Die Nibelungen
zwischen
Hebbel
und Rinke

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von Erwin Martin


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Festspiele Worms 2003, Foto: Rudolf Uhrig (links) ..
Festspiele Worms 1938, Bild: Stadtarchiv Worms (rechts) ..



Als die Romantiker das Nibelungenlied aus seinem jahrhundertelangen Dornröschenschlaf aufweckten, machte sich von 1810 an eine große Zahl von Schriftstellern und Dichtern daran, den Stoff des alten Epos auf die Bühne zu bringen, denn man war auf der Suche nach einem deutschen Nationaldrama. Aber es sollte doch ein halbes Jahrhundert dauern, bis ein großer Wurf gelang. Friedrich Hebbel hat das Verdienst, die dramatische Struktur in diesem Epos erkannt und in seiner Trilogie „Die Nibelungen“ angemessen herausgearbeitet zu haben. Obwohl Hebbel die Aussage des Originals nicht verändern wollte, brachte die Umwandlung zwangsläufig Abwandlungen mit sich, der Autor wob Gedanken und Motivationen seiner Zeit ein.

Jede spätere Bearbeitung des Stoffes musste nun, wenn es nicht auf bloße Wiederholung des Hebbelschen Unternehmens hinauslaufen sollte, weitere Veränderungen zum Ziel haben, die den alten Stoff in jeweils neuem Licht zeigten. Wann immer in den eineinhalb Jahrhunderten nach Hebbels Trilogie die Nibelungen auf die Bühne gebracht wurden, sie atmeten den Geist der jeweiligen Ära, Epoche oder Modeströmung und gerieten zumeist auch bald wieder in Vergessenheit, wenn sie nichts Nachhaltiges zu bieten hatten. Drei Werke aus der großen Zahl verdienen Beachtung.

Max Mell, österreichischer Schriftsteller, 1882 geboren, verfasste eine zweiteilige dramatische Dichtung mit dem Titel „Der Nibelunge Not“. Der erste Teil kam 1944 zur Aufführung, der zweite 1951. Für Mell gilt in gesteigertem Maße, was Hebbel schon anstrebte: eine Psychologisierung der Figuren. Er verleiht den Gestalten neue Gesichter und neue Gedanken, die sich aus seiner zeitgenössischen Notsituation ergeben.

Mell lässt seine Bühnenhandlung mit der Ankunft des Ehepaares Siegfried und Kriemhild aus Niederland zum Besuch am Wormser Königshof beginnen. Die Handlung entwickelt sich aus einem freundlichem Begüßungszerimoniell zur unheilvollen Lüftung des Geheimnisses um die zurückliegenden Vorgänge bei der Werbung Gunthers um Brunhild. Max Mell führt dabei die Gestalt der Brunhild in eine mythengeschichtlich frühere Bedeutungsebene zurück. Das Nibelungenlied beschränkt sich darauf, sie eine geheimnisvolle Königin des Nordens sein zu lassen, die mit außerordentlichen Kräften ausgerüstet auf den Freier wartet, der als Einziger ihr gebührt. Es ist nicht von einer Walküre die Rede, mit der sich einst Siegfried verlobt hat und die er nun bewusst oder unbewusst verschmäht. Diese Version gehört dem älteren Bestand der Edda an, und es ist ungeklärt, ob der Dichter des Epos diesen Hintergrund im Sinn hatte.
Mell lässt Brunhild wieder eine Walküre sein, die in Siegfried den würdelos in die gemeinmenschliche Welt Abgesunkenen sieht, und versucht, ihn in sein eigentliches Sein an ihrer Seite hinaufzuziehen. Sie redet, nachdem sie endlich die Wahrheit über ihre Überwindung beim Wettkampf und in der Brautnacht erfahren hat, dem Abtrünnigen ins Gewissen.

Ich klage nicht um mich. Du hast mich erniedrigt,
Und da du’s tatest, hast du dich erniedrigt!
(...)
Zu knechtlichem Dienst verstandest du dich,
Eitlem Geschlecht hast du dich gesellt;
Weltgeschlecht, untreu und gierig,
Sucht es ehrlosem Handel heimliche Wege.
Ihrer Lockung bist du erlegen!
(...)
Du bist nicht von der Art wie diese hier!
(...)
Ich sah dich, da gingst du noch rechten Weg:
In Freiheit gingst du, ein Götterkind.
(...)
Entschwand dir, Siegfried, heiliges Wissen?

Mells Siegfried erinnert sich wohl seiner göttlichen Herkunft, die der Autor in einem irrationalen Dunkel belässt, aber er bekennt sich zu seiner Wahl Kriemhilds und zu seiner Zugehörigkeit zu den Menschen, die er liebt. Allerdings eröffnet hier Mell noch eine andere Dimension. Siegfried hat ein Ziel, das weiter reicht:

Hat mir mein Weib einen Sohn gebracht,
Ist die Zeit, dass ich beginne,
Was mir lang in der Seele ruft.
Ich rüste Schiffe, befahre das Weltmeer.
(...)
Ein Feuerkreis, sagt man, umgibt die Welt.
Dort trinkt die Sonne Kraft des neuen Tags.
(...)
Zu dem Feuerkreis treibt es mich hin.

Mell lässt seinen Siegfried den irrationalen Traum des Märchenhelden träumen, der bis zu den Gestirnen geht. Es ist das Ziel eines Einzelgängers, der alle menschlichen Bindungen zurückstellt um eines hohen Zieles willen.

Brunhild bleibt in der partnerschaftlichen Liebesbindung an Siegfried befangen, sie hat für Siegfrieds hehre männliche Isolation keinen Sinn. Sie fällt in ihren Rachegedanken zurück, und tief enttäuscht gibt sie Hagen den Auftrag, Siegfried zu töten.

Während das Nibelungenlied die Brunhild-Figur nach dem Vollzug ihrer Rache an Siegfried völlig aus dem Text verschwinden lässt, da sie keine Funktion mehr hat, findet Max Mell einen Schlussvorgang, der dem mythischen Ausgangspunkt der Walküre entspricht. Brunhild besteigt Siegfrieds Schiff, das im Hafen liegt, fährt hinaus in die Strömung, setzt es in Flammen und verlässt auf diese Weise die Welt, der sie nicht zugehörte.

An diesen beiden Hauptfiguren des ersten Dramenteils zeigt sich bei aller Originalität des dramaturgischen Einfalls eine Schwäche, die das Werk zu keiner wirklichen Überzeugungskraft kommen ließ: Brunhild fehlt die archaische Dynamik einer Walküre, und Siegfrieds Urkraft verpufft in einer überspannten Idee.

Im zweiten Teil liegt der Akzent auf der Gestalt des Dietrich von Bern. Im Nibelungenlied wird der Grund seiner Anwesenheit an Etzels Hof nicht offengelegt. Bereits Hebbel motiviert sie durch einen Sühnegedanken, den Entschluss zu einer freiwilligen Unterordnung unter Etzel, und lässt ihn im Gegensatz zu den Burgundern eine christliche Haltung einnehmen. Am Ende der Katastrophe, die Dietrich nicht verhindern konnte, übergibt ihm der gebrochene Etzel seine Herrschaft als Erbe, und Dietrich übernimmt sie „im Namen dessen, der am Kreuz erblich“.

Max Mell erweitert diese Funktion Dietrichs. Er lässt ihn gegenüber Kriemhild eine Mission wahrnehmen: Er versucht ihrem Rachebedürfnis das christliche Ideal des Verzeihens entgegenzustellen. Kriemhild offenbart zunächst Dietrich den ganzen Umfang des heimtückischen Verrats an Siegfried und an ihr. Die tiefe Empörung darüber verknüpft sie mit einer Selbstanklage: Sie hat mit dem Kreuz auf Siegfrieds Gewand seine Tötung ermöglicht:

Das heilige Geheimnis gab ich preis!
Ich hab es mit dieser verfluchten Hand getan.
Nicht Hagen allein hat Siegfried gemordet.
Es muss heißen: Hagen und Kriemhild haben es getan.
Dietrich bietet seine ganze Redekunst auf, um Kriemhild von ihrer eigenen Schuldlosigkeit zu überzeugen:

Du klagst deine Hand an. Prüfe dich!
Zuinnerst in dir findest du: sie ist schuldlos.

Und nun bringt er Gedanken ins Spiel, von denen er glaubt, dass sie Kriemhild zur Umkehr dienen könnten:

Wo es keine Tröstung gibt, dort hat Leid
Noch die eine Zuflucht: Würde.
Du richte dich hoch auf über das Niedre.
Und was dich von dort zu sich ziehen möchte,
Fühl‘s wohl, es langt nach deiner Hand,
Nach eben dieser, weil du sie preisgabst.
(...)
Und wünschest du sie im Blut der Mörder,
Sie kann davon nicht heil, nicht dieselbe werden,
Die du hochzeitlich dem Geliebten reichtest.
(...)
Du bist Opfer. Es ist Größe ohnegleichen,
Kriemhild, wer es, wissend geworden,
Auf sich nimmt, Opfer zu sein.

Mell lässt seinen Dietrich Gedanken äußern, die in den Nachkriegsjahren für die Menschen bitter nötig waren. Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs spiegelte sich im Untergang der Nibelungen am Etzelhof, und in der unmittelbaren Folgezeit drohten viele Menschen in einer weltanschaulichen Leere zu versinken. Die alten Werte waren in Folge des Missbrauchs durch die Nationalsozialisten in Frage gestellt worden, man suchte nach neuem Halt für Geist und Seele. Max Mell gehörte zu denen, die die Ideale des Christentums wieder ins Bewusstsein heben wollten. In seinem Nibelungen-Stück bot sich ihm eine Gelegenheit, sie ins Spiel zu bringen. Die Zeitgenossen wussten sein Anliegen zu würdigen.

Aber es bleibt in seinem Stück bei der Verkündung hohen Gedankenguts. Kriemhild lässt sich von Dietrichs Argumenten nicht überzeugen. Allzu tief, so lautet die allgemeine Begründung der Interpreten, ist sie in ihre Rachegedanken verstrickt, die einer im Grunde noch heidnischen Denkweise entstammen. Man kann ihre Reaktion auch anders begründen: Mells Dietrich hält eine Predigt, die sich der konventionellen Begriffe bedient und deshalb alles andere als mitreißend wirkt. Diese mangelnde Überzeugungskraft hat ein doppeltes Gesicht: Einerseits verhindert sie eine Besinnung Kriemhilds, die im Sinne der Handlung gar nicht eintreten darf, andererseits ist sie Beispiel für einen künstlerisch schwachen Dialog und einen Mangel an dramatischer Dynamik. Mells Stück besteht eigentlich nur aus Gesprächen. Deshalb ist es auch aus den Spielplänen der Theater entschwunden wie die Dietrich-Gestalt am Ende des Dramas: Ein Zauberpferd trägt den Hoffnungsträger in eine nebelhafte Ferne. Seine letzten Worte verlieren sich ebenso wie die des Siegfried im Gespräch mit Brunhild im Phantastischen, nur dass es hier noch in ein unerträgliches Pathos gesteigert ist:
Es ruft mich in den Sturm,
Meinen Atem zu verbinden dem größeren.
Ordnung über uns, gegrüßt! O Mensch,
Ihr Gesetz geht mitten durch dein Herz!

***

Noch nach hundert Jahren also findet Hebbels Konfrontation des alten Mythos mit dem Christentum Nachahmung und Weiterführung. Aber nun erfolgt ein gewaltiger Sprung in eine ganz andere Interessenssphäre. In der ehemaligen DDR fanden die Nibelungen eine neue und andersartige Aufnahme. Die sozialistisch orientierte Welt jenseits des Eisernen Vorhangs hatte keinen Sinn für Irrationalismen. Ihr ging es um reale Gegebenheiten und gesellschaftlich relevante Erkenntnisse.

m Unterschied zu Hebbel und Mell, die traditionellen Modellen der Klassik folgen, steht hier das Theaterkonzept Bertolt Brechts Pate, das allerdings zu neuer Ausgestaltung gelangt.

Volker Braun, 1939 in Dresden geboren, hoch geehrter Schriftsteller, mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnet - nach der Wende, 2000, mit dem Georg-Büchner-Preis, trat 1987 mit der Nibelungen-Bearbeitung „Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor“ an die Öffentlichkeit. Gemeint ist mit diesem dreifachen Titel keine Trilogie, sondern drei Teile, die selbständig hintereinander stehen und sich sogar inhaltlich partiell widersprechen. Der erste Teil „Siegfried“ behandelt den Helden mit seiner Herkunft und seinem Erscheinen in Worms als „mythologisches Material“; der zweite, unter dem Titel „Frauenprotokolle“, entwickelt das „Familiendrama“ mit der Konfrontation der beiden Frauen Brünhild und Krimhild; der dritte Teil „Deutscher Furor“, ein „Epochenstück“, rückt das Ganze auf die machtpolitische Ebene. Die im Nibelungenstoff enthaltenen Aspekte lassen sich, so der Autor, nicht in einem einzigen Handlungsstrang herausarbeiten. Er verteilt sie auf diese drei Ebenen.

Es kommt sogar noch eine vierte Ebene dazu mit einem Sprung in die Gegenwart bzw. in die jüngere Vergangenheit. Diese vierte Ebene aktualisiert das alte mythisch-historische Geschehen um die Nibelungen und macht es zum Paradigma, zum Beispielfall für gesellschaftliche Verirrung in der Geschichte aus der Perspektive des kritischen DDR-Bürgers.
*
Ein Rahmentext, der dieser vierten Ebene angehört, eröffnet und schließt die drei Teilstücke und legt dadurch den Kern der künstlerischen Intention frei:
Die Trümmerfrauen
Ans Werk, die Damen, Ihr dürft Hand anlegen.
Wir dürfen es, sieh an. Und sind zur Stelle
Freiwillig in der Morgenfrühe
Weil Not am Mann ist. Hab ich Mann gesagt
Die Not ist an der Frau. Der Trümmerfrau
Die vor den Trümmern steht und war wie die
Bewohnbar. Der Mann ist ausgezogen
In den Krieg, uns bleibt der Dreck vom Krieg.
WER IN DEN KRIEG ZIEHT IN DEN UNTERGANG
Das ist der Aufstieg jetzt vom Rest der Welt.
Die toten Männer sind die Vorarbeiter.
So hab ich mir die Arbeit nicht gedacht
Wenn ich sie mit ihm teile, dass ich den
Schutt wegräume der halben Menschheit.

In einer syntaktisch aus dem Gewohnten fallenden Redeweise wird hier Zerbrochenes, Katastrophenhaftes angekündigt, dessen Opfer letzten Endes nicht nur Könige und Helden sind, sondern Frauen, die man zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, des Bombenkrieges und im Anschluss daran als „Trümmerfrauen“ bezeichnete, weil sie in den Trümmern nicht nur ausharren, sondern auch aus den Trümmern Neues, Brauchbares schaffen mussten. In dieser Sphäre liegen die Folgen aller Kriegsereignisse, wo und wann immer sie sich abspielen.
Dem ersten Teil der Handlung wird ein zweiter Sprechtext vorangestellt, der Siegfried aus dem Zusammenhang des Mythos heraustreten und in die Gegenwart hineinprechen lässt in einer verfremdeten Sprache wiederum, aber mit bekannten Formeln:
Der fröhliche arglos, der die Sonne losband
Der Held des Tages aus der Vorzeit geht
VORWÄRTS ZUM SIEG , gekleidet in das Blut
Der Morgenröte. Mit dem Instrument
Trifft er das Ungeheuer, die Natur
Das Stadion klatscht, die Verliererin
Beißt ins Gras solange es nachwächst:
Ins Feld ihr Herrn und Knechte, Ackerbau
Und Unzucht des Kriegs, die Städte dampfen
Der Gebrauchte in der dunklen Planung
Unter den Transparenten unsichtbar
Leid und Lust, Fortschritt und Untergang
Die Welt bewegt sich aus der Bahn
FRISCH AUF, sagt Siegfried, HIER WIRD MEHR GETAN.

Auf diese Parole Siegfrieds folgt die Regieanweisung des Autors: Industrie/Kriegslärm. Durch diese Geräuschkulisse werden Krieg und Arbeitswelt als gemeinsam ins Verderben führende Aktivitäten der menschlichen Gesellschaft ins Bewusstsein gebracht. Eine friedfertige Industrie gibt es nicht, die Industrie liefert das Material zum Krieg, und in der noch sozialistisch unerlösten Menschheit herrschen auch in der Arbeits- und Lebenswelt dieselben Gesetze wie im Krieg.

Siegfried wird hier der „Gebrauchte“ genannt. Er wurde bereits im mythologischen Vorfeld gebraucht, um den Schatz der streitenden Nibelungen zu teilen und den für alle bedrohlichen Drachen zu töten. Er wird der Gebrauchte auch später sein. Er wird sich einspannen lassen, freiwillig, und die befohlenen Parolen sprechen mit der Naivität seiner Linientreue: Frisch auf, hier wird mehr getan.

Diese Vorrede enthält bereits eine Reihe von Begriffen aus dem 20. Jahrhundert in Verbindung mit der Siegfried-Gestalt aus der Mythologie. Sprachlich ist hier das Mittel der Verfremdung am Werk, wie Brecht es als neues Element in die Dramaturgie eingebracht hat: Vertrautes wird entstellt, in unerwartete Zusammenhänge gebracht, durchsetzt mit bewussten Anachronismen. Zweck und Ziel dieses Mittels ist es, die Zuschauer an der emotionalen Identifikation mit dem Vorgang auf der Bühne zu hindern und an ihre Stelle das Mitdenken, die kritische Distanz zu setzen.

Man wird daraufhin nicht mehr erwarten, dass die folgenden Szenen die Gestalten des Nibelungenliedes in vertrauten Verhaltensweisen vorführen. Die Burgunder treten anfangs nicht als gewappnete Ritter, sondern als im Rhein Badende in Erscheinung, und Siegfried kommt „über die Wiesen, Schwert und Tarnplane unter dem Arm“ auf sie zu. Und nun wird das bekannte mythologische Material in einer Handlungsfolge zusammengezogen, die von der Vorlage des Epos in der Modalität der Einzelheiten völlig abweicht. Die Helden werden durch diese Situation und die Art ihres Verhaltens zu gewöhnlichen Menschen bis zur Banalität und Lächerlichkeit.
Eine Rolle spielt dabei der gereimte Knittelvers. In der traditionellen Dichtung dient der gereimte Vers als Mittel der Überhöhung, der Veredelung des Gesagten, das sich dadurch als Kunstsprache und Kunstwelt von der Alltagssprache und der Alltagswelt abhebt. Diese Wirkung wird hier in ihr Gegenteil verkehrt, wenn folgende Zeilen in den Reim gebunden werden:
KRIMHILD (sie meint dabei Volker):
Dem war der Rhein zu kalt
(Volker spritzt sie) Alte Sau.
GUNTER:
Ich hab ein Königreich und keine Frau.
Hier zeigt sich, dass für Volker Braun wie bereits für Bertolt Brecht die Bühne keine ästhetisch-moralische Anstalt im Sinne Schillers ist, sondern ein Demonstrationsort für sozial-politische Anliegen, die von einem wachen Publikum reflektiert und in die gesellschaftliche Praxis des Alltags übertragen werden sollen. Die Ästhetik, die dichterische Form, dient dabei der Verdeutlichung der Sache, nicht der Überhöhung. Die Alltagsebene soll gerade nicht aus dem Blick geraten. Der Schock durch die banale Formulierung soll den Genuss an der schönen Form ersetzen. Die Dissonanz, der Missklang, das Hässliche dominiert als ästhetisches Korrelat der Katastrophenerfahrung, die von keiner tröstenden Ideologie aufgefangen wird.

Der Anfang der Spielhandlung bewegt sich in einer scheinbar harmlos banalen Sphäre und steigert sich in tiefen Ernst hinein. Die Szene schließt mit Krimhilds Traum. Während sie berichtet von den zwei Adlern, die den Falken zerrissen, steht die Regieanweisung „Scheinwerfer, Männergebrüll, MG-Feuer“, die ihre Worte in die heutige Gegenwart hineinziehen. Und Ute, Krimhilds Mutter, spricht nicht begütigend und lebensweise auf die Tochter ein, sondern „lacht hysterisch, fällt über das Bett, verwickelt sich in das Laken, verstummt“ - eine Verzerrung der Situation ins Groteske, die den späteren Verlauf und das infernalische Ziel der Handlung ankündigt.
*
Der nun folgende zweite Teil des Bühnenstücks von Volker Braun ist mit „Frauenprotokolle“ überschrieben und zielt auf eine andere gesellschaftspolitische Thematik.

Die Handlung beginnt mit der Ankunft der Burgunder mit Brünhild und Siegfried nach der Brautwerbung auf Island. Siegfried erhält Krimhild zur Frau. Brünhild begreift nicht den Widerspruch zwischen Siegfrieds zur Schau gestellter Unterordnung unter Gunter und seiner Eigenschaft als König. Darauf folgen die beiden Ereignisse in der Hochzeitsnacht: Brünhilds Verweigerung der ehelichen Pflicht und Siegfrieds erneute Bezwingung der Widerspenstigen.

Als Krimhild den Gürtel Brunhilds entdeckt, den Siegfried achtlos beiseite gelegt hat, fragt sie, wie er dazu kam. Braun macht diese Szene zu einem Beispielfall einer missglückten Emanzipation. Krimhild versucht, sich als gleichwertige Partnerin an die Seite ihres Gatten zu stellen:

Ein Held darf etwas wagen.
Und auch, dass er es seiner Frau sagt
Denn sie auch neben ihm will sich bewähren
Und ihre Liebe ist die Heldentat
Das Leid ertragend.
Erprobe meine Stärke und verletz mich
Und sieh, ob ich dir ebenbürtig bin
Sag mir das Schlimmste, also die Wahrheit.
Das ist das Beste was ich haben kann
Von einem Mann, sie soll mich schneiden
Hier, ins Herz, das sich dir dafür öffnet
Auf dieses Angebot echter Partnerschaft aber geht Siegfried nicht ein, er spielt seine überlegene Kraft aus und entreißt ihr den Gürtel. Er teilt ihr dann zwar das Geheimnis mit, aber nicht im Sinne ihres partnerschaftlichen Angebots, sondern eher nachlässig, gleichsam en passant. Siegfried ist eingebunden in das patriarchalische Gesellschaftsprinzip, er nimmt die Chance für eine gerechtere Gestaltung der Geschlechterrollen und eine Vertiefung der Partnerschaftsbeziehung zu beidseitiger wirklicher Liebe nicht an.
Die darauf folgende Auseinandersetzung der beiden Frauen Krimhild und Brünhild lässt der Autor wieder mit einer verfremdeten Situation beginnen. Sie baden gemeinsam in einer Therme, einem römischen Bad. Wie in der harmlos wirkenden Badeszene am Rhein geht auch hier ein harmlos scheinendes Geplänkel einer bedrohlichen Konfrontation voraus. Aber was äußerlich noch als unbeschwertes Spiel erscheinen mag, ist bereits mit brisanten Emotionen beladen. Es geht um die Beziehung zu den Männern. Die beiden Frauen entnehmen ihr Selbstverständnis und ihre Vorstellung von Würde den Maßgaben der dominierenden Männerwelt. Die beiden Frauen tragen hier stellvertretend für die Männer einen Streit um die gesellschaftliche Rangordnung aus, die eigentlich nicht ihre Sache ist, mit der sie sich aber identifizieren, die sie internalisiert haben, ohne sich dessen bewusst zu sein: Ob Siegfried als König oder als Dienstmann gilt, ist dementsprechend für das Selbstverständnis beider Frauen ausschlaggebend, nicht die partnerschaftliche Liebe zum Mann und dessen Gegenliebe.
Gerade an Siegfried, der eigentlich ein Hoffnungsträger ist, offenbart sich die männliche Dominanz, die der Frau eine demütigende Rolle zuweist. Nach der Weitergabe des Staatsgeheimnisses durch Krimhild gegenüber Brunhild im Streit vor dem Domportal tritt Siegfried auf den Plan und wendet sich an Krimhild mit den Worten:
Komm her, mein Liebchen. Nun erzähl dem Siegfried
Was du angestellt hast.
Auf diese infantilisierende Anrede antwortet Krimhild tatsächlich wie ein Kind, das sich zu rechtfertigen versucht:

Nichts, mein Siegfried
Als dass ich dich verteidigt hab
Siegfrieds Kommentar zur Sache lautet dann:
Weiber schwatzen.
Darauf Hagen:
Ruf sie zur Ordnung. Lehr sie Maße.
Und Siegfried:
Die Weiber müssen
Erzogen werden.
(Züchtigt Krimhild mit Küssen.)
Zeige du es deiner (gemeint ist Gunter)
Ich zeig es meiner. Wenn sie sich daneben
Benehmen. Alter Übermut. Das ist
Die Strafe.
Darauf antwortet Krimhild:
Ja.
Siegfried „züchtigt Krimhild mit Küssen“: Was in der Konvention als Geste der Liebe gilt, wird hier zum Mittel demütigender Sanktion. Krimhild fügt sich widerstandslos einer Vergewaltigung.
Dieser Handlungsstrang mündet in eine weiterhin überraschende Situation: Krimhild hat einen zweiten Traum unter dem Titel „Männerfantasien“. Es erscheinen ihr Siegfried und Hagen mit dem Dialog:
HAGEN
Siggi, bist du noch wach?
SIEGFRIED
Was willst du, Hagen, in meinem Bett.
HAGEN
Lass mich deine Haut
Anfassen, Freund. So schön und fest wie Stahl.
Der Wortwechsel endet mit Hagens Aufforderung:
Zeig mir die Stelle
Wo du sterblich bist.
(Hagen umarmt Siegfried. Krimhild schreit auf.)
HAGEN
Vielliebe Frau
Näht uns ein Kreuz hier auf das Jagdgewand.
Es ist eine homoerotische Szene, deren psychologische Begründung in der Selbstherrlichkeit des Männlichen liegt. In dieser Traumvision wird Krimhild der Geliebte auch noch in einer anderen Weise weggenommen: Die homoerotische Konkurrenz Hagens gefährdet ihren Liebesanspruch. Um so perfider wirkt dann Hagens Anrede „vielliebe Frau“ mit der Aufforderung, das Kreuz auf Siegfrieds Gewand zu nähen, das heißt, zur Vernichtung ihres persönlichen Lebensinhalts im Dienst männlicher Interessen selbst beizutragen.
Nun erfolgt ein krasser Sprung aus der bisherigen Handlung heraus in eine Situation der DDR-Gegenwart, die Siegfried in seiner Bedrohtheit zeigt.

IM SCHLACHTHOF SCHULFILM
Am Morgen ging S. in den Schlachthof. Er schnitt fachgerecht die Tiere auf vom ersten Halswirbel bis zum Schlossknochen. Er zerlegte Hirsche und Elche, Schweine (...) Er leistete ein gutes Stück Arbeit, die Fließbänder konnten die Schlachtmasse kaum tragen. Er war Held der Arbeit geworden, weil er sich schon das zweite Jahr zu einem Aufruf bereit fand, den Plan um ein Prozent heraufzusetzen. (...) Nun erwartete/fürchtete man, S. werde sich zum drittenmal hervortun. S. wusste, dass aus der Methode allmählich Wahnsinn wurde. 1+1+1, das waren drei Prozent. War er das Vieh, das am Haken hing und durch sein eigenes Gewicht hinab zur Schlachtbank fuhr. Er fühlte die Blicke die Messer in seinem Rücken. (...).
Der mythische Drachentöter und sagenhafte Kämpfer, der seine Feinde zu Tausenden erschlug und ungeduldig wurde, wenn er sein Schwert nicht gebrauchen konnte, verrichtet als DDR-Werktätiger in einem Schlachthof sein blutiges Handwerk mit dem gleichen Übereifer. Er treibt das Plansoll ständig in die Höhe und macht sich nicht bewusst, dass er damit die bedenklichen Vorgänge in der Gesellschaft fördert, dass er ein Gebrauchter und ein Missbrauchter ist. Er nimmt in seiner unkritischen Selbstgewissheit auch seine missgünstigen Arbeitskollegen nicht ernst, die nur darauf warten, ihn auszuschalten.
Nun springt die Handlung wieder in die Ausgangssituation zurück. Siegfrieds Ermordung wird nicht dargestellt. Krimhild findet die Leiche Siegfrieds auf ihrer Schwelle und erkennt seine Mörder. Gunter sagt zu ihr:
Versöhnen wir uns, eh der Schmerz die Frau
In dir findet und die dünne Haut
Dir verhärtet.
Krimhild greift dieses Bild der Haut auf, das ja auf Siegfried zurückverweist, während sie mit festen Schritten durch das Blut des Ermordeten schreitet:
Ich will mir eine Hornhaut wachsen lassen
Von seinem Blut, das trocknend im Gesicht
Brennt, bis es die schwache Frau
Austreibt aus dieser engen Wohnung.
Jetzt bin ich euer Bruder im Verrat
(...)
Ich will mich wieder schnüren in die Maße
(...)
Wer auch fragt
Uns nach den Innereien. Innen bleibe
Ich nun ein Mann, und das ist meine Rache.
Mein ist die Rache, spricht die Frau zuhause.
Nach eurem Grundriss bau ich meine Seele.
Nach der Schnur, Gefühle, tretet an.
Nun solln sie sehen, was sie an uns haben.
So enden die „Frauenprotokolle“ mit der Selbstaufgabe der Frau, über die die Männer kalt verfügt haben, einschließlich des geliebten Siegfried selbst, mit der Verwandlung in einen Mann, das heißt in ein rachesüchtiges Monster, das die männlichen Verhaltensmuster, ihre „Maße“, in die letzte Perversion treibt, die Massenvernichtung.
*
Der dritte Teil des Bühnenstücks, „Deutscher Furor“, ist keine Fortsetzung des bisherigen szenischen Verlaufs, das Spiel wird auf eine ganz andere Ebene transponiert. Mehrere Untergangsszenarien, fiktionale und realhistorische, werden hier zusammengedacht, gebündelt, ineinander verschränkt: der Racheakt Krimhilds, der Sieg der Hunnen über die Burgunder (437), sodann die Niederlage der Hunnen in der Schlacht auf den katalaunischen Feldern gegen die Römer (451), dazu die Erinnerungen an die Katastrophe von 1945 und schließlich die Parallelen auf der Gegenwartsebene der ehemaligen DDR.
In einem Vorspiel geht es um die Not der Bauern in Folge von Krieg und Eroberung. Als ein junger Mensch Jesaja 2,4 zitiert, in dem von den Schwertern und Spießen die Rede ist, die zu Pflugscharen und Sicheln umgeschmiedet werden, und davon, dass kein Volk mehr kriegen lernen soll, stecken die anwesenden Krieger ihre Schwerter in den Boden und verbiegen sie - eine Wunschprojektion, eine Utopie.
Die folgenden Bilder zeigen, dass die Praxis anders aussieht. In einem römischen Lager werden die burgundischen Repräsentanten nach einem missglückten Versuch, einen selbständigen Staat zu gründen, von dem römischen Heerführer Aetius gemaßregelt. Danach unterwirft sich Gunter der Macht Roms. Siegfried tritt hier in einer anderen Rolle auf als im vorausgehenden Familiendrama, und er wird hier einen anders begründeten Tod sterben. Gunter weist Siegfried, der sich in der neuen Situation querstellt, zurecht:
Du bringst uns alle in Gefahr, und Krimhild
Und Burgund. Weil wir ein Reich jetzt sind
VON ROM REGIERT. Hier ist nicht Franken, Freund
Hier schwatzt man nicht vom Krieg, hier herrscht er
Die Panzer sind das stärkste Argument
SIEGFRIED
Weist du mir den Weg.
Den weiß ich selber. In ein freies Land.
Das will ich Krimhild zeigen. Warum bei
den Knechten wohnen. Das ist euer Platz.
In der Gefolgschaft jetzt. Am Trog der Treue.
Im Kollektiv der Furcht. Am Strick des Staats.
Ich bin zu brauchen nicht.
In dieser machtpolitischen Szene gelingt Siegfried der Ausbruch aus seiner bisherigen Haltung, der freiwilligen, unreflektierten Anpassung, der Linientreue. Ist dies ein Hinweis des in die DDR-Ideologie eingebundenen Literaten Volker Braun auf Denk-und Verhaltensmöglichkeiten, die im damaligen Ostblock gar nicht gedacht werden durften? Er lässt Hagen der realen Gegebenheit entsprechend reagieren: Der staatstreue Vasall ersticht kurzerhand den gefährlichen Ausbrecher.
Es folgt statt des sagenhaften Zugs der Burgunder ins Hunnenreich die historische Umkehrung: Etzel kommt an den Rhein in Begleitung Krimhilds, die hier an Hagen und ihren Verwandten Rache für Siegfrieds Ermordung nehmen will. Etzel verfolgt seinerseits ein strategisches Ziel. Er gehorcht angeblich der römischen Weisung, das burgundische Territorium am Rhein, in dem man sich gegen Rom erhoben hat, zu besetzen, aber er verfolgt den weiterreichenden Plan, der sich gegen Rom richtet. Er setzt sein Überlegenheitsgefühl gegen das der Römer:
Rom stirbt. Ein armes Land. Wir beherrschen mehr Tiere. Wir haben die höhere Lebensform. Ich umfasse mehr Menschen (...) Die Römer besetzten die Welt. Wir machen sie zur Weide.
Krimhild stimmt in diesen Gedanken von einer besseren Welt ein, aber ihr und Etzels Kind, dem sie Welt einmal gehören soll, stirbt in dem nun folgenden Gemetzel, wie das Nibelungenlied es vorgibt, dabei fallen aber aus dem Munde Volkers Worte der Einsicht in die Sinnlosigkeit:
Das Entsetzliche ist, dass wir wissen, dass wir das Falsche machen - und es dennoch tun. (...) Es ist nicht mehr viel Zeit. Wir müssen anders denken.
Worin allerdings das andere Denken bestehen soll, sagt er nicht. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, diese Hülse mit Inhalt zu füllen.
Ein Nachspann schaltet eine letzte historische Reminiszenz ein, die diese Mahnung unterstützt: Die Trümmerfrauen haben das letzte Wort, und nun wird auch der Titel des dritten Dramenteils „Deutscher Furor“ verständlich: das lateinische Wort „furor“ in seiner doppelten Bedeutung „Wut, Raserei“, aber auch „Begeisterung, Verzückung“ - Letzteres mit nachträglicher Ironie. Eine alte Frau, die aus den Trümmern gezogen wird, zitiert Restworte aus der deutschen Vergangenheit: „Über alles in der Welt“, Morgen gehört uns“, „Deutschland erwache“. Und das Drama endet mit der Klage der Tümmerfrauen, mit der es begonnen hat:
Die Not ist an der Frau, uns bleibt der Dreck vom Krieg.
Diese Klage mündet allerdings in der letzten Zeile in eine Ermutigung:
Fort mit den Trümmern und was Neues hingebaut.
Der Entschluss, Neues hinzubauen ist keine triumphale Geste, er entspringt der Erkenntnis bitterer Notwendigkeit: dass man sich durch keine Katastrophe entmutigen lassen darf, wenn man weiterleben will.
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Volker Brauns Stück ist in der DDR geschrieben und uraufgeführt worden von einem Autor, der sich voll und ganz zum Sozialismus bekannte und seine Kunst in den Dienst dieser Gesellschaftordnung stellte. Die aktualisierenden Einschübe lassen Siegfried als „Werktätigen“ auftreten mit den Begriffen und Zielsetzungen, die mit dem einstigen Staatsgebilde und seiner Gesellschaftsform untergegangen sind.

Die Frage ist nun, ob das Anliegen des Stücks damit ebenfalls hinfällig geworden ist. Volker Braun äußerte sich 1987 in einem Interview zur Uraufführung seines Stücks in Weimar. Man stellte ihm die Frage: „Ihr Stück zeigt am Beispiel einer Vernichtungsschlacht Irrtümer, Illusionen, Versäumnisse im geschichtlichen Handeln; damit setzen Sie beim Publikum eine Aktivität voraus, ja Sie fordern ihm ab, an unserem Kreuzweg der Geschichte den vernünftigeren, solidarischen Weg zu denken und zu gehen. Ist das die ‚strategische Absicht‘ Ihrer Dramaturgie?“ Darauf antwortete der Autor: „Die Freiheit, die sich die Kunst nimmt - zu erfreuen, zu erschrecken - kann uns doch frei machen, uns selbst zu verhalten in den Handlungen, in die wir verwickelt sind, und unsere Rolle zu bestimmen. Was sich die Kunst ‚herausnimmt‘, soll uns ermutigen, befähigen, uns auch etwas herauszunehmen aus den Möglichkeiten des geschichtlichen Augenblicks, der der unsere ist.“
Aus der heutigen Sicht erscheint diese Äußerung in einem zweifachen Licht: Wie konnten in einer durch und durch doktrinierten Gesellschaft Menschen einen eigenen Weg denken und gehen und sich etwas „herausnehmen“, was von Staats wegen verboten war und strengste Sanktionen nach sich zog?

Volker Braun war Sozialist und ist es auch nach der Wende geblieben. Er hat sich allerdings als ein Kommunist gezeigt, der dem Kommunismus misstraute. Er machte in seinen Werken den Widerspruch zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit der sozialistischen Gesellschaft deutlich. Die bürokratische Planwirtschaft der DDR stand für ihn im Gegensatz zu seinen Vorstellungen von der Möglichkeit für das Individuum, seine Kreativität zu entfalten und seinem Glücksbedürfnis zu folgen. Brauns kritische Äußerungen, die auch im Nibelungen-Stück hörbar wurden, klangen in den Ohren der DDR-Funktionäre nicht angenehm. Einer von ihnen hatte ihm einmal angedroht, man müsse ihn erschießen, weil er die DDR als Zerrbild des Sozialismus darstellte, an dessen Verwirklichung er ja gerade dadurch seinen Teil als Künstler beitragen wollte. Trotz seiner hohen Auszeichnungen wurden seine Werke meist sehr zögerlich verlegt, die Aufführung seiner Stücke wurde zum Teil verboten. 32 Informanten waren auf ihn angesetzt. Die Stasi saß ihm permanent im Nacken. Er verließ jedoch diesen Staat nicht, er blieb loyal gegenüber der DDR-Führung. Er glaubte an eine sozialistische Utopie als Ziel, auf dessen Weg die DDR mit ihren Fehlentwicklungen als Übergangsstufe lag.
Ein weiterer preisgekrönter Schriftsteller der ehemaligen DDR hat das Nibelungenthema aufgegriffen, Heiner Müller, allerdings nur mit einer einzigen kurzen Szene innerhalb eines vielteiligen Stücks mit dem Titel „Germania Tod in Berlin“, das 1978 uraufgeführt wurde.
Heiner Müller, 1929 geboren und 1996 verstorben, geht wie Volker Braun dramaturgisch weit über Brecht hinaus. Für ihn ist Theater ein „Laboratorium sozialer Fantasie“, das den Zuschauer als Co-Produzenten einbezieht und dabei, wiederum wie Braun, dessen Aufnahmefähigkeit aufs Äußerste fordert. Sein Stück „Germania Tod in Berlin“ konfrontiert das Publikum mit einer Serie von äußerlich unzusammenhängenden Fragmenten aus historischen und fiktiven Geschehnissen und mutet ihm zu, den Faden des inneren Zusammenhangs zu entdecken und selbst die gesellschaftlichen und subjektiven Konsequenzen daraus zu ziehen.
Die im Stück überraschend auftretende Nibelungenszene geht nahtlos aus einer Collage hervor, die Soldaten in einer Einkesselung zeigt, wobei Napoleon und Cäsar hereingeistern und ihre Schlachtopfer zurücklassen:
Immer mehr Soldaten taumeln und kriechen auf die Bühne, fallen, bleiben liegen. Dann treten überlebensgroß in verrosteten Harnischen die Nibelungen Gunther, Hagen, Volker und Gernot auf.
GUNTHER auf den Toten herumsteigend
Simulanten. Drückeberger. Defätisten. Feiges Pack.
VOLKER
Die glauben, wenn sie verreckt sind, haben sie alles getan, was von ihnen verlangt werden kann.
HAGEN höhnisch
Die glauben, sie haben es hinter sich.
GERNOT
Die werden sich wundern.
GUNTHER
Nehmt eure Schwerter auf, ihr Nibelungen. Die Hunnen kommen wieder. GOTT MIT UNS.
Die Nibelungen bewaffnen sich mit Leichen und Leichenteilen und werfen sie brüllend auf imaginäre Hunnen, so dass ein unregelmäßiger Wall aus Leichen entsteht.
GUNTHER
Sieh, Attila, die Ernte unserer Schwerter.
Die Nibelungen setzen sich auf den Leichenwall, nehmen die Helme ab und trinken aus ihren Hirnschalen Bier.
GERNOT
Immer dasselbe.
Die anderen sehen ihn an, empört.
Ich sage nicht, dass ich nicht mehr mitmachen will. Aber worum geht es eigentlich.
VOLKER
Hast du Siegfried schon vergessen, den die Hunnen im Odenwald -
HAGEN hebt seine Hirnschale
Rache für Siegfried.
GUNTHER und VOLKER ebenso
Rache für Siegfried.
GERNOT zu Hagen
Aber ich habe doch selbst gesehen. Ich meine, das weiß doch jeder, dass du ihn.
GUNTHER
Wir alle haben gesehen, wie Hagen den Speer aus der Wunde zog, mit dem die Hunnen aus dem Hinterhalt unseren Siegfried -
GERNOT
Ich habe gesehen, wer den Speer geworfen hat.
GUNTHER
Er war ein Verräter.
GERNOT
Wer.
GUNTHER
Siegfried. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen. Man soll der Jugend ihre Illusionen lassen, solange es geht. Jetzt weißt du es.
GERNOT
Ich weiß immer noch nicht, warum wir uns hier mit den Hunnen herumschlagen.
VOLKER
Bist du ein Hunne. dass du zum Kämpfen einen Grund brauchst.
HAGEN
Weil wir aus dem Kessel nicht herauskommen, darum schlagen wir uns mit den Hunnen herum.
GERNOT
Aber wir brauchen doch nur aufzuhören, und es gibt keinen Kessel mehr.
GUNTHER
Hat er aufhören gesagt.
VOLKER
Er hat es immer noch nicht gelernt.
HAGEN
Der lernt es nie.
GUNTHER
Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Er ist kein Hunne.
VOLKER
Wir werden ihn schon hinbiegen.
HAGEN
Jedenfalls müssen wir jetzt anfangen. Zeit ist Geld.
Die drei stehen auf, bewaffnen sich und gehen auf Gernot zu. Der springt auf.
GERNOT
Ich will nicht jede Nacht sterben. Ich finde das langweilig. Es macht mir keinen Spaß. Ich möchte auch mal etwas anderes machen. Das mit den Frauen zum Beispiel. Ich habe vergessen, wie es heißt.
HAGEN höhnisch
Er hat vergessen, wie es heißt.
VOLKER
Das ist die Jugend von heute. Sie hat keine Ideale mehr.
GUNTHER
Was meinst du, wozu deine Mutter dich geboren hat. Wir werden es so lange üben, bis du es im Schlaf kannst.
Die drei Nibelungen schlagen in einem längeren Kampf den vierten in Stücke. Dann masturbieren sie gemeinsam.
VOLKER masturbierend
„Ich möchte auch mal was anderes machen. Das mit den Frauen zum Beispiel. Ich habe vergessen, wie es heißt.“
Die Nibelungen lachen.
HAGEN ebenso
Ich weiß schon nicht mehr, was das ist, eine Frau. Ich glaube, ich würde das Loch nicht mehr finden.
Die Nibelungen lachen.
GUNTHER ebenso
Der Krieg ist Männerarbeit. Jedenfalls geht das Geld jetzt nur noch in drei Teile. Das Loch im Kessel werden wir schon finden.
Die Nibelungen lachen.
VOLKER stimmt seine Geige.
GUNTHER
Lass deine Geige aus dem Spiel, Ich kenne deine Tricks. Er will uns weichmachen mit seiner Gesangsnummer. SCHLAFE MEIN PRINZCHEN SCHLAF EIN. Und dann haut er ab und reißt sich die Sore allein unter den Nagel.
HAGEN
Besser, wir machen ihn gleich fertig.
GUNTHER
Los.
Bewaffnen sich.
VOLKER
Kameraden.
Schlagen ihn in Stücke.
GUNTHER
Jetzt sind es nur noch wir beide.
HAGEN
Einer zu viel.

Schlagen einer den andern in Stücke. Einen Augenblick Stille. Auch der Schlachtlärm hat aufgehört. Dann kriechen die Leichenteile aufeinander zu und formieren sich mit Lärm aus Metall, Schreien, Gesangsfetzen zu einem Monster aus Schrott und Menschenmaterial.

Eine radikalere Absage an jede Verherrlichung der Nibelungentreue ist wohl kaum vorstellbar.


Textausgaben:

Max Mell, Der Nibelunge Not. Dramatische Dichtung in zwei Teilen. Salzburg 1951

Volker Braun, Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor. In: Theater der Zeit, Heft 2/1987 und Gesammelte Stücke, 2. Bd. Frankfurt/Main 1989

Heiner Müller, Germania Tod in Berlin, Ernst Klett Verlag Stuttgart 1983