Hebbel habe darstellen wollen, wie das Heidentum, das in den blutigen Untergang führt, durch das Christentum überwunden wird, in dem - wie bei Dietrich - Demut an die Stelle von Hochmut, Dienen an die Stelle von Herrschaft, Einsatz zur Vermeidung blutiger Auseindersetzungen an die Stelle trotziger Gewaltbereitschaft tritt.
Bestärkt wird man in dieser Deutung durch Hebbel selbst, wenn er einem befreundeten Pfarrer 1861 schreibt:„ Diese (= Nibelungentrilogie) wird Ihnen gewiss zusagen,denn sie schildert den Sieg des Christentums über das Heidentum.“ (b)
Stutzig aber wird man, wenn man in einem Brief von 1857 an einen Freund, der nach der Lektüre einiger Fragmente das Stück für unchristlich hält, bereits liest:„Ich will sehr zufrieden sein, wenn man die ganze Tragödie nur nicht zu christlich findet.“ (c) Hebbel will also nicht zu stark die Überwindung des Heidentums durch das Christentum herausstellen.
Noch deutlicher wird er gegenüber dem gleichen Adressat in einem Brief von 1862 nach der Aufführung und Veröffentlichung der Trilogie. Dort heißt es: „Das Christentum ist mir, was es war, eine Mythologie neben anderen, und wie ich jetzt, nach abermaliger jahrelanger Beschäftigung mit den Akten, leider hinzufügen muss, nicht einmal die tiefste.“ (d)
Wenn man bedenkt, dass die geradezu vorbildlichen Christen wie Rüdeger und Dietrich die Katastrophe nicht mindern, geschweige denn aufhalten können, so erscheint Dietrichs Übernahme der Herrschaft am Schluss «im Namen dessen, der am Kreuz erblich» in den Augen Hebbels bestenfalls als das Aufleuchten einer christlichen Utopie, vielleicht nur als eine fast leere Hoffnungsphrase.

3. Zusammenfassung

Ich hoffe Ihnen gezeigt zu haben, dass die beiden Personen es verdienen, näher betrachtet zu werden. Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es starke Akzentverschiebungen vom NL zu Hebbels Trilogie. Aber beide Ausgestaltungen machen einmal mehr, einmal weniger in dieser blutigen Auseinandersetzung die religiöse Dimension im Handeln Rüdigers und Dietrichs deutlich, zweier Gegenbilder zu so vielen Gestalten mit erschreckend großer Gewaltbereitschaft in dieser Geschichte von großer Liebe, unerhörtem Betrug, Neid, Mord und unerbittlicher Rachsucht.




Anhang

Zitierte Literatur

1. Das Nibelungenlied Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch
ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse Reclam Stuttgart
1997,2003 - im Vortrag der neuen Rechtschreibung angepasst
Strophenangaben
2. Hebbel, Friedrich. Die Nibelungen. Ditzingen Reclams Universalbiblio thek Nr. 3171 2001
"Die Nibelungen" sind eine Dramentrilogie, bestehend aus "Der gehörnte Siegfried", "Siegfrieds Tod" und "Kriemhilds Rache."
zitiert wurde nach dieser Ausgabe, jedoch der neuen Rechtschreibung angepasst
Es handelt sich ausschließlich um Textstellen aus "Kriemhilds Rache", angeben wurden Akt-, Szenen- und Verszahl
3. Hebbel, Friedrich. Die Nibelungen. Mit ausführlichen Erläuterungen für Schulgebrauch und Selbstunterricht von Carl Schmitt. 4. Aufl., Paderborn Schöningh 1918 (zitiert: Hebbel – Schmitt)
4. Hebbel, Friedrich. Briefe in 8 Bänden Berlin 1904ff. - Zitate der neuen Rechtschreibung angepasst
(zitiert: Hebbel-Briefe)

Fußnoten

(a) Die Aufgabe des Kirchenvogts besteht darin, den Zug zur Kirche zu leiten und für Ordnung im Gottesdienst zu sorgen – Hebbel – Schmitt, S.218
(b) Brief an Pfarrer Luck vom 21.01.1861 in: Hebbel-Briefe Nr.702 Bd. 7, S.12
(c) Brief an Uechtritz vom 03.06.1857 in: Hebbel-Briefe Nr.570 Bd.6 S.45
(d) Brief an Uechtritz vom 25.10.1862 in: Hebbel-Briefe Nr.828 Bd.7 S.266