Kriemhild
& Medea
Rückfall ins Barbarische


Ein Vortrag von Erwin Martin

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Delacroix, Medea tötet ihre Kinder, 1862 ..


In der Tragödie des Aischylos wird das mythische Geschehen um einen berühmten Mordfall auf besondere Weise zur Schau gestellt. Worum geht es? Als die zur Fahrt nach Troja vereinten Griechen im Hafen von Aulis bereit liegen, bleibt der Wind für ihre Segel aus, weil Agamemnon, der Oberbefehlshaber, den Zorn der Göttin Artemis auf sich gezogen hat. Um die Erzürnte zu besänftigen, muss ein Mensch als Opfer dienen. Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie. Damit zieht er sich den Hass seiner Frau Klytemnestra zu, die ihn bei seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg gemeinsam mit ihrem Geliebten Aigisthos im Bade erschlägt. Diese Mordtat ruft den Sohn Orestes als Rächer auf den Plan. Orestes tötet seine Mutter Klytemnestra, und zwar auf göttlichen Befehl: Der Gott Apollon steht hinter diesem Akt der Blutrache. Trotzdem wird Orestes als Muttermörder von den Erinnyen, den Rachegeistern, grausam verfolgt, bis er sich in Athen dem Gericht stellt.

Die Gerichtsszene ist nun der Schwerpunkt der ganzen Handlung. In Athen hat ein Machtwechsel stattgefunden. Der Adelsrat, der bisher die Gerichtsbarkeit innehatte, wurde vom Areopag, einem Gremium von Richtern aus dem Volk, abgelöst. Aischylos bringt nun einen Prozess auf die Bühne, in dem ein Rechtsfall nicht nach der Willkür einer Kaste, sondern auf der Grundlage der Vernunft verhandelt wird. Das Phänomen der Rache wird nicht mehr als emotionales Triebmotiv, sondern als rational zu analysierender Tatbestand zum Verhandlungsgegenstand gemacht, und zwar im Wechselspiel von Anklage und Verteidigung.

An dieser fiktionalen Gerichtsverhandlung nehmen aber nicht nur Menschen, sondern auch Götter als oberste Rechtsinstanzen teil. Ankläger sind die Erinnyen, die den göttlichen Auftrag haben, Mörder zu verfolgen; Verteidiger des Muttermörders Orestes ist der Gott Apollon; Pallas Athene, die Schutzgöttin der Stadt Athen, ist die höchste Richterinstanz. Am Ende des Prozesses wird Orestes freigesprochen: Die Verpflichtung zur Rache für seinen schmählich umgebrachten Vater befreit ihn laut Gerichtsurteil von der Strafverfolgung als Muttermörder.

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass das Motiv der Rache anerkannt wird, dass Rache für einen Mord nicht verwerflich, sondern verpflichtend ist, nur mit dem Unterschied gegenüber archaischen Ursprungszeiten, dass nicht spontane Emotionalität allein zur Rechtfertigung der Rachetat ausreicht. Jetzt muss nüchtern und sachlich geprüft werden, was im Einzelnen die Beweggründe dafür waren, um schließlich zu einem gerechten Urteil zu kommen. Insofern bleibt also die Rache als rechtmäßiges Prinzip erhalten, aber als Vergeltung, die nicht der Einzelne in willkürlicher Selbstjustiz wahrzunehmen hat, sondern das Gericht als überpersönliche Instanz der Gemeinschaft. So wurde die Rache in gezügelter Form in das Recht übergeführt.

Die Orestie des Aischylos wurde erstmalig 458 v. Chr. aufgeführt. Drei Jahrzehnte später entstand die Tragödie um eine andere Gestalt der griechischen Mythologie: das Bühnenstück Medea des Euripides von 431. Auch hier spiegelt sich die Zeitgeschichte. Jetzt geht es nicht mehr um die Präsentation einer staatlichen Ordnung, sondern um die Reaktion auf Zersetzungserscheinungen in der griechischen Kultur. In der MedeaTragödie des Euripides geht es um den Zusammenprall zweier Kulturen: der griechischen mit einer barbarischen, wobei die griechische durchaus nicht in bestem Licht erscheint.

Die Königstochter Medea steht in einem mythischen Familien und Schicksalszusammenhang, der von Anfang an durch Gewalttaten gekennzeichnet ist. Es beginnt mit einem Streit um die königliche Herrschaft im tessalischen Jolkos. Der jüngere Stiefbruder Pelias raubt dem rechtmäßig eingesetzten älteren Aeson den Thron. Dieser rettet seinen kleinen Sohn Jason vor der Verfolgung des Usurpators, indem er ihn dem Kentauren Chiron zur Erziehung anvertraut.

Der achtzehnjährige Jason kehrt in die Vaterstadt Jolkos zurück und verlangt von Pelias die Rückgabe der Herrschaft. Pelias lenkt scheinbar ein, stellt aber die Bedingung, dass Jason das Goldene Vlies aus Kolchis, einem Land am Schwarzen Meer unweit vom Kaukasus, nach Griechenland zurückhole. Der auf Abenteuer begierige Jason willigt in dieses gefährliche Unterfangen ein, lässt ein Schiff bauen, das den Namen Argo erhält, und begibt sich mit einer Schar erlesener Helden, den Argonauten, auf die Reise.

Bei der Ankunft in Kolchis erwartet Jason erneut eine Mutprobe. Der König Aietes, Sohn des Sonnengottes Helios, pflegt mit zwei feuerschnaubenden Stieren einen Acker zu pflügen, in den er Drachenzähne einsät. Aus diesen Zähnen wachsen dann gepanzerte Männer hervor, die getötet werden müssen. Jason soll nun diese aussichtslose Aufgabe übernehmen.

In diesem Augenblick tritt Medea auf den Plan, die Tochter des Königs Aietes. Sie ist zauberkundige Priesterin der düsteren Göttin Hekate. Medea verliebt sich in den strahlenden Helden Jason und hilft ihm mit ihrer Zauberkunst, die von ihrem Vater gestellte Aufgabe zu erfüllen. Als dann der König die Herausgabe des Vlieses trotzdem verweigert, raubt es Jason. Wiederum hilft Medea, indem sie den hundertäugigen Drachen einschläfert, der das Goldene Vlies, ein aus Gold bestehendes Widderfell, bewacht. Jason muss nach diesem Raub fliehen. Die von tiefer Liebe ergriffene Medea verlässt mit ihm ihre Heimat. Ihr Bruder wird als Verfolger in einen Hinterhalt gelockt und getötet. Medea wirft den zerstückelten Leichnam über Bord, um ihren Vater bei der Verfolgung aufzuhalten.

Als Jason in seiner Heimatstadt Jolkos seinem Onkel das Vlies übergibt, verweigert ihm Pelias, der inzwischen Jasons Vater Aietes mit dessen Familie in den Tod getrieben hat, wiederum die Herrschaft. Dafür übernimmt nun Medea die Rache: Sie lässt ihre Zauberkünste spielen, denen Pelias zum Opfer fällt. Abermals müssen Jason und Medea fliehen und finden schließlich Aufnahme und Schutz in Korinth. Hier leben sie zunächst in glücklicher Ehe, aus der zwei Kinder hervorgehen.

Soweit die Vorgeschichte, die man kennen muss, um die Handlung der Tragödie des Euripides zu verstehen, die hier mit einer dramatischen Wende einsetzt. Jason hat sich der Tochter des Königs Kreon zugewendet, und die Hochzeit steht bevor. Medea soll nun mit ihren Kindern des Landes verwiesen werden. Alles, was sie bisher bedenkenlos aus Liebe zu Jason getan hat, wird ihr als Greueltaten zur Last gelegt. Dieser Bewertungs und Perspektivenwechsel, diese Ummünzung ist das Kernstück der Handlung. Die griechische Kultur tritt in Konfrontation mit dem Barbarentum. In Konfrontation tritt auch das griechische Selbstbewusstsein der kulturellen Überlegenheit mit der Angst der Griechen vor der Unberechenbarkeit des Zauberwesens, das sich in der düsteren, den Griechen fremd gebliebenen Medea verkörpert. König Kreon begründet die Ausweisung Medeas mit dieser Angst:

Ich fürchte was verhüll‘ ich meine Worte noch?
Du schaffest meiner Tochter unheilbares Leid.
...
Du bist in mancher Tücke wohlerfahr‘n und schlau;
...
Auch sagten meine Boten mir, du drohest uns,
Dem Vater und der Tochter und dem Bräutigam,
Unheil. Ich will mich hüten, eh‘ uns dieses trifft ... (v. 285 ff.)

(Zitate zu „Medea“ nach: Euripides, Medea, Deusch von J. J. C. Donner, Reclam UB Nr. 849)

Nun setzt die Gegenreaktion Medeas ein, mit der sie die Befürchtungen Kreons nicht nur bestätigt, sondern in ihrem Ausmaß noch übertrifft. Wozu Medea fähig und bereit ist, mündet ins Unvorstellbare für das Denken und Fühlen der Griechen. Deren klassisches Ideal ist die Mitte zwischen den Extremen; zum Ethos der ausgewogenen Mitte, in der das Gute und Schöne seinen Ort hat, haben sich die Griechen mühsam durchgerungen. Das Extreme ruft ihr Entsetzen hervor.

Dass allerdings die Menschen dieser Zivilisationsstufe durchaus nicht alle gut und edel sind, zeigt sich an den Kontrahenten Medeas. Jason und Kreon fordern mit ihren problematischen Äußerungen die extreme Reaktion der Barbarin Medea heraus.

Jason wird eidbrüchig, er bricht die Ehe mit Medea zugunsten einer anderen Frau, und er überlässt die Fremde, der er Schutz in seiner Heimat zugesichert hat, mit ihren Kindern, die ja auch seinen eigenen sind, einem unberechenbaren, grausamen Schicksal.

Kreon weiß ebenfalls, was die Ausweisung für Medea bedeutet, auch er muss sich der Herzlosigkeit bezichtigen lassen. Allerdings erklärt er sich im weiteren Gespräch mit Medea zu einem bescheidenen Kompromiss bereit. Er mildert seine ursprüngliche Forderung einer sofortigen Ausweisung ab und gewährt Medea einen Tag Frist. Er ahnt zwar, dass er damit einen Fehler begeht, kann aber nicht wissen, dass er Medea damit die Möglichkeit gibt, einen Racheplan in Gang zu setzen.

Doch tritt zunächst noch Jason auf den Plan. Er erklärt sich völlig einig mit Kreons Ausweisungsbeschluss und teilt ihr seine Einstellung mit:

Doch halte dich für glücklich, nur mit Bann und Acht
Zu büßen deine Schmähungen der Könige!
Ich suchte stets, der aufgebrachten Herrscher Grimm
Dir abzuwehren, wünschte, dass du bliebest hier;
Du aber lässt von deiner Torheit nimmer ab
Und redest schlimm vom König; drum verbannt er dich.
Doch weigr‘ ich jetzt auch meinen Dienst den Freunden nicht
Und komme, Frau, für Euer Wohlergehn besorgt,
Damit du samt den Kindern nicht vermögenslos
Und hilfsbedürftig fliehen musst ... (v. 447 ff.)

Medea durchschaut diese Vortäuschung einer edlen Gesinnung und nennt ihn eine Memme und seine angebliche Großherzigkeit eine pure Unverschämtheit. Sie ruft ihm nun ins Gedächtnis, was er ihr verdankt: eine Serie von Liebestaten, mit denen sie sich auf immer den Rückweg in die geliebte Heimat versperrte, weil sie die Ihren betrogen und getötet hat.

Dem hält nun Jason eine andere Rechnung entgegen. Er formuliert den Eigendünkel der Griechen, der bei aller Berechtigung eines hohen Kulturbewusstseins mit beleidigender Verachtung auf Nichtgriechisches herabsieht.

Nun aber hast du Größres, als du mir gewährt,
Von mir empfangen, wie ich dir beweisen will.
Vorerst, in Hellas wohnst du statt im traurigen
Barbarenlande, lerntest Recht und Sitte hier
Und dem Gesetz gehorchen, nicht der rohen Kraft.
Auch kennt in Hellas jeder dich als kluge Frau
Und Ruhm gewannst du. Wenn du stets am fernsten Saum
Der Erde wohntest, würdest du niemals genannt. (v. 527 ff.)

Daran knüpft er die Rechtfertigung seiner neuen Ehe:

Welch größres ungeahntes Glück erlangt‘ ich wohl
Als einer Königstochter Hand, ich Flüchtiger?
... ich wollte, dass wir hier
Ohn‘ Mangel und in Ehren lebten ...
Die Söhne wollt‘ ich würdig meines Stamms erzieh‘n
Und Brüder deinen Kindern zugesellen, sie
Gleichstellen beide und, den Stamm vereinigend,
Des Glückes froh sein ... (v. 546 ff.)

Abschließend zeigt er weitere Großmut:

Doch willst du Hilfe für die Kinder oder dich,
Aus meiner Habe dargereicht für eure Flucht,
So rede; willig geb ich euch mit voller Hand ... (v. 603 ff.)

Das alles macht auf Medea keinen Eindruck, sie hat die Falschheit Jasons längst erkannt und weist dessen Hilfeangebot stolz zurück:

... Oh, gib mir nichts!
Denn bösen Mannes Gabe bringt niemals Gewinn. (v. 610 f.)

Der Gedanke, sich an den Korinthern zu rächen, wird begünstigt durch das Auftreten des Königs Ägeus von Athen, der von Delphi her unterwegs ist, wo er das Orakel wegen seiner Kinderlosigkeit befragt hat, und nun über Korinth weiterziehen will, um sich bei einem in dieser Materie Kundigen den rätselhaften Zauberspruch von Delphi deuten zu lassen. Medea sieht in dieser Begegnung eine Chance zur eigenen Rettung. Sie verspricht Ägeus, der das Verhalten Kreons und Jasons verurteilt, ihm durch ihre übernatürlichen Kräfte zum gewünschten Nachwuchs zu verhelfen und versichert sich dadurch gastfreundliche Aufnahme in Athen. Mit dieser Aussicht kann sie nun beginnen, ihren Racheplan durchuführen. Sie gebraucht dazu List und Tücke.

Dazu gehört zunächst, dass sie Jason in einem weiteren Gespräch die Reumütige vorspielt. Sie bittet ihn, dafür zu sorgen, dass die Kinder im Land bleiben dürfen. Zur Mithilfe soll die Tochter Kreons eingeschaltet werden. Medeas Kinder sollen ihr Brautgeschenke von Medea überbringen: einen goldenen Haarschmuck und ein Festgewand. Jason ahnt nicht, dass es sich dabei um tödliche Gaben handelt. Zunächst werden die Kinder dann tatsächlich von der Verbannung losgesprochen, aber darum ging es Medea gar nicht. Kurz darauf setzt sich ihr Vernichtungswerk in Gang: Die Königstochter verbrennt in den Flammen, die aus dem zugesandten Schmuck und dem Kleid schlagen, und der Vater wird mitversengt, als er seiner Tocher zu Hilfe kommen will.

Doch Jason ist in Medeas Augen damit noch nicht genug bestraft. Das Ärgste, das sie ihm antun will, erfolgt jetzt erst: Medea tötet seine Söhne. Bevor sie sich dazu entschließt, ist sie hin und hergerissen zwischen ihrer Mutterliebe und ihrem Hass auf alles, was mit Jason zu tun hat. Sie schwankt zunächst, welche Auswege ihr offenstehen, ob sie die Kinder dem verhassten Vater überlassen und alleine ins Elend gehen oder ob sie sie mit sich führen soll:

O Kinder, liebe Kinder, ihr habt Haus und Stadt,
Worin ihr wohnen werdet, mich Unglückliche
Verlassend, eurer Mutter allezeit beraubt!
...
Umsonst, ihr Kinder, hab ich aufgezogen euch,
Umsonst geduldet, mich in Mühen abgehärmt
Und herbe Qual ertragen, als ich euch gebar!
Wohl trug ich Jammervolle mich mit Hoffnungen
Gar oft, im Alter würdet ihr mich pflegen einst,
Mich wohl bestatten, wenn ich abgeschieden bin.

Doch dann kommt der Gegengedanke bei ihr auf:

Nein, nein, ich kann nicht! Fahre wohl, mein voriger
Entschluss! Die Kinder führ ich aus dem Lande weg.
Was brauch ich, dass ihr Vater um ihr trübes Los
Sich härme, zweifach bittres Leid mir anzutun?

Darauf folgt die dritte Stufe ihres inneren Kampfes, der aber damit noch nicht beendet ist:

Was aber tu ich? Soll man mich verlachen, dass
An meinen Feinden ich nicht grause Rache nahm?
Es muss gewagt sein! Weh, dass ich so feig jetzt bin,
Den weichen Stimmen Raum zu leih‘n in meiner Brust!
...
Nicht durch ein feig Erbarmen schänd ich meine Hand.
...
Ach, ach! Nein, nein, o Seele, denke dies Verwegne nicht!
O lass die Kinder, schone sie, Unselige!
Mit dir im Banne lebend, sind sie Wonne dir.
Nein, bei den Rachegeistern dort in Hades‘ Nacht,
Nie soll’s geschehen, dass ich meine Kinder selbst
Hingebe, meinen Widersachern zum Gespött!
...
Noch einen Gruß den Söhnen! Reicht, ihr Kinder, reicht
Der Mutter eure Rechte, sie zu küssen, dar!
O liebe Hände, lieber Mund, liebreizende
Gestalt, o meiner Kinder edles Angesicht!
...
Geht, geht, ihr Kinder! Ich vermag nicht länger mehr
Euch anzuschauen, ich erliege meinem Leid.
Wohl fühl ich, welchen Greuel ich vollbringen will;
Doch über mein Erbarmen siegt des Zornes Wut,
Die stets die größten Leiden bringt den Sterblichen. (v. 996 1052)

Nun erfolgt zuerst die Vernichtung ihrer Rivalin, denen Medeas Kinder die unheilbringenden Geschenke bringen, dann erreicht Medea mit der Tötung ihrer Kinder den Höhepunkt ihrer Rachetaten. Voraus geht der letzte Widerstreit in ihrer Seele:

Ihr Teuren, fest steht mein Entschluss, die Kinder
Schnell zu töten und dann fortzueilen aus dem Land.
Nicht träge zaudernd geb ich meine Kinder hin.
Will nicht von einem Feinde sie gemordet sehn.
Es gilt, sie müssen sterben; und muss dieses sein,
Will ich sie selbst ermorden, ich, die sie gebar!
Wohlan, mein Herz, nun wappne dich! Was zögern wir
Noch mit der Tat, der grausen, der notwendigen?
Ergreif dein Schwert, du meine jammervolle Hand.
Ergreif es, eile zu des Lebens düsterm Ziel,
Sei nicht verzagt, bedenke nicht, wie teuer dir
Die Kinder waren, dass du sie gebarst! Vergiss
Nur dieses kurzen Tages Frist die Kinder und
Dann weine! Tötest du sie auch, so waren sie
Dir teuer doch. Ich bin, ach, ein unglücklich Weib!

Schließlich siegt, ausgelöst von Jasons Scheinheiligkeit, mit der er seine Falschheit zudeckt, das wilde Rachebedürfnis, das dann geradezu Triumphe feiert. Als er sie für ihre Bluttat zur Rechenschaft ziehen will, erscheint sie, die Enkelin des Sonnengottes, mit den Leichen ihrer beiden Kinder auf einem Drachenwagen in der Luft. Im Streitgespräch mit Jason spricht sie nur noch von der Befriedigung ihrer Rache. Auf seinen Hinweis, dass sie durch ihre Tat auch an seinem Leid teilhat, lautet ihre Antwort:

Doch lindert es den Kummer, lachst d u meiner nicht. (v. 1336)
Jason bleibt nur die Klage und die bittere Feststellung:
Kein Weib in Hellas hätte dies jemals vermocht. (v. 1313)

Sein Wunsch, die toten Kinder zu bestatten, wird ihm nicht erfüllt. Medea wird sie im Hain der Hera beisetzen, die auf der Burg von Korinth ihren Sitz hat, um ihr Grab vor Verwüstung zu schützen. Sie wird Opferweihen und ein hohes Fest stiften als Sühne für den grausamen Mord. Medea selbst wird sich nach Athen begeben, wo ihr von König Ägeus gastliche Aufnahme eidlich zugesichert wurde. Jason kündigt sie ein bitteres Ende an. Er wird, vereinsamt und unglücklich, beim Mittagsschlaf von den morschen Trümmern des zusammenbrechenden Schiffes Argo erschlagen.

Wenn wir den Blick zurückwenden auf die Orestie des Aischylos, ergibt sich von dort ein großer Spannungsbogen zur MedeaTragödie des Euripides. Dort wird die Tragik der Verstrickung Orests in schicksalhafte Schuld gelöst durch eine kulturell fortschrittliche Institution: ein öffentliches Gericht in Athen, dem Areopag, dem nicht nur Menschen angehören, sondern auch Götter.

Es mutet grotesk an, dass Orest auf göttlichen Befehl eine Tat ausführt, die ihm dann als Schuld angerechnet und von einer anderen göttlichen Instanz verfolgt wird. In diesem Widerspruch steht nach dem griechischen Menschenbild die Tragik menschlicher Existenz. Dass göttliche Instanzen überhaupt an menschlichem Geschehen beteiligt sind, beruht auf einer Grundeinstellung der Antike, nach der es keine grundsätzliche Trennung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Bereich gibt. Schließlich sind die antiken Götter nach dem Bilde des Menschen geformt, und Könige erscheinen in den Sagen als Kinder von Göttern. Kein Wunder also, dass Begünstigungen und Benachteiligungen von Menschen durch Einwirkung von Göttern fortwährend das Geschehen bestimmen und zu Widersprüchen führen, die die Menschen verwirren. Die Götter lassen den Menschen schuldig werden durch ihr Eingreifen, aber auszutragen hat diese Schuld der Mensch.

Aischylos hat im Fall Orests diesem Wirrwarr ein Ende gesetzt durch eine Gerichtsverhandlung, in der mit rationalen Argumenten sachliche Klärung des Falls angestrebt wird. Am Ende steht bei aller Verschiedenheit der Standpunkte eine eindeutige Lösung: Orest wird von der Schuld des Muttermordes freigesprochen.

In der MedeaHandlung gibt es keine solche Gerichtsinstanz. Medea handelt autark, mit eigener Entscheidung. Ihre Potenz und Kompetenz geht allerdings über das menschliche Normalmaß hinaus. Sie verfügt über übernatürliche Kräfte, die sie ihrer Abstammung vom Sonnengott Helios und ihrer Priesterschaft im Dienste der Göttin Hekate verdankt. Als Mensch wird sie in ihrem Handeln bestimmt durch ihre Zugehörigkeit zu einem Volk auf tiefer Zivilisationsstufe, auf der man mit Emotionen und Trieben anders umgeht als in Griechenland.

Andererseits werden die Geschehnisse nicht innerhalb des Volkes der Kolcher ausgelöst, sondern durch Einwirkung der Griechen, die ins Land kommen, um einen Raub auszuführen. Ein höchst fragwürdiges Anliegen von Fremden verwickelt die einheimische Medea in Aktionen, mit denen sie sich selbst aus ihrer geliebten Heimat hinauskatapultiert. Schicksalhaft ist dabei die Liebesleidenschaft, die Jason in ihr auslöst, der diese Emotion Medeas benutzt, um seine Interessen wahrzunehmen. Seine Gegenliebe ist eher eine Begleiterscheinung, ein Mittel zum Zweck.

So sehr sich Medea schuldig macht durch Verwandtenmord und Kindestötung, sie ist durch ihre unbedingte Liebe Jason moralisch überlegen. Deshalb ist sie auch keinem Gericht unterstellt, das sie verurteilen oder freisprechen kann. Sie folgt keinem göttlichen Befehl und wird nicht von Rachegeistern verfolgt. Sie sorgt am Ende für sich selbst und ihr Weiterkommen, indem sie sich durch ihre Opfergabe Hera anvertraut. Die Griechen indessen, die sich ihr gegenüber durch Treulosigkeit, durch Undankbarkeit und Rücksichtslosigkeit schuldig gemacht haben, gehen unter. Es stellt sich die Frage, wer sich unmenschlicher gezeigt hat: die Barbarin Medea oder die zivilisierten Hellenen.

Medea bleibt auf griechischem Boden. Die Heimat am Schwarzen Meer ist ihr auf ewig verschlossen. In Athen findet sie Asyl bei einem König, um den sie sich verdient macht. König Ägeus hat lange vergebens auf Kindersegen gewartet. Medea versprach ihm, mit ihren Mitteln zur Erfüllung seines Wunsches zu verhelfen. Damit steht ihrem Vernichtungszauber eine Segenstat gegenüber, die ihr für ihr weiteres Leben Gastfreundschaft zusichert. Vielleicht kann man sagen, dass sich auf diese Weise ihr Barbarentum in die griechische Kultur integriert und in einer Synthese verschmilzt.

Von Liebe, Liebesleid, von Rache, Verwandtenmord und Kindestötung war in der MedeaTragödie die Rede. Da drängt sich ein Vergleich mit der Kriemhild unseres Nibelungenliedes geradezu auf, denn all das spielt ja auch in ihrer Lebensgeschichte eine Rolle.

Allerdings steht der in ihre ursprüngliche Heimatsphäre problemlos eingebetteten Medea in Kriemhild eine Gestalt entgegen, die sich in einer von Widersprüchen bestimmten Kulturwelt bewegt. Der Autor des Nibelungenliedes hat zwei weit auseinanderliegende Geschichtsepochen miteinander verquickt, die nur mühsam in Übereinstimmung zu bringen waren. Er versetzte die teils historischen, teils legendärmythischen Ereignisse um die Burgunder am Rhein aus dem 5. Jahrhundert in seine eigene kulturelle Geschichtslandschaft, die staufische Ritterzeit von 1200. Er übertrug Menschen mit einer vorchristlichen Gesinnung heidnischgermanischer Prägung in eine längst christianisiserte Kulturwelt. Daraus entstand die Unstimmigkeit, dass die Burgunder des Nibelungenliedes die Messe im Dom besuchen, den es zur Zeit der historischen Burgunder noch lange nicht gegeben hat, ohne den christlichen Glauben zu besitzen bzw. verinnerlicht zu haben. Ihr Denken, Fühlen und Handeln ist bestimmt durch das heidnischgermanische Ethos. Siegfried kommt in diese Welt mit seiner mythischen Vorgeschichte vom Drachenkampf. Seine Unverwundbarkeit, die darauf zurückgeht, bestimmt maßgeblich sein problematisches Verhalten bei den Burgundern.

Kriemhild ist ihrerseits von den Brüchen und Widersprüchen durch die Verquickung zweier Kultursphären mitgeprägt. Am Anfang des Epos erscheint sie als liebliches Mädchen in einer beschützenden ritterlichen Umgebung, wie sie der staufischen Kulturwelt von 1200 entspricht, aber im Verlauf der Handlung entfaltet sie sich zu einem Wesen, das zu diesem Eingangsbild immer weniger passt, schon gar nicht zu dem der vâlandinne, der Teufelin, die am Ende rachedurstig unzählige Kämpfer für den Tod ihres geliebten Gatten Siegfried büßen und sterben lässt.

Dass diese Brüche das Werk in seinem literarischen Wert nicht in Frage stellen, dass sich vielmehr alle Teile unter einem großen Bogen zu einer grandiosen Einheit zusammenfügen, ist der Genialität seines Dichters zu verdanken.

Mit Medea teilt Kriemhild eine Reihe von Eigenschaften und Verhaltensweisen. Beide zeigen Zurückhaltung gegenüber der partnerschaftlichen Liebe. Medea steht als jungfräuliche Priesterin der Göttin Hekate dem Gedanken an die Liebesverbindung mit einem Mann fern. Kriemhild äußert Skepsis gegenüber einer solchen Liebe: Es ist ihr bewusst, dass aus der Liebe oft Leid erwächst, und erklärt deshalb, sie wolle lieber ganz auf die Liebe zu einem Mann verzichten als ein unvermeidliches Liebesleid erfahren. Beide werden aus ihrer Anfangsposition herausgerissen durch die Begegnung mit jeweils dem Mann, dem sie in Liebe verfallen.

Nun könnten beider Liebesverhältnisse in Frieden und Freude bestehen, wenn die männlichen Partner nicht in fatale Situationen gerieten, von denen die Frauen nicht verschont bleiben. Medea muss wohl oder übel Jason mit ihrer Zauberkraft zu Hilfe kommen, sonst würde sie ihn verlieren, weil er unweigerlich im Kampf gegen die übermächtigen Ungeheuer auf dem Acker umkäme. Kriemhild gerät in ganz anderer Weise in die Kalamitäten des Geliebten: In der Rivalität mit Brunhild um den Vorrang beim Einzug in den Dom entzündet sie das Feuer, in dem zuerst Siegfried und am Ende alle Burgunder auf der Burg Etzels untergehen werden.

Dieser Akt Kriemhilds geschieht im Gegensatz zum Eingreifen Medeas in die Geschehnisse um Jason ohne äußere Notwendigkeit. Stolzer Übermut ist hier das Motiv, hier geht es um einen Geheimnisverrat mit staatspolitischer Brisanz, der weniger ihr als ihrem Gatten angelastet wird, denn Siegfried muss das Versprechen, über die wenig rühmlichen Umstände der Werbung und der Eheschließung Gunthers zu schweigen, gebrochen haben, wenn Kriemhild darüber Bescheid weiß. Im Streit vor dem Domportal, in dem das Prestige beider Königinnen auf dem Spiel steht, versteigt sich Kriemhild zu einer äußersten Beschimpfung der Frau des Landesherrn: Sie nennt sie eine Kebse, eine Beschläferin Siegfrieds.

Nun erfolgt die Tötung Siegfrieds, und zwar mit Notwendigkeit: Hagen muss auf Grund seines Vasallenethos, seiner germanischen Gefolgschaftstreue, die Befleckung der Ehre, die Brunhild durch den Geheimnisverrat Siegfrieds und die daraus folgende Beleidigung durch Kriemhild erfahren hat, mit dem Blut des Verursachers abwaschen.

Kriemhild bleibt im Verlauf der Geschehnisse um den Tod Siegfrieds im Rahmen ihres vorherigen Verhaltensniveaus. Der innig Liebenden entspricht nun die tief Trauernde. Allerdings bereitet sich etwas vor, was Hagen beunruhigt: Kriemhild lässt den Nibelungenschatz herbeischaffen. Hagen schöpft den Verdacht, dass sie ihn dazu benutzen könnte, eine Kämpferschar in ihren Dienst zu nehmen und gegen die Mörder ihres Mannes einzusetzen. Der Gedanke, ihr diese Möglichkeit zu entziehen, indem er den Schatz im Rhein versenkt, entspringt wie der vorherige Mordplan seinem pragmatischen Denken, das einzig das Wohl des Königshauses, des Staates im Auge hat.

Allerdings ist dabei noch etwas anderes im Spiel, das sich auf die Empfindungen Kriemhilds auswirkt. Hagen nimmt nicht die geringste Rücksicht auf die Trauer und den Schmerz der Witwe, er scheint sie im Gegenteil noch verhöhnen zu wollen, um sie dadurch aufs tiefste zu verletzen und zu kränken. Dafür gibt es keine Notwendigkeit, seine Verhaltenweise verrät hier nichts anderes als eine finstere Gesinnung. Er lässt die Leiche Siegfrieds geradezu herausfordernd vor der Kemenate Kriemhilds niederlegen. Er bekennt sich kaltschnäuzig zu seiner Mordtat, und er tritt ebenso ungerührt und gewissenlos an die im Dom aufgebahrte Leiche Siegfrieds, die bei seinem Hinzutreten aus der tödlichen Wunde zu bluten beginnt und damit den Mörder zeichenhaft kenntlich macht. Hinzu kommt bei Kriemhild die Erinnerung daran, mit welcher Heimtücke er sie dazu gebracht hatte, ihm die verwundbare Stelle auf Siegfrieds Gewand zu markieren. All das wirkt zusammen, um in Kriemhild zum Schmerz des Verlustes einen abgrundtiefen Hass auf den Mörder aufkeimen zu lassen.

Was sich in ihr in aller Stille entfaltet, ist eine Strategie der Vergeltung. Nach dem Verlust des Schatzes verschafft sich Kriemhild mit weitem Vorausblick eine neue Machtposition. Sie geht die Ehe mit dem Hunnenkönig Etzel ein.

Als die Burgunder nach dreizehn Jahren als Gäste an den Hunnenhof geladen werden, ahnt nur Hagen, dass Kriemhild ihnen allen eine Falle stellt. Die Naivität, mit der die Mitglieder des Königshauses meinen, Kriemhild habe ihnen längst den Mord an Siegfried verziehen, macht die Ausführung des Rachefeldzuges erst möglich.

Die Verlockung mit Schätzen, die in Worms durch Hagen vereitelt wurde, ist für Kriemhild bei den Hunnen möglich, da sie hier über immensen Reichtum verfügt. Sie besticht damit Heerführer Etzels, die eingetroffenen burgundischen Gäste heimlich anzugreifen, bis sich dann das große Schlachten entfaltet, in dem ganze Kampfgruppen aufgerieben werden und die Führenden in Einzelkämpfen sich gegenseitig niedermachen.

Kriemhild wächst sich in diesem Gemetzel immer mehr zur Wutschnaubenden und Blutdürstigen aus, von der immer weniger zu erhoffen ist, dass ihr dieses mörderische Treiben selbst zuviel wird. Den Gipfel erreicht ihre Hemmungslosigkeit, als sie beim Mahl des Königs mit den Gästen ihren kleinen Sohn Ortlieb, den sie als Thronerben Etzels geboren hat, herbeibringen lässt. Welche Erwartung sie damit verbindet, deutet der Dichter mit einer kurzen Bemerkung an:

dô hiez sie tragen ze tische den Etzelen sun.
wie kunde ein wîp durch râche immer vreislîcher tuon? (Str. 1912)

Da ließ sie den Sohn Etzels an die Tafel bringen. Wie hätte eine Frau, nur um Rache zu üben, schrecklicher handeln können?

(Zitate zum NL aus: Das Nibelungenlied, Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, herausgegeben, übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert, Fischer TB 6038/6039)

Etzel ist stolz auf seinen einzigen Sohn, den vier seiner Leute hereintragen. Völlig ahnungslos erklärt er seine Absicht, ihn den wieder heimziehenden Burgunden zur Erziehung bis zur Volljährigkeit anzuvertrauen. Hagen antwortet mit dem Einwand:

doch ist der künec junge sô veiclîch getân:
man sol mich sehen selten ze hove nâch Ortliebe gân. (Str. 1918)

Doch scheint mir der junge König bereits so sehr vom Tode gezeichnet, dass man mich niemals am Hofe Ortliebs sehen wird.

Als Dankwart blutbespritzt erscheint und meldet, dass die Hunnen die burgundischen Knappen in der Herberge angegriffen haben und diese im Abwehrkampf alle gefallen sind, setzt Hagen in die Tat um, was er mit Worten angedeutet hat:

Dô sluoc das kint Ortlieben Hagen der helt guot,
daz im gegen der hende ame swerte vlôz das bluot
und daz der küneginne daz houbet spranc in die schôz.
dô huop sich under degenen ein mort vil grimmec unde grôz. (Str. 1961)

Da erschlug Hagen, der treffliche Held, das Kind Ortlieb, so dass ihm am Schwert entlang das Blut auf die Hände floss und der Königin der Kopf in den Schoß flog. Da hob unter den Helden ein grimmiges, schreckliches Morden an.

Von einer Klage der Mutter über die grausame Ermordung ihres Kindes erscheint im Text kein Wort. Kriemhilds Sorge richtet sich im anschließenden Gemetzel nur auf die Rettung ihrer eigenen Haut. Sie bittet Dietrich von Bern, sie lebend hinauszubringen. Denn, sagt sie, wenn ich Hagen in die Hände falle, ist mir der Tod sicher (Str. 1983)

Kriemhild hat offensichtlich einkalkuliert, dass Hagen Etzels Sohn töten wird, mit der erhofften Folge, dass dadurch ihr gastfreundlicher Ehemann in den Kampf eingreifen und die Burgunder mit seiner Heeresmacht auslöschen werde.

Damit erreicht sie die Dimension Medeas. In beiden Fällen werden unschuldige Kinder von ihren Müttern geopfert, um damit ein Racheziel zu erreichen, bei dem diese Kinder Mittel zum Zweck sind. Dieses Mutterverhalten liegt außerhalb des kultivierten, zivilisierten, humanen Denkens und Fühlens. Es ist ein Ausdruck von Barbarentum, das keine Grenze des emotionalen Ausbruchs kennt, das atavistischen Impulsen freien Lauf lässt und jede Verantwortlichkeit gegenüber einem Sittengesetz hintansetzt.

Kriemhild geht hier sogar noch einen Schritt weiter als Medea. Medea wird vor der Ermordung ihrer Kinder hin und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen als liebende Mutter und als hassvolle Verschmähte. Kriemhild hingegen zeigt sich bar jeder mütterlichen Empfindung.

Das Nibelungenlied hat keinen stärkeren Ausdruck für sie als vâlandinne, als Teufelin, nur in diesem Begriff aus der christlichen Vorstellungswelt lässt sich das absolut Böse fassen. Unter diesem Aspekt haut sie der Waffenmeister Hildebrand des Dietrich von Bern in Stücke.

Ein Gericht, das Menschen schuldig spricht oder von Schuld freispricht, gibt es im Nibelungenlied ebenso wenig wie in der MedeaTragödie. Hildebrand, der den Todesstreich ausführt, handelt so der erste Eindruck spontan aus dem Gefühl heraus, dass gerade etwas Unerhörtes geschehen ist: dass nämlich eine Frau einen wehrlosen Helden getötet hat. Hinter dieser subjektiv scheinenden Reaktion steht aber ein objektiver Aspekt des Fehderechts.

Zunächst muss festgestellt werden, dass für die antike wie für die mittelalterliche Gesellschaft nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Rache für den Mord an einem Sippenangehörigen besteht. Orest obliegt diese Pflicht als dem Sohn des Opfers, Kriemhild muss, da niemand sonst dafür zuständig ist, ihren Gatten rächen. Dass Orest auf göttlichen Befehl die Rachetat vollzieht, ist eigentlich nur ein Ausdruck dafür, dass es sich im Selbstverständnis der Gesellschaft, in der er lebt, um eine unumgängliche Pflicht handelt.

In der vorgerichtlichen Zeit gibt es keine eindeutigen Grenzziehungen bei der Ausführung der Rachepflicht. Das Ausmaß richtet sich nach Emotionen, nach Macht und Willkür. Gerade dagegen wendet sich die Monopolisierung der Vergeltung in einer überpersönlichen staatlichen Institution, dem Gericht.

Weder für die antiken Griechen noch für die mittelalterlichen Ritter ist der Verzicht auf Rache vorstellbar. In der Orestie des Aischylos geht es um die Regulierung der Vorrangigkeit in einem Konfliktfall, in dem sich zwei Verpflichtungen widersprechen. Die Entscheidung kann nur von einer überpersönlichen Instanz getroffen werden: Orests Verpflichtung, den Mord an seinem Vater zu rächen, hat Priorität und befreit ihn von der Strafverfolgung für die Tötung der Mutter, die den Vatermord begangen hat.

Im Falle Kriemhilds gibt es keinen tragischen Widerspruch zwischen zwei moralischen Forderungen. Bei ihr geht es um ein anderes Problem. Es besteht für sie nach der bestehenden Rechtsordnung die Pflicht zur Rache für den Mord an Siegfried. Dieselbe Rechtsordnung verbietet ihr allerdings, diese Rache als Frau selbst zu vollziehen. Sie muss im Rahmen des Fehderechts erfolgen, das ausschließlich Männern vorbehalten ist.

Kriemhild muss einen Ritter finden, der in regulärem Kampf für sie den Racheakt ausführt. Erst die Verbindung mit dem Hunnenkönig eröffnet ihr Aussichten dazu. Aber alle Bemühungen darum schlagen fehl. Dietrich von Bern lehnt diesen Dienst rundweg ab:

Sîfrit ist ungerochen von der Dietrichen hant. (Str. 1902)

Durch Dietrichs Hand wird Siegfried nicht gerächt.

Der Hunne Blödel erklärt sich bereit, diese Aufgabe zu übernehmen, aber er fällt durch den Schwertstreich Dankwarts (Str. 1927). Schließlich versucht der Markgraf Iring sein Glück, aber auch er muss seinen Einsatz mit dem Leben büßen, nach erbittertem Kampf trifft ihn tödlich der Speer Hagens (Str. 2084).

Kriemhild setzt alles ein, um ihren Erzfeind in ihre Gewalt zu bekommen. Sie eröffnet ihren Brüdern Gernot und Giselher die Aussicht, mit dem Leben davonzukommen, wenn sie ihr Hagen ausliefern. Doch diese weisen ihr Ansinnen entschieden zurück: Sie würden niemals einem Freund die Treue brechen (Str. 2104 2106). Kriemhild konnte im Voraus mit dieser Ablehnung rechnen, denn ihr war ja die Denkweise ihrer Verwandten vertraut. Ihr Racheplan bezog ohnehin alle Burgunder mit ein, denn bevor sie ihren Brüder das Angebot machte, sagte sie:

Ine mac iu niht genâden! ungenâde ich hân.
mir hât von Tronege Hagene sô grôziu leit getân,
es ist vil unversüenet, die wîle ich hân den lîp.
ir müezet es alle engelten, sprach daz Etzelen wîp. (Str. 2103)

Ich will euch keine Gnade gewähren! Auch ihr seid mir nicht gnädig gewesen. Mir hat Hagen von Tronje einen so bitteren Schmerz zugefügt, dass es nicht wiedergutzumachen ist, solange ich lebe. Ihr müsst alle dafür bezahlen!

Eine seltsame Rolle spielt Dietrich von Bern am Ausgang des Nibelungenliedes. Er steht nach Gesinnung und Haltung offensichtlich auf einem anderen sittlichen Niveau als die übrigen am Geschehen Beteiligten. Er hat die am Hunnenhof eintreffenden Burgunden gewarnt, und als er sich vor Kriemhild dazu bekennt, sagt er ihr ungeniert ins Gesicht:

nu zûo, vâlandinne, du solt michs niht geniezen lân! (Str. 1748)

Nur zu, Teufelin, du kannst mich ruhig dafür strafen.

Im Text heißt es dann weiter:

Des schamte sich vil sêre daz Ezelen wîp.
si vorchte bitterlîchen den Dietrîches lîp.
dô gie sie von ihm balde, daz sie niht ensprach,
wan daz si swinde blicke an ir vîande sach. (Str. 1749)

Darüber schämte sich die Gemahlin Etzels sehr. Sie hatte sehr große Angst vor Dietrich. Da ging sie schnell von ihm fort, ohne etwas zu sagen, nur warf sie ihren Feinden böse Blicke zu.

Sie scheint sich vor der moralischen Autorität Dietrichs zu ducken. Um so überraschender ist dessen Verhalten am Ende des Epos. Dietrich überwindet die beiden letzten Burgunder Gunther und Hagen. Er fesselt sie, um sie kampfunfähig zu machen. In diesem Zustand liefert er sie Kriemhild aus. Er bittet diese zwar, das Leben der beiden zu schonen, aber er nutzt seine Autorität nicht, die vâlandinne, wie er sie bereits genannt hat, an der Ausführung ihrer Rache zu hindern, er räumt das Feld und macht dadurch ihre teuflische Handlung möglich.

Was uns heute unverständlich scheint, weil wir psychologische Stimmigkeit bei den literarischen Gestalten erwarten, erklärt Helmut Brackert (siehe a. a. O. Anm. zu Str. 2353, 2355 u. 2365) aus einer anderen Perspektive. Dietrich hat im Duktus dieser epischen Handlung eine Aufgabe: Er muss dafür sorgen, dass Gunther und Hagen der unversöhnlichen Kriemhild lebend und wehrlos ausgeliefert werden, so dass Kriemhild ihren Racheplan bis zur letzten Konsequenz durchführen kann.

Nach dieser Logik der Handlung muss der letzte Akt einen absoluten Höhepunkt in der Reihe der mörderischen Kämpfe darstellen, in denen bereits eine Unzahl tapferer Krieger einen sinnlosen Tod starben. Kriemhild lässt ihren königlichen Bruder enthaupten, angeblich im Zusammenhang mit ihrer Forderung des Nibelungenschatzes, die aber inzwischen ihren Sinn verloren hat und nur noch als Vorwand für Kriemhilds eigentliches Ziel dient, für die Rache an Hagen. Die letzte Mordtat führt Kriemhild eigenhändig aus, sie schlägt dem wehrlosen Hagen den Kopf ab. Sie tut es mit Siegfrieds Schwert und bringt damit zum Ausdruck, dass es ihr einzig und allein um die Sühne für die Ermordung ihres Ehemannes ging.

Doch mit diesem Triumph darf sie nicht überleben. Hildebrand haut sie in Stücke, wie es in der drittletzten Strophe des Epos heißt. (Str. 2377). Diese barbarisch anmutende letzte Handlung ist nicht nur eine subjektive emotionale Reaktion des Ritters, es ist der Vollzug eines Rechtsaktes an der ins Barbarische abgesunkenen vâlandinne, die alle Grenzen gesitteten Verhaltens überschritten hat und deshalb in dieser grauenhaften Weise hingerichtet wird.

Das Nibelungenlied bewertet dieses Ende eindeutig: Die zur vâlandinne gewordene Kriemhild ermordet den Helden Hagen. Auch Etzel beteiligt sich an diesem Urteil:

Wâfen, sprach der fürste, wie ist nu tôt gelegen
von eines wîbes handen der aller beste degen,
der ie kom ze sturme oder ie schilt getruoc!
swie vîent ich im waere, ez ist mir leide genuoc. (Str. 2374)

Weh, sagte der Fürst, wie darf es sein, dass der tapferste Held, der jemals in einer Schlacht stand oder einen Schild trug, jetzt hier von der Hand einer Frau erschlagen liegt. Wie sehr ich ihm auch feind war, das geht mir doch sehr zu Herzen.

Was Hagen Kriemhild einst Schlimmes angetan hat, bleibt jetzt unberücksichtigt wie das Urteil, das vom Dichter selbst nach der heimtückischen Tötung Siegfrieds über Hagen gefällt wurde: Eine so schwere Untat kann heute kein Held mehr begehen. (Str. 981). Dieser Widerspruch ist Teil eines unlösbaren schicksalhaften Geflechts von Geschehnissen, die sich nicht auf eine eindeutige Gesamtlinie bringen lassen.

Nun gibt es allerdings eine Alternative zu dieser Endbewertung. Die in den Handschriften des Nibelungenlieds als Anhang erscheinende Nibelungenklage dreht das Urteil über die beiden Hauptgestalten um. Kriemhild wird hier als Leidende gesehen, die ihrem geliebten Gatten die Treue gehalten hat. Sie wird deshalb in den Himmel aufgenommen. Hagen dagegen wird zur Hölle fahren. Hildebrand, der im Nibelungenlied die vâlandinne Kriemhild erschlägt, nennt in der Nibelungenklage Hagen einen vâlant.

Diese Umbewertung der Schuldverhältnisse in der Nibelungenklage hebt jedoch die überzeugendere Aussage des Nibelungenliedes, dem sie ohnehin als literarisches Erzeugnis weit unterlegen ist, nicht aus den Angeln. Sie lässt allerdings erkennen, dass der Ausgang des Epos für die Zeitgenossen um 1200 nicht leicht zu ertragen war. Die Lösung der Nibelungenklage ist von einem christlichen Geist getragen; der ebenfalls unbekannte Autor hat kein Verständnis mehr für die schicksalhafte Verstrickung der noch tief im germanischen Ethos verhafteten Gestalten des Epos, an dessen Ende als unausweichlicher Vollzug eines bestehenden Rechts und als Zeugnis einer Gesinnung, die weit entfernt ist von den christlichen Glaubensinhalten Vergebung und Gnade, die Hinrichtung Kriemhilds steht.

Medea dagegen lebt, ohne eine andere Wahl zu haben, weiter in der Welt, in die sie einst verpflanzt wurde, ohne innerlich auf sie eingerichtet zu sein. Sie fiel ins Barbarentum zurück, als sie alle Welt gegen sich hatte. Sie beging eine atavistische Tat, für die kein irdisches Gericht zur Sühne zuständig war. Sie kann deshalb nur ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, sich einer Gottheit anvertrauen und auf deren Schutz hoffen. Die Gewissenslast, ihre beiden Kinder getötet zu haben, und den mütterlichen Schmerz über ihren Verlust wird sie auf ewig tragen müssen.

So endet mein Vergleich der beiden Frauen Medea und Kriemhild. Sie gehören verschiedenen Zeiten und Welten an, aber sie haben Wesentliches gemeinsam: Sie werden beide aus einer unschuldigen Jugend in eine in Schuld verstrickte Gesellschaftswelt hineingezogen, aus deren Schlingen sie sich nicht mehr befreien können, und sie begehen im Gefolge grauenhafte Taten, die Mitmenschen ins Verderben ziehen. Eine Schuldzuweisung ist in beiden Fällen problematisch, denn Ursache und Wirkung im Handeln der beteiligten Gestalten verlieren sich in einem nur mühsam entwirrbaren Geflecht. Es bleibt nur die erschütternde Erfahrung menschlicher Tragik unter der Last eines unberechenbaren Schicksals.