Verhängnisvolle Verwirrung

Penthesilea
und Brunhild


Ein Vortrag von Erwin Martin

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Penthesileas Tod, Hans von Stuck, 1904 ..


Die Sagenwelt der griechischen Antike war eingebettet in einen Raum, der von einer Vielzahl von Göttern beherrscht wurde, von Göttern und Göttinnen, die die Menschen nach ihrem eigenen Bilde, dem Bilde des Menschen, geformt hatten. Diese Gottheiten, die sich in Menschennähe bewegten und auf menschliches Geschehen Einfluss nahmen, zeugten sogar mit Menschen Kinder, Halbgötter, die herausragten aus dem Gros der gewöhnlichen Sterblichen als unbesiegbare Helden, als geniale Erfinder oder als Liebende, die mit ihrer erotischen Brisanz das menschliche Normalmaß weit überstiegen.

Damit sind wir bei unserer Themenfigur Penthesilea und ihrem Geliebten Achilleus. Heinrich von Kleist hat diese Gestalten der antiken Mythenwelt aufgegriffen und sie auf seine Weise zu Gestalten eines Bühnenwerks geformt.

In den Adern Penthesileas und Achilleus‘ fließt göttliches Blut: Penthesilea ist Tochter des Kriegsgottes Ares (oder Mars), Achills Mutter ist Thetis, eine Tochter des Meeresgottes Nereus. Diese Abstammung macht beide fähig zu außerordentlichen Leistungen und Empfindungen, die den Rahmen eines geregelten, durch Sitte und Gesetz im Lot gehaltenen Lebens sprengen.

Wir bewegen uns im Bereich der Amazonen, einem Produkt der antiken Sagenphantasie. Die Amazonen gehörten darin zu den Völkern außerhalb der griechischen Kulturwelt, die als „Barbaren“ abnorme Lebens- und Verhaltensformen hatten, so dass sich die auf ihre Zivilisation stolzen Griechen von ihnen distanzieren konnten, wenn sie mit ihnen in Berührung kamen. Es gab auch Vereinigungen wie die des Griechen Jason mit der wilden Kolcherin Medea, aber einer solchen Liebe war ebenso wenig ein gutes Ende beschert wie der Liebesbegegnung des Hellenen Achill mit der Amazone Penthesilea.

Wer waren nun die Amazonen? Die griechische Sage siedelt sie weitab in Kappadokien, im östlichen Kleinasien, an. Es ist unklar, wieweit historische Fakten der vorgriechischen Zeit mit Sagengut überformt wurden. Jedenfalls beschäftigte der Weiberstaat, in dem alles in der Hand kriegerischer Frauen lag, die Vorstellung der Griechen. Männer wurden hier nur zur Erhaltung des Stammes herangezogen, man holte sie aus Nachbarvölkern einmal im Jahr zur Begattung heran. Von den Neugeborenen zog man dann nur die Mädchen auf. Den Namen „Amazonen“ verstanden die Griechen als die „Brustlosen“, möglicherweise deshalb, weil sie von außergriechischen Frauen, z. B. von Kreterinnen, wussten, dass sie die linke Brust entblößt zu tragen pflegten. Bei den Amazonen phantasierten sie die Begründung hinein, dass diese ihre rechte Brust abschnitten oder ausbrannten, um Pfeil und Bogen unbehindert handhaben zu können.

Mehrmals lässt die Sage dieses kriegerische Weibervolk mit Griechen in kämpferischen Kontakt kommen, unter anderem im Trojanischen Krieg, wo die Amazonen unter der Führung ihrer Königin Penthesilea den bedrängten Trojanern zur Seite treten. Der griechische Held Achilleus besiegt und tötet dabei ihre Königin. Als die Amazonen später der Sage nach bis Attika vordringen, werden sie von den Griechen endgültig geschlagen und vertrieben. Aber die Erinnerung an sie bleibt wach nicht nur bei den Hellenen, sondern auch bei den abendländischen Erben der Antike über Jahrtausende hinweg bis in unsere Zeit in Form von Seemannsgeschichten und künstlerischen Darstellungen in der Malerei und in plastischer Gestaltung, als Opernstoff und in der Dichtkunst.

Die herausragendste Nachformung ist die Tragödie Penthesilea von Heinrich von Kleist, erschienen 1808, die uns im Folgenden beschäftigen wird. Kleist greift auf jüngere Ausgestaltungen der antiken Sage zurück, die aus der ursprünglichen bloßen Kampfbegegnung Achills mit Penthesilea eine ausgeprägte tragische Liebesgeschichte machen.

Kleist steigert das Außerordentliche des Stoffes auf ein Höchstmaß. Seine Bühnenhandlung durchläuft in rasantem Tempo 24 Szenen ohne die gewohnte Einteilung in Akte. Dadurch kommt das Wesen der mit atemberaubender Gewandtheit auf dem Schlachtfeld agierenden Penthesilea zur Geltung.

Mit einem zweiten dramaturgischen Mittel steigert Kleist die Intensität der Charakterzeichnung. Er lässt die Hauptfigur erst in der 5. Szene selbst auftreten. Aber in den ersten vier Szenen ist sie nicht minder präsent, denn es ist fortwährend von ihr die Rede. Griechen sprechen über ihr sonderbares Verhalten, mit dem sie selbst absolut nichts anzufangen wissen. Zuerst berichtet Odysseus anderen Heerführern, wie er ihr Erscheinen erlebt hat, dann kommt ein weiterer Augenzeuge und teilt mit, was soeben gerade geschehen war, und dann beobachten die Genannten von einem Hügel aus einen äußerst turbulenten Vorgang auf dem Kampfgebiet. Dramaturgisch ist das die sogenannte Teichoskopie, die Mauerschau, in der Gestalten auf der Bühne mit Blick in die seitlichen Kulissen sich gegenseitig und dem Publikum zur Kenntnis geben, was außerhalb, z.B. auf einem imaginierten Schlachtfeld, geschieht, das auf der Bühne nicht darstellbar ist.

Das nicht sichtbare Geschehen wird aber durch die Art, wie darüber gesprochen wird, höchst präsent gemacht. Es kommt als drittes Ausdrucksmittel die Sprache hinzu, und hier liegt bei Kleist ein einmaliges Phänomen vor. Kleist entwickelt eine Sprachdynamik, die in der Literatur nicht ihresgleichen hat.

Das Verhalten der Kleist’schen Amazonenkönigin geht weit über das Begreifen der Griechen hinaus. Penthesilea ist nach deren erstem Eindruck auf dem Kampfplatz erschienen, um den bedrängten Trojanern beizustehen, aber dann jagt sie diese vor sich her, so dass die Griechen glauben müssen, sie kämpfe vielmehr auf ihrer Seite. Sobald sie jedoch daraufhin ein Bündnis mit ihr schließen wollen, sagt Penthesilea plötzlich ihnen den Kampf an. Auf diese sphinxhaften Widersprüche vermögen sie nur mit verständnislosem Kopfschütteln zu reagieren.

Es zeigten sich gleich mehrere Seltsamkeiten, die Odysseus mitteilt. Beim Anblick Achills habe zunächst ihr trunkener Blick auf der schimmernden Gestalt des griechischen Helden geruht, doch jäh sei ihr Verhalten ins Gegenteil umgeschlagen.

Odysseus:

Drauf mit der Wangen Rot, wars Wut, wars Scham,
...
Verwirrt und stolz und wild zugleich: sie sei
Penthesilea, kehrt sie sich zu mir,
Der Amazonen Königin, und werde
Aus Köchern mir die Antwort übersenden!
(1. Szene)

Nun berichtet ein anderer Anführer der Griechen, Diomedes, Penthesilea suche Achill mit sonderbarer Wut oder aus persönlichem Hass wider ihn im Kampfgetümmel, doch als der jüngst in tödliche Bedrängnis durch einen Trojaner geraten sei, habe sie mit einem Schwertstreich den Angreifer getötet und Achill damit das Leben gerettet.

Es gibt eine weitere Begegnung Penthesileas mit Achill. Ein Zeuge schildert in höchster Erregung, wie Achill im Kampfgewühl mit seinem Gespann in eine Schlucht stürzte und seine Verfolgerin in halsbrecherischer Weise hinter ihm her war, um ihn einzufangen; doch sie habe sich selbst dabei mit Pferden und Wagen überschlagen. Beide Streiter sind aber, wie man erfährt, diesem Gewühle entronnen.

Durch das sonderbare Verhalten der Amazonen gerät die gesamte Kampflage in völlige Verwirrung. Die eigentlichen Gegner, die Trojaner und die Griechen, finden sich in der absurden Situation, sich gemeinsam gegen die kämpfenden Frauen wehren zu müssen, dass Griechen auch hinter trojanischen Schilden gegen sie Schutz suchen und Trojaner ebenso hinter den Schilden von Griechen.
So beschließt Agamemnon, der Oberbefehlshaber der Griechen, den Rückzug in die Verschanzung, um abzuwarten, für welche Partei sich die Amazonen entschließen werden. Nur Achill lässt nicht ab von der Verfolgung Penthesileas, die ihm mit einem Pfeilschuss die Schenkel durchbohrt hat, um ihn in ihre Gewalt zu bekommen. (Man darf an ein solches Textdetail keine realistischen Maßstäbe anlegen, es ist symbolisch zu verstehen: Der Pfeilschuss Penthesileas in Achills Schenkel trifft dessen Männlichkeit.)

Achilleus fühlt sich dadurch erst recht zur Gegenwehr angestachelt:

Mich einen Mann fühl ich, und diesen Weibern,
Wenn keiner sonst im Heere, will ich stehen.
...
Was mir die Göttliche begehrt, das weiß ich;
Brautwerber schickt sie mir, gefiederte,
Genug in Lüften zu, die ihre Wünsche
Mit Todgeflüster in das Ohr mir raunen.

Ohne bereits zu wissen, dass bei einer weiteren Begegnung eine wirkliche Liebe zu Penthesilea aufflammen wird, spielt er hier mit Worten, die aus der Sphäre der Erotik genommen, aber zynisch gemeint sind, denn er hat nur den Sieg über die Feindin in Weibsgestalt im Sinn, der er nichts anderes antun will als dem Trojaner Hektor, an dem er seinen Freund Patroklus gerächt hat, indem er seine Leiche rings um Troja schleifen ließ.

Doch müsst ich auch durch ganze Monden noch
Und Jahre um sie frein: den Wagen dort
Nicht eh’r zu meinen Freunden will ich lenken,
Ich schwörs, und Pergamos nicht wiedersehn,
Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht
Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden,
Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen.

Diese Ausgangslage enthält nur Rätsel, auf deren Lösung alle an der Handlung Beteiligten und auch die Zuschauer warten. Kleists Stück ist analytisch angelegt, man erfährt erst nach und nach die Hintergründe und näheren Umstände. Und doch ist von Anfang an zu spüren, dass nicht alle Rätsel eine Lösung finden werden, weil sie von besonderer Art sind. Die Konflikte reichen zu tief in die Seelengründe hinab, als dass ein glücklicher Ausgang zu erwarten wäre.

Als in der fünften Szene Penthesilea endlich selbst auftritt, geschieht das gleiche, was sich vorher um Achill abgespielt hat. So wie dort die Gefährten den aus dem genannten Kampfgetümmel Entkommenen feiern wollen, bei diesem aber keinen Widerhall finden, weil er ja die Feindin Nummer eins noch nicht besiegt hat, so will auch die zurückkehrende Penthesilea von den Amazonen nicht mit Lobeshymnen empfangen werden, weil es ihr nicht gelungen ist, Achill einzufangen.

Nichts von Triumph mir! Nichts vom Rosenfeste!
Es ruft die Schlacht noch einmal mich ins Feld.
Den jungen trotzgen Kriegsgott bändg‘ ich mir.
...
Ich will zu meiner Füße Staub ihn sehen,
Den Übermütigen. der mir an diesem
Glorwürdgen Schlachtentag, wie keiner noch,
Das kriegerische Hochgefühl verwirrt.
...
Fühl ich, mit aller Götter Fluch Beladne,
Da rings das Heer der Griechen vor mir flieht,
Bei dieses einzgen Helden Anblick mich
Gelähmt nicht, in dem Innersten getroffen?

Hier gibt Penthesilea preis, dass ihr Kampf mit Achill mehr ist als ein bloßes Duell von gigantischen Helden, dass vielmehr geheimnisvolle Kräfte mit am Werk sind, die Penthesilea nicht begreift. Deshalb versucht sie ihre erneute Rückkehr in die Schlacht mit Vernunftgründen zu rechtfertigen: Es gelte, dem tückischen Hinterhalt der Griechen vorzubeugen, die darauf aus seien, die Gefangenen, die Kriegsbeute der Amazonen, zu befreien. Aber es entfahren ihr auch Worte, die diese vordergründige Argumentation durchbrechen:

Verflucht das Herz, das sich nicht mäßgen kann.

Als ihr dann das Herannahen Achills gemeldet wird, tritt, was sie im Innersten anstrebt, in aller Deutlichkeit zutage:

Die Lust, ihr Götter, müsst ihr mir gewähren,
Den einen heißersehnten Jüngling siegreich
Zum Staub mir noch der Füße hinzuwerfen.
...
Ich nur, ich weiß den Göttersohn zu fällen.
Hier dieses Eisen soll, Gefährtinnen,
Soll mit der sanftesten Umarmung ihn
(Weil ich mit Eisen ihn umarmen muss!)
An meinen Busen schmerzlos niederziehn.
Hebt euch, ihr Frühlingsblumen, seinem Fall,
Dass seiner Glieder keines sich verletze.
(5. Auftritt)

Zur Kampfeskunst der Amazonen gehört, dass sie den zum Rosenfest ausersehenen Gegner nicht allzu sehr verwunden, sondern nur kampfunfähig machen, so dass sie ihn als Gefangenen möglichst unversehrt in ihre Gewalt nehmen können.

Jetzt aber, als sich Penthesilea wieder in die Schlacht wirft, um Achilleus zu besiegen, tritt eine Gegengestalt auf den Plan, die Oberpriesterin der Amazonen, die offenbar über höchste Autorität verfügt. Sie bringt das Gesetz der Amazonen ins Spiel:

Was geht dem Volke der Pelide an?
- Ziemts einer Tochter Ares‘, Königin,
Im Kampf auf einen Namen sich zu stellen?

Es wird von den Amazonen immer klarer ausgesprochen, worum es Penthesilea geht:

Vom giftigsten der Pfeile Amors sei,
Heißt es, ihr jugendliches Herz getroffen.

Und so prophezeit die Oberpriesterin:

O, sie geht steil-bergab den Pfad zum Orkus!
Und nicht dem Gegner, wenn sie auf ihn trifft,
Dem Feind in ihrem Busen wird sie sinken.
(7. Szene)

Der weitere Verlauf der Handlung führt in die höchste Turbulenz. Achill und Penthesilea treffen im Kampf aufeinander. Aus dem Mund einer Zeugin erfahren wir: Achill ist der Überlegene, Penthesilea wird an der Brust verwundet und sinkt ohnmächtig vom Pferd. Aber nun verblüfft Achill die berichtende Amazone mit seinem nächsten Schritt:

Und da sie jetzt, der Rache preisgegeben,
Im Staub sich vor ihm wälzt, denkt jeglicher,
Zum Orkus völlig stürzen wird er sie;
Doch bleich selbst steht der Unbegreifliche,
Ein Todesschatten da, „ihr Götter!“ ruft er,
„Was für ein Blick der Sterbenden traf mich!“
...
In seinen Armen hebt er sie empor,
Und laut die Tat, die er vollbracht, verfluchend,
Lockt er ins Leben jammernd sie zurück!

Doch nicht genug damit. Als die Amazonen Penthesilea seinen Armen entreißen, heißt es:

Und wirft das Schwert hinweg, das Schild hinweg,
Die Rüstung reißt er von der Brust sich nieder
Und folgt ...
Der Kön’gin unerschrocknen Schrittes nach.
(8. Szene)

Dann zieht er sich zu den Seinen zurück. Inzwischen kommt Penthesilea zu sich. Sie erkennt ihren Misserfolg, und es bricht die Wut darüber aus ihr heraus.

Hetzt alle Hund auf ihn ! Mit Feuerbränden
Die Elefanten peitschet auf ihn los!
Mit Sichelwagen schmettert auf ihn ein
Und mähet seine üppgen Glieder nieder!

Dann ein plötzlicher Umschlag:

Ists meine Schuld, dass ich im Feld der Schlacht
Um sein Gefühl mich kämpfend muss bewerben?
Was will ich denn, wenn ich das Schwert ihm zücke?
Will ich ihn denn zum Orkus niederscheudern?
Ich will ihn ja, ihr ewgen Götter, nur
An diese Brust will ich ihn niederziehn!

Hin- und hergerissen von widersprüchlichen Empfindungen verflucht sie das Liebesfest, zu dem sie bereits die Vorkehrungen befohlen hatte, und die grausame Vernichtung, die sie gerade dem siegreichen Achill zugedacht hat, richtet sie jetzt auf sich selbst:

... Lasst ihn kommen.
Lasst ihn den Fuß gestählt, es ist mir recht,
Auf diesen Nacken setzen ...
Lasst ihn mit Pferden häuptlings heim mich schleifen.
Und diesen Leib hier, frischen Lebens voll,
Auf offnem Felde schmachvoll hingeworfen,
Den Hunden mag er ihn zur Morgenspeise,
Dem scheußlichen Geschlecht der Vögel bieten.

Und jetzt folgt der eigentliche Grund ihres Wütens gegen sich selbst, denn noch weiß sie nichts von Achills Umkehr:

Staub lieber als ein Weib sein, das nicht reizt. (9. Szene)

Während die Amazonen sich vergeblich bemühen, sie in Sicherheit zu bringen, steigert sie sich in eine Wahnvorstellung, in dem sie Achill mit dem Sonnengott Helios identifiziert. Darauf schwinden der Verwundeten wieder die Sinne.

Nun nähert sich Achill unbewaffnet und hat alle Mühe, die Amazonen davon zu überzeugen, dass er nicht als Feind kommt, dass er Penthesilea liebe und sie zu seiner Königin machen wolle.

Die engste Vertraute Penthesileas, Prothoe, spricht nun mit Achill ein Täuschungsspiel ab, mit dem die aus der Ohnmacht Erwachende aus ihrer Verzweiflung geholt und sich in die neue Situation hineinfinden kann: Achill soll als der von ihr Überwundene gelten.

Als Penthesilea das Bewusstsein wiedererlangt, nimmt sie diese Botschaft wahr, die eine Täuschung ist, die sich aber wiederum als wahr erweist, wenn man nämlich die Worte, die jetzt fallen, in ihrem Doppelsinn versteht:

Penthesilea fragt:

Er wär gefangen mir?

Achill antwortet:

In jedem schönren Sinn, erhabne Königin!
Gewillt, mein ganzes Leben fürderhin
In deiner Blicke Fesseln zu verflattern.

Auch Prothoe lügt und sagt gleichzeitig die Wahrheit:

Er sank wie du, als ihr euch traft, in Staub;
Und während du entseelt am Boden lagst,
Ward er entwaffnet - nicht?

Achilles antwortet:

Ich ward entwaffnet.

In diesen Worten überschneiden sich die Begriffe des Kampfes mit denen der Liebe. Penthesilea versteht sie noch nicht in ihrem doppelten Sinn. Nach wie vor gilt für sie das Amazonengesetz:

Fluch mir, empfing ich jemals einen Mann,
Den mir das Schwert nicht würdig zugeführt.
(14. Szene)

Nun aber glaubt sie daran, dass sie den Geliebten auf die rechte Weise gewonnen hat. Sie träumt im Gespräch mit Achill dem Rosenfest entgegen, das sie in der Seligkeit ihres Gefühls vorwegnimmt. Achill lässt sie im Glauben, sie habe ihn besiegt, und er kommt ihr weiterhin darin entgegen, dass er das Fremdartige an ihr zu begreifen sucht:

Was ists, du wunderbares Weib, dass du,
Athene gleich, an eines Kriegsheers Spitze,
Wie aus den Wolken nieder, unbeleidigt,
In unsern Streit vor Troja plötzlich fällst?
Was treibt, von Kopf zu Fuß in Erz gerüstet,
So unbegriffner Wut voll, Furien ähnlich,
Dich gegen das Geschlecht der Griechen an;
Du, die sich bloß in ihrer Schöne ruhig
Zu zeigen brauchte, Liebliche, das ganze
Geschlecht der Männer dir im Staub zu sehn?
(15. Szene)

Erst in dieser idyllischen Gemeinsamkeit der beiden Liebenden kann das Geheimnis der Amazonen enthüllt werden. Penthesilea schließt damit dem Geliebten gegenüber ihr Innerstes auf, das ganz in das Wesen des Frauenstaates eingebettet ist.

Achill erfährt von dessen Entstehung: dass einst ein grausamer Überfall des Äthiopierkönigs Vexoris auf den einstigen Stamm der Skythen am Kaukasus erfolgte, bei dem alle Männer, auch Greise und Knaben, niedergemetzelt und die Frauen vergewaltigt wurden.
Die Frauen sannen nun darauf, wie sie sich ihrer Peiniger entledigen könnten. Sie formten sich Waffen aus ihren alltäglichen Gegenständen und töteten nach Verabredung in einer Nacht alle feindlichen Männer, die ihren Beischlaf erzwangen.

Daraufhin gründeten sie unter der Führung der gewählten Königin Tanais den Frauenstaat, in dem es keine Männer mehr gab und nur Mädchen großgezogen wurden. Um bestehen zu können, mussten die Frauen wehrfähig werden. Da der rechte Busen sie an der Handhabung von Pfeil und Bogen behinderte, entfernten sie ihn und bekamen dann den Namen „Amazonen“, der die „Busenlosen“ bedeute.

Um den Bestand des Frauenvolkes zu sichern, besorgte man sich auf besondere Weise den Nachwuchs. Auf göttliche Weisung der Artemis suchte die Priesterin ein Volk aus, das die Amazonen dann überfielen, im Kampf besiegten und die jungen Männer als Gefangene mit sich führten. Mit ihnen feierten sie das Rosenfest, das der liebenden Vereinigung gewidmet war. Danach schickte man die als Erzeuger Benutzten mit reichen Geschenken wieder nach Hause.

Bei diesem Unternehmen kam es nach einem ehernen Gesetz zum einen darauf an, dass die erbeuteten Männer im Kampf überwunden werden mussten, zum anderen dass sie nicht aus persönlicher Neigung der Frauen ausgewählt werden durften, sondern wahllos und namenlos zur Begattung herangezogen wurden. Diesem Gesetz liegt der ebenfalls zweifache Gedanke zugrunde, dass die Männer aus der größtmöglichen Distanz, nämlich als Feinde mit Waffen zu erbeuten waren und dass es infolge dessen auch zu keiner individuellen Paarung kommen sollte, die die reine Frauengemeinschaft durch Liebesbindungen an Männer sprengen würde.

Gerade darin liegt aber nun für Penthesilea der tragische Widerspruch, der unweigerlich zur Katastrophe führen muss. Mit ihrer Wahl des persönlichen Feindes Achill durchbricht sie bereits das Amazonengesetz, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der Ausgangspunkt dazu liegt nicht einmal bei ihr selbst. Zum Auszug in den Kampf vor Troja hatte die Priesterin aufgerufen, um aus dem Heer der Griechen die Gefangenen für das nächste Rosenfest zu gewinnen. Die im Sterben liegende Königin Otrere hatte ihrer Tochter und Thronfolgerin Penthesilea aufgetragen, den Tapfersten im Kampf zu besiegen und auf der Heimkehr mitzuführen. Damit war Penthesilea bereits auf Achill fixiert, ohne zu wissen, dass sich daraus etwas ganz anderes ergeben würde, als sie es nach der Amazonenkonvention erwartete.

Das idyllische Gespräch, in dem sich nun beide befinden und sich der Liebe zueinander voll bewusst werden, beruht auf einer arrangierten Täuschung. In diese Täuschung ist aber auch Achill einbezogen. Er ist sich der Ausweglosigkeit einer Liebeserfüllung ebenso wenig bewusst wie Penthesilea. Er erkennt die Vorgaben dazu bei beiden nicht. Er hat zwar erfahren, dass Penthesilea größten Wert auf den Gehorsam gegenüber dem Amazonengesetz legt, aber er hält das für eine Grille. Er ist bereit, sich von ihr als scheinbar Überwundener in ihre Heimat mitführen zu lassen, um dann aber nach dem Rosenfest mit ihr nach Griechenland zurückzukehren, wo sie an seiner Seite Königin seines Reiches sein soll.

Dieser Plan entspricht seinem patriarchalischen Bewusstsein und der Überzeugung von seiner kulturellen Überlegenheit über das Barbarentum der Amazonen. Er misst das Ganze mit seinen Maßstäben. Mit griechischer Eloquenz, so hofft er, ließe sich wohl seiner Geliebten die Grille ausreden.

Wie ganz anders sieht Penthesilea ihr Verhältnis zu Achill. Für sie ist alles bitterer Ernst. Ihr Inneres ist auf einen absoluten Wahrheitsanspruch abgestimmt, der für ein Täuschungsspiel, und geschehe es auch in bester Absicht, keinen Raum hat. Aber in ihrem Liebestraum entgeht ihr andererseits, dass für eine Liebeserfüllung mit Achill keine Hoffnung besteht. Sie denkt nicht über das Rosenfest hinaus, nach dem sie sich ja von dem Geliebten trennen müsste, ganz abgesehen davon, dass er ja kein Anonymus ist, wie das Amazonengesetz fordert. Die Maßstäbe, mit denen sie misst, sind noch viel verworrener als die des Griechen.

Das träumerische Idyll wird von außen aufgebrochen und zerstört. Ein Trupp der Griechen naht heran, um den vermeintlich in die Hände der Amazonen geratenen Achill zu befreien. Als aber wiederum die Amazonen siegreich vorrücken, befiehlt Achill, Penthesilea ins griechische Lager zu bringen, aber sie wird von ihren Kampffrauen befreit.

Als diese ihre Königin zurückgewonnen haben und darüber triumphieren wollen, finden sie eine völlig verwandelte Penthesilea vor, die ihnen die bittersten Worte entgegenschleudert:

Verflucht sei dieser schändliche Triumph mir!
Verflucht jedwede Zunge, die ihn feiert,
Die Luft verflucht mir, die ihn weiterträgt.

Zu ihrer äußersten Demütigung macht ihr die Oberpriesterin bewusst, wie sehr sie mit ihrer Liebe zu Achill gegen das Amazonengesetz verstoßen hat:

Nicht bloß. dass du, die Sitte wenig achtend,
Den Gegner dir im Feld der Schlacht gesucht,
Nicht bloß, dass du, statt ihn in Staub zu werfen,
Ihm selbst im Kampf erliegst, nicht bloß, dass du
Zum Lohn dafür ihn noch mit Rosen kränzest:
Du zürnst auch deinem Volke noch,
Das deine Ketten bricht, du wendest dich,
Und rufst den Überwinder dir zurück.
(19. Szene)

Als die Geschmähte dann noch erfährt, dass durch ihre Schuld alle Gefangenen von den Griechen befreit worden sind, bleibt ihr nur die tiefste Scham:

Ich will in ewge Finsternis mich bergen! (19. Szene)

Doch das Schlimmste steht ihr noch bevor, obwohl es groteskerweise als Rettung ausgedacht war. Achill, der nun erfahren hat, dass er Penthesilea nur gewinnen kann, wenn er als im Kampf Besiegter zu ihren Füßen liegt, will ihr den Gefallen tun und sich zum Schein von ihr überwinden lassen. Er lässt sie durch einen Herold zu einem weiteren Zweikampf herausfordern, der für ihn nur ein Scheinkampf sein sollte. Aber so gut dieser Plan gemeint und Ausdruck seiner wirklichen Liebe ist, Achill beweist damit, dass er Penthesileas Wesen völlig falsch einschätzt. Was er als weiteres Täuschungsspiel im Sinn hat, kann Penthesilea nicht durchschauen. Sie vermag in dieser vorgetäuschten Kampfansage nur schmählichen Verrat an ihrer Liebe zu erkennen.

Penthesilea ruft mit allen Zeichen des Wahnsinns den väterlichen Kriegsgott Ares zur Hilfe an, dass sie

wie ein Donnerkeil aus Wetterwolken,
Auf dieses Griechen Scheitel niederfalle!

Und sie bietet den ganzen Schreckenspomp des Kriegs zu seiner Vernichtung auf: Bluthunde, Elefanten, Sichelwagen.

Was nun geschieht, ist Ausdruck tiefster geistiger Verwirrung, in der Verstand und Bewusstsein ausgeschaltet sind und nur ein atavistischer Vernichtungswille herrscht. Als sich Achill ihr nähert, der nur zum Schein mit einem Spieß sich arglos ausgerüstet, erkennt er zu spät, was ihn erwartet. Er versucht zu fliehen, aber Penthesilea jagt ihm einen Pfeil durch den Hals und hetzt die Hunde auf ihn, und er stürzt.
Und dann geschieht das Allerentsetzlichste, das nicht auf der Bühne dargestellt, sondern nur aus dem Munde eine Zeugin wiedergegeben werden kann:

Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend,
Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust,
Sie und die Hunde, die wetteifernden,
Oxus und Sphinx den Zahn in seine rechte,
In seine linke sie ...
(23. Szene)

Was jetzt noch erfolgt, ist ein Erwachen Penthesileas wie aus einem Albtraum. Zunächst ist ihr nicht bewusst, was geschehen ist. Sie glaubt nicht, ihn selbst getötet zu haben, bis die Oberpriesterin das Amt übernimmt, sie über den wahren Sachverhalt aufzuklären. Nun geht ihr langsam auf, was Unerhörtes geschehen ist, aber auch, dass darin ein tiefer Sinn liegt, dass die Extreme beieinander liegen können:

Küsst ich ihn tot?
...
Küsse, Bisse,
das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,
Kann schon das eine für das andre greifen.
...
Wie manche, die am Hals des Freundes hängt,
Sagt wohl das Wort: sie lieb‘ ihn, oh, so sehr,
Dass sie vor Liebe gleich ihn essen könnte
...
Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien.
(24. Szene)

Der Ton, in dem Kleist sie hier sprechen lässt, ist ein anderer als der, mit dem die zutiefst Beleidigte, Empörte, Aufgewühlte ihr Schlachtarsenal auf den geliebten und gehassten Feind hetzte. Wie von einer anderen Penthesilea spricht eine der Amazonenpriesterinnen:

Sie war wie von der Nachtigall geboren,
Die um den Tempel der Diana wohnt.
...
Sie trat den Wurm nicht, den gesprenkelten
Der unter ihrer Füße Sohle spielte.
(23. Szene)

Der Konflikt, der sie innerlich zerrissen hat, der Widerspruch zwischen dem Amazonengesetz, das ihr heilig war, und ihrer Liebe zu Achill, die sie ebenso ganz erfüllte, ist mit dem Tod des Geliebten überstanden. Aber ein Weiterleben ist ihr nun nicht mehr möglich. Sie ist durch ihre Liebe dem Gesetz untreu geworden, und damit kann sie ihrem Volk nicht mehr angehören. So bleibt ihr am Ende nur eine Entscheidung:

Ich sage vom Gesetz der Fraun mich los
Und folge diesem Jüngling hier.
(24. Szene)

Die Art, wie sie aus dem Leben scheidet, ist so außerordentlich wie alles, was sie im Leben tat, und dem entspricht keine realistische Handlung, nur eine dichterische Idee kann dem mit nichts vergleichbaren Fall gerecht werden. Sie tötet sich nicht mit einer der Waffen, mit der sie kämpfte, das Instrument ihrer Selbsttötung liegt in ihr selbst, in ihrer Seele, die von den äußeren Bedingungen des Lebens zerstört wurde, am Ende aber zu sich selbst zurückkehrte, zu ihrem besonderen, einzigartigen Selbst. So lauten ihrer letzten Worte:

Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder,
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,
Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.
Dies Erz, dies läutr’ ich in der Glut des Jammers
Hart mir zu Stahl; tränk es mit Gift sodann,
Heißätzendem, der Reue, durch und durch;
Trag es der Hoffnung ewgem Amboss zu
Und schärf es und spitz es mir zu einem Dolch;
Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust:
So! So! So! So! Und wieder! - Nun ists gut.

(Sie fällt und stirbt.) (24. Szene)

Heinrich von Kleist hat mit diesem Werk die gewaltigste Tragödie der gesamten Literatur geschaffen. Man kann sich die Besonderheit seiner Penthesilea-Figur nur bewusst machen, wenn man sich ihre Einordnung in die deutsche Literaturgeschichte vergegenwärtigt. Sie bedeutet einen Sprung zurück.

Goethe hat drei Jahrzehnte vorher mit seiner Iphigenie die höchste Verkörperung der Humanität und Zivilisation gestaltet. Auch Iphigenie spielt eine Rolle im Zusammenhang des Trojanischen Krieges, und auch sie gerät in Konfliktsituationen, die ihr Innerstes aufwühlen und tiefgreifende Entscheidungen fordern. Iphigenie steht einen Gewissenskampf durch, an dessen Ende Vertrauen auf das Gute im anderen Menschen steht und siegt.
Mit dieser Gestalt hat Goethe nicht antike Kulturverhältnisse dargestellt, sondern ein Kunstgebilde geschaffen, in dem die Synthese antiken Erbes mit dem hochentwickelten Geist des aufgeklärten christlichen Abendlandes zum Ausdruck kommt. Archaisches oder gar Atavistisches hat darin keinen Platz mehr. Die Gegensätze lösen sich in einer geläuterten intellektuellen und emotionalen Lebenseinstellung auf.

Kleist gestaltet in Penthesilea eine Kontrastfigur zur Goethe’schen Iphigenie, die einerseits weit in mythische Zeiten zurückgreift, andererseits aber auch vorausweist auf die moderne Psychoanalyse mit dem Tiefenblick in die Abgründe der menschlichen Seele.

Kleists Penthesilea scheitert am Zusammenstoß zweier Forderungen, die sich gegenseitig ausschließen: das Amazonengesetz, das eine individuelle Wahl des Zeugungspartners verbietet, und die Liebe zu Achill. Beide Forderungen sind unbedingt, absolut, ohne Alternativen. Penthesilea ist ihrem Wesen nach so angelegt, dass sie das Bedingungslose der beiden Forderungen anerkennt, d.h. sie strebt das Unmögliche schlechthin an. Das macht sie zu einer eminent tragischen Gestalt. Die Intensität ihrer Verfolgung beider Forderungen ist so groß, dass ihr Geist, ihre Seele sie nicht aushält. Die Folge ist eine Verwirrung, die dem Wahnsinn nahekommt. Ein lösendes Vertrauen, wie es für Iphigenie möglich ist, ein Vertrauen darauf, dass Achill mit seiner Kampfansage etwas anderes vorhaben könnte als ihre Vernichtung als Feindin der Griechen, ist ihr nicht möglich, weil sie von ihrem ganzen Wesen her nur auf Eindeutigkeit angelegt ist.

Es ist auch in einem übergreifenden Sinne bezeichnend, dass diese Liebesbegegnung in Verbindung mit Krieg, Kampf und Tod erfolgt. Sie ist nur eine Episode innerhalb eines größeren kriegerischen Rahmens, der seinen Ursprung ebenfalls in einer Liebesaffaire hat: in der Entführung Helenas durch Paris, die den Trojanischen Krieg auslöst. Die Wirren dieses Krieges finden ihre Entsprechung in der inneren Verwirrung der Menschen, die an diesem Krieg beteiligt sind.


Es lässt sich nun ein Bogen schlagen von der Kleist’schen Penthesilea zur germanischen Brunhild, denn auch bei ihr löst eine verhängnisvolle Verwirrung, wenn auch anderer Art, eine Katastrophe aus. Auch im Sagenkreis um Siegfried und Brunhild treffen zwei durch ihre außerordentliche Stärke und Kampfkraft herausragende Menschen aufeinander, die auf Grund dieser Besonderheit einander zugeordnet sind.

Im Gegensatz zu Kleists einmaliger Darstellung der Penthesilea-Gestalt gibt es mehrere Versionen der Sagen von Brunhild und Siegfried, nicht nur die Version des Nibelungenlieds, sondern auch die der isländischen Sammlungen: der Edda und der Sagas. Die isländischen Texte sind jünger als das Nibelungenlied, aber sie gehen wie dieses auf ältere Vorformen zurück, die nicht schriftlich überliefert sind und allenfalls bis zu einem gewissen Grad aus den späteren Texten, die mannigfaltige Veränderungen des Ursprünglichen aufweisen, erschlossen werden können. Als frühe Form lässt sich folgende nordische Version rekonstruieren:

Sigurd, so die nordische Namensform für Siegfried, kommt an den Hof des Königs Gjuki, schließt mit dessen Söhnen Blutsbrüderschaft und heiratet ihre Schwester Gudrun - so heißt in den nordischen Texten die Kriemhild des Nibelungenliedes. Der älteste der Brüder, Gunnar (Gunther) will Brynhild zur Frau gewinnen, die, von einem Flammenwall umgeben, auf ihren Freier wartet. Sie hat geschworen, nur den zum Manne zu nehmen, der durch die Waberlohe hindurch zu ihr dringen könne.

Nachdem Gunnar vergeblich versucht hat, den Feuerwall zu bezwingen, tauscht Sigurd mit ihm die Gestalt - das ist in dieser Frühstufe für den Märchenhelden ohne weiteres möglich - und reitet durch die Flammen. Brynhild gegenüber nennt er sich Gunnar und fordert sie zur Ehe. Er teilt drei Nächte hindurch das Lager mit ihr, legt aber zwischen sie und sich selbst sein Schwert. Dann nimmt er ihr einen Ring vom Finger, reitet zu Gunnar zurück und tauscht wieder mit ihm die Gestalt. Mit Brynhild fahren sie nach Worms und feiern zweifache Hochzeit. Sigurd übergibt seiner Frau Gudrun Brynhilds Ring und erzählt ihr das Geschehene.

Bei einem gemeinsamen Bad im Rhein erklärt sich Brynhild als die Vornehmere, denn ihr Gemahl sei der Größte von allen, er habe die Waberlohe durchritten, worauf Gudrun (Kriemhild) zornig erwidert, ihr Gatte Sigurd habe den Flammenwall überwunden und er habe mit ihr, Brynhild, das Lager geteilt. Zum Beweis zeigt sie den Ring vor.

Brynhild stellt daraufhin Gunnar zur Rede und erklärt, sie wolle nicht zwei Männer haben in derselben Halle, einer müsse sterben. Gunnar beschließt nun den Tod Siegfrieds, der in der frühen Version nicht durch Drachenblut unverwundbar geworden ist. Er wird auch nicht von Högni (Hagen), sondern vom jüngsten Sohn Gjukis getötet.

Aus stark lückenhaften Texten der älteren Überlieferung lässt sich erschließen, dass Brynhild in den Freitod geht, weil sie, unwissentlich eidbrüchig, an der Seite eines Unwürdigen gelebt hat. Erst die jüngere isländische Überlieferung bringt die Liebe in das Verhältnis der nordischen Brynhild zu Sigurd.

In diesem jüngeren Strang erscheint das Motiv der Walküre. Einer der Edda-Dichter identifiziert die Schildmaid Brynhild mit der Walküre namens Sigrdrifa. Sigurd findet bei einem Ritt über das Hochland einen Menschen in voller Rüstung schlafend am Boden liegen. Als er ihm den Helm abnimmt, erkennt er eine Frau, die nun erwacht und ihn nach seinem Namen fragt. Sigrdrifa/Brynhild gibt sich ihrerseits zu erkennen: Sie sei eine Dienerin Odins, die bei einem Kampf zweier Könige gegen den Befehl des Schlachtengottes statt dem älteren dem jüngeren der beiden Kämpfer zum Sieg verholfen habe. Odin habe sie wegen dieses Ungehorsams mit dem Schlafdorn gestochen und den Bann über sie gesprochen, dass nur der sie aus dem Zauberschlaf erwecken könne, der nichts von Furcht wisse.

Sigurd erweist sich als furchtlos und schwört, Sigrdrifa/Brynhild zur Frau zu nehmen. Aber es kommt nicht zur Erfüllung dieses Schwurs. Im Gefolge dieser Liebesversion folgt Brynhild in einem weiteren Edda-Lied dem ermordeten Geliebten durch einen Flammentod auf dem Holzstoß in die Hel, die Unterwelt, den Aufenthaltsort der Gestorbenen nach germanischem Glauben.

Im Nibelungenlied ist so gut wie nichts mehr von diesen Vorstufen zu finden. Von Liebe zwischen Brunhild und Siegfried ist nicht die Rede. Es wird nur angedeutet, dass Brunhilds Auge bei der Ankunft der Besucher aus dem Süden auf Siegfried fällt, den sie damit als den ihr Ebenbürtigen erkennt mit der Erwartung, dass er um sie werben will. Als Kriemhild im Streit vor dem Domportal das Betrugsspiel Siegfrieds bei Gunthers Hochzeit aufdeckt und dabei in aller Öffentlichkeit Brunhild eine Kebse nennt, geht es um die Rache an Siegfried für die Schmach, die ihr als der Königin des Landes durch seinen doppelten Betrug bei der Freierprobe und in Gunthers Hochzeitsbett und die Nichteinhaltung des Schweigeversprechens widerfahren ist. Wenn im Nibelungenlied bei Brunhild von Eifersucht zu sprechen ist, dann nicht in Bezug auf Liebe, sondern bezogen auf den Rangstreit mit Kriemhild in der höfischen Ordnung. Damit greift der Dichter des Epos auf die älteste Vorgabe des Brunhildstoffes zurück.

Friedrich Hebbel versucht in seiner dramatischen Trilogie Die Nibelungen das Geschehen im Sinne der jüngeren Überlieferungstradition zu deuten. Er hält im Nibelungenlied das Liebesmotiv für nur verdeckt. Was im Epos ausgespart wird und völlig im Dunkeln bleibt, macht Hebbel zum Angelpunkt des Liebesdramas: Siegfried gelangte einst in der von ihm selbst erzählten Vorgeschichte zum flammenumwogten Schloss Brunhilds. Unsichtbar für die von den Zinnen herabschauende Königin, weil er seine Nebelkappe trug, ward er ihrer ansichtig. Er verließ aber eilig den Ort, und er begründet es damit, dass sein Herz von ihrer Schönheit nicht berührt wurde und er deshalb auch nicht um sie werben konnte.

Erst nach dem Streit der beiden Königinnen vor dem Domportal erfährt Brunhild von ihrer Amme Frigga, die sie nach Worms begleitet hat, dass Siegfried sie einst am Flammensee gesehen, sich aber abgewendet habe. Und nun fällt es Brunhild wie Schuppen von den Augen. Nicht die Schmach, die ihr als Königin des Landes angetan wurde, zählt jetzt, sondern die Beleidigung, die sie als Frau erfahren hat, und die Eifersucht auf die glückliche Rivalin Kriemhild.

So hat er mich verschmäht,
Denn ich war auf der Zinne, und er musste
Mich seh’n. Er war gewiss schon voll von ihr.
(Siegfrieds Tod, III,7).

Ich ward nicht bloß verschmäht,
Ich ward verschenkt, ich ward wohl gar verhandelt.

Ihm selbst zum Weib zu schlecht,
War ich der Pfennig, der ihm eins verschaffte!

Das ist noch mehr als Mord,
Und dafür will ich Rache! Rache! Rache!
(Siegfrieds Tod, III,11)

Hier berühren sich die beiden Frauengestalten Penthesilea und Brunhild.

Penthesilea:

Staub lieber als ein Weib sein, das nicht reizt. (9. Szene)

Mit dem Unterschied allerdings, dass Penthesilea zum Zeitpunkt dieses Ausspruchs noch nicht erfahren hat, dass ihre Liebe erwidert wird. Später freilich fällt sie wiederum in diese Täuschung zurück. Zweimal verfehlt sie, in ihrem Ungestüm voreilig, die Wirklichkeit: einmal bevor ihr Achill seine Gegenliebe erklären kann, zum anderen als sie nach dem Zusammenbruch der idyllischen Gemeinsamkeit an seiner bereits gestandenen Liebe zweifelt und seinen Versuch, sie zu bestätigen, missversteht.

Beider Rache, die berechtigte Vergeltung Brunhilds wie die aus einer Täuschung heraus erfolgende Rache Penthesileas, führt zum Tod des jeweils Geliebten. In der Handlung des Nibelungenlieds ist Brunhilds Rache für den doppelten Betrug und die öffentliche Schmähung mit Siegfrieds Tötung durch Hagen erfüllt. Hebbel steigert Brunhilds Rachedurst auf ein höheres Maß. Sie will auch Kriemhild mitbestrafen.

Weib, Weib, wenn du in seinen Armen
Auch eine Nacht gelacht hast über mich,
So sollst du viele Jahre dafür weinen.
(Siegfrieds Tod, III,7)

Brunhild wird vom Nibelungenlied-Dichter beinahe sang- und klanglos aus der Handlung entlassen, als mit Siegfrieds Ermordung ihre Rache erfüllt ist. Der Schwerpunkt der Ereignisse verlagert sich im Epos ganz und gar in eine andere Richtung. Als Letztes erfährt man über Brunhild:

Prünhilt diu schöne mit übermüete saz.
swaz geweinte Kriemhilt, unmære was ir daz.
sine wart ir guoter triuwe nimmer mê bereit.
sît getet ouch ir vrou Kriemhilt diu vil herzenlîchen leit.
(Str. 1100)

In stolzer Genugtuung saß die schöne Brunhild jetzt auf ihrem Thron und kümmerte sich nicht darum, dass Kriemhild bitter weinte. Niemals wieder war sie dazu zu bewegen, freundschaftlich mit ihr zu verkehren. Später wurde auch sie von Frau Kriemhild in das tiefste Leid gestürzt.

Der Dramatiker Friederich Hebbel gestaltet diesen Rückzug Brunhilds aus der Handlung bühnengerecht. Nach ihrem letzten hochdramatischen Auftritt mit dem dreimaligen Schrei nach Rache für ihre Schmach und ihrer Erklärung an Hagen, der zur Tötung Siegfrieds bereit ist, „Ich ess’ nicht mehr, bis Ihr den Spruch vollzieht“ (Siegfrieds Tod, III,10) wird nur noch über sie gesprochen, allerdings in einer Weise, die sie in die Nähe der mythischen Penthesilea rückt. Hagen erkennt ihr tief heidnisches Wesen, das in seinen Augen ihr Rachebedürfnis bestimmt:

Sie liegt in seinem Bann, und dieser Hass
Hat seinen Grund in Liebe!

Doch ist’s nicht Liebe, wie sie Mann und Weib
Zusammenknüpft.

Ein Zauber ist’s,
Durch den sich ihr Geschlecht erhalten will,
Und der die letzte Riesin ohne Lust
Wie ohne Wahl zum letzten Riesen treibt.
((Siegfrieds Tod, IV,9)

Nach Siegfrieds Ermordung verschwindet Brunhild von Hebbels Bühne. Ihre Rivalin Kriemhild, die von nun an zunehmend die Szene beherrscht, spricht aus, was sie zu ihrem Schmerz an Siegfrieds Totenbahre vom Triumph Brunhilds aus dem Hintergrund wahrnimmt: „Sie isst und trinkt und lacht.“ (Siegfrieds Tod, V,7).

Richard Wagner greift für die Handlung seiner Oper Der Ring des Nibelungen auf nordische Vorlagen zurück, bei denen diese gewaltige Gestalt spektakulärer abtritt. Am Ende des dritten Teils, der „Götterdämmerung, lässt Brünnhilde einen mächtigen Scheiterhaufen errichten, in den sie eine Brandfackel wirft. Mit ihrem Ross Grane reitet sie in die lodernden Flammen, um sich im Tod mit Siegfried aufs Neue zu vermählen.

Im Nibelungenlied geht aus der vollzogenen Rache, mit der sich Brunhild zufrieden gibt, eine andere Vergeltung hervor, die in ihren Dimensionen die der Brunhild bei weitem übersteigt. Die Rache Kriemhilds für die Ermordung ihres geliebten Ehemanns entfacht sich daraus wie eine Feuersbrunst, die unaufhaltsam über ihren persönlichen Bereich hinaus alles in Tod und Asche verwandelt. Die atavistische Grausamkeit der Penthesilea bei der Tötung Achills hat ihre Entsprechung in der Vernichtungsorgie Kriemhilds, in der am Ende des Nibelungenlieds alle Burgunder untergehen.

Den letzten Aspekt meiner Ausführungen verdanke ich einem Beitrag, mit dem die in der neuen Nibelungenliedforschung aktive Ursula Schulze 2001 beim dritten Wormser Symposium überraschte unter dem Titel: „Brünhild - eine domestizierte Amazone“.

Adam von Bremen, ein Geschichtsschreiber des 11. Jahrhunderts, erwähnt neben historischen Fakten seiner Zeit auch Phantasiegeschichten von Seeleuten, in denen Amazonen ihren Spuk treiben. Die Amazone erscheint hier als verlockendes Weib am Rande der bewohnten Welt mit übergroßer Kampfstärke, gegen die auch der tapferste Bewerber keine Chance hat mit der Folge, dass er seine Annäherung mit dem Leben bezahlen muss. Die Amazone verdankt ihre mythische Kraft ihrer Jungfräulichkeit. Es kommt ihr nicht darauf an, einen ebenbürtigen Partner zu finden, sondern ihre Unberührtheit zu bewahren.

Mit diesem im zeitlichen Vorfeld des Nibelungenliedes bekannten Amazonenmythos bringt Ursula Schulze die Brunhild-Gestalt in Verbindung. Brunhild wohnt in einer Randzone der damaligen Zivilisation, sie ist übermäßig stark und tötet ihre Bewerber. Nach Ursula Schulze ist bei ihr die Jungfräulichkeit das zentrale Motiv. Das zeigt sich bereits bei der Freierprobe: Brunhild erkennt spontan in Siegfried den ihr Ebenbürtigen, der um sie werben will, aber gleichzeitig äußert sie die Absicht, ihn zu töten.

unt ist der starke Sîfrit komen in diz lant
durch willen mîner minne, ez gât im an den lîp
(Str. 416)

Wenn der starke Siegfried in dieses Land gekommen ist, um meine Liebe zu erringen, so muss er sterben.

Erst recht kommt diese Absicht Brunhilds in der Szene mit Siegfried in Gunthers Hochzeitsbett zur Geltung. Siegfried hat die Aufgabe, die widerspenstige Brunhild für Gunther gefügig zu machen. Er ringt sie nieder, und der Kampf endet damit, dass er ihr Ring und Gürtel wegnimmt, worauf sie zu einer ganz normalen Frau wird.

Es fragt sich, ob Ring und Gürtel mythischen Ursprungs sind, ob sie der Trägerin die übermenschliche Kraft verleihen. Das wird vom Dichter im Dunkeln gelassen. Vielmehr geht es, so meint Ursula Schulze, um etwas anderes beim nächtlichen Kampf Siegfrieds mit Brunhild. Wenn die Kraft der Frau nicht von mythischen Attributen stammt, dann liegt sie in der Jungfräulichkeit, einer mythisch begründeten Kraftquelle der Frau, die Brunhild vehement verteidigt, und die Überwindung durch Siegfried kann nur in Form einer Defloration erfolgen, durch die diese Kraft erlischt. Die vorausgegangene Abmachung zwischen Siegfried und Gunther, dass Siegfried Brunhild nur niederzwingen, der Geschlechtsakt aber Gunther vorbehalten bleiben soll, hält Ursula Schulze für ein bloßes Zugeständnis des Dichters an die höfische Moral der Stauferzeit.

Sie macht auf eine Textstelle des Nibelungenliedes aufmerksam, in der aufschlussreiche Gedanken Siegfrieds zur Sprache kommen, als ihn Brunhild in äußerste Bedrängnis bringt und er seine letzte Kraft einsetzen muss, um mit dem Leben davonzukommen.

Owê, dâht der recke, soll ich nû mînen lîp
von einer magt verliesen, sô mugen elliu wîp
her nâch immer mêre tragen gelpfen muot
gegen ir manne, diu ez sus nimmer getuot
(Str. 673)

„Wehe“, dachte der Recke, „wenn ich jetzt mein Leben durch eine Jungfrau verliere, dann werden künftig alle Frauen gegenüber ihren Männern übermütig, die es bisher nie waren.“

Es geht also in diesem Kampf um mehr als nur um Siegfrieds Leben, es geht um die Behauptung der männlichen Herrschaft über das weibliche Geschlecht. Siegfried ist sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst. Er verteidigt die patriarchalische Weltordnung.

Hier treffen sich die beiden männlichen Partner bei Kleist und im Nibelungenlied. Auch der Grieche Achill hat das Ziel, Penthesilea seinem Willen unterzuordnen, sie aus ihrem barbarischen Weiberstaat herauszuholen und in sein griechisches Kulturland zu führen, in dem die Männer das Sagen haben. Es ist dabei Täuschung und Betrug im Spiel, wenn auch die Rechtfertigung dafür in Achills Liebe zu Penthesilea liegt. Bei Siegfried wiegt der Betrug schwerer, denn er missbraucht bedenkenlos seine außerordentliche Kraft dazu, die ihm ebenbürtige überstarke Brunhild zu schwächen und einem Unwürdigen auszuliefern. In beiden Fällen sind es die Männer, die die verhängnisvolle Verwirrung bei den betroffenen Frauen auslösen. Beide Männer legen es darauf an, eine Amazone zu zähmen, aber beide müssen dieses Unterfangen mit dem Leben bezahlen.

Das Grundthema der beiden Werke, der Kleist‘schen Tragödie wie des Nibelungenlieds, ist der immerwährende Krieg der Geschlechter. Die Dichtung spiegelt die Wirklichkeit. Im Buch und auf der Bühne wird dieser Krieg durch fiktive Modellfiguren in großartig erfundenen Handlungen ausgetragen, im realen Leben fordert der Geschlechterkampf eher als zermürbender Kleinkrieg seine namenlosen Opfer.