Meister Konrad saß an seinem Schreibpult im Skriptorium und seufzte. Vor ihm lag ein Blatt besten Pergaments, auf dessen oberster Zeile er in schwungvoller roter Schrift nur ein einziges Wort geschrieben hatte:
LAMENTATIO
Die Klage.
Ansonsten war das Blatt leer bis auf die zarten Linien, die er vorher mit einem Silberstift gezogen hatte.
Es war erst wenige Tage her, dass er, innerlich aufgewühlt, aus dem Palast von Bischof Pilgrim zurückgekommen war. Dort hatte der Bote Schwemmel aus dem Hunnenland über das entsetzliche Geschehen auf Etzels Burg, das er miterleben musste, berichtet. Er war einer der wenigen Überlebenden. Der Bischof war über das Gehörte sehr erschüttert, denn unter den Toten befand sich auch seine geliebte Nichte Kriemhild.
Meister Konrad sollte jetzt im Auftrag Pilgrims das Geschehen niederschreiben. Das war eine betrübliche Aufgabe, die dadurch nicht einfacher wurde, dass er sie in der lateinischen Kirchensprache der damaligen Zeit abfassen sollte.
Der Bischof wollte mit dieser Niederschrift auch das Andenken an seine Neffen, die in Gran ebenfalls den Tod gefunden hatten, bewahren.
Schwemmels Schilderungen waren so entsetzlich, dass Konrad zunächst nach Ablenkung suchte. Er zog sich deshalb in eine kleine, abgetrennte Schreibstube zurück und beschäftigte sich mit mechanischen Arbeiten, die sonst von Novizen erledigt wurden. Als er schließlich einen kleinen Stapel von Pergamentbögen fein säuberlich und beidseitig genau liniert hatte, sah er sich für seine eigentliche Aufgabe, das Schreiben, gerüstet. Sein Blick ging vom offenen Fenster, durch das er nachdenklich in den blauen Himmel geblickt hatte, zurück auf das Pergament. Er nahm eine angespitzte Rabenfeder, tauchte sie in die schwarze Tusche und fing an zu schreiben.
Wie alles begann
Als der Burgunderkönig Dankrat starb, hinterließ er seiner Frau Ute und den drei Söhnen Gunther, Gernot und Giselher weite Ländereien und einen glanzvollen Königshof zu Worms am Rhein. Der Sitte gemäß trugen die drei Könige auch die Verantwortung für ihre schöne Schwester Kriemhild. Sie stimmten zwar deren Ehe mit Siegfried, einem Helden und Königssohn aus Xanten zu, jedoch sollten sie Jahre später die Ermordung ihres Schwagers durch Hagen von Tronje nicht verhindern.
Nach vielen Jahren der Trauer wurde Kriemhild die Frau des Hunnenkönigs Etzel, einem König mit viel Macht und hohem Ansehen. In seinen Diensten standen allein zwölf Könige mit deren Gefolge. Seine bisherige Frau Helche, welche die beste Fürstin ihrer Zeit gewesen sein soll, war leider zu früh gestorben, und so kam es, dass Etzel um Kriemhilds Hand warb. Das war vor dreizehn Jahren. Als damals Kriemhild unterwegs ins Hunnenland war, um Etzels Frau zu werden, erfuhr Bischof Pilgrim aus Passau durch Boten, dass seine Nichte auf dem Wege nach Passau sei. Er ritt ihr entgegen und begleitete sie bis Mautern an der Donau, wobei sich genügend Gelegenheit bot, von Kriemhild Einzelheiten über die Vorgänge in Worms und den Grund ihrer Reise zu erfahren.
Meister Konrad stand zu dieser Zeit noch nicht im Dienste Pilgrims, von dem er jetzt die Geschichte erfuhr. Allerdings hatte Kriemhild ihrem Onkel nicht die ganze Wahrheit gesagt, nämlich die, dass sie nur deshalb Königin im Hunnenland werden wollte, um eines Tages Rache für den Mord an Siegfried nehmen zu können. Dazu fühlte sie sich nämlich auch nach so vielen Jahren noch immer verpflichtet und im Recht. Niemand hätte sie dafür verurteilt, wenn sie eigenhändig ihre Rache an Hagen vollzogen hätte. Aber als Frau hätte sie gegen Hagen im Kampf keinerlei Chancen gehabt. Sie benötigte dazu die Hilfe eines machtvollen Königreiches, und genau das erwartete sie durch ihre Ehe mit dem Hunnenkönig.
Es war noch nicht lange her, dass die drei Burgunderkönige in Begleitung vieler Ritter und Knappen und unter Führung von Hagen in Passau vorbeigekommen waren. König Etzel hatte sie auf Kriemhilds Bitten hin an seinen Hof in Gran eingeladen. Was niemand wusste, war, dass Kriemhild mit dieser Einladung ihre Brüder und mit ihnen vor allem Hagen in ihren inzwischen gefestigten Machtbereich locken wollte. Ihren Hunnen konnte sie voll vertrauen, denn sie wurde von ihnen gleichermaßen hoch verehrt wie seinerzeit ihre Vorgängerin Helche.
Was danach geschah, darüber ist schon geschrieben und vor allem erzählt worden. Wie am Hofe des Hunnenkönigs das Gastrecht verletzt wurde und wie es zum Kampf kam, dem tausende Helden und sämtliche Burgunder zum Opfer fielen. Auch Kriemhild fand den Tod und ebenso ihr Sohn Ortlieb, dessen Vater König Etzel war.
Etzels Bote Schwemmel bestätigte dies alles und konnte der Bilanz des Schreckens noch viele Einzelheiten hinzufügen. Und dies ist seine Aufzählung der Gefallenen.
Allegorie „Die Klage“ (Ausschnitt aus einem Nibelungenfresko am Marmorpalais in Potsdam)
Schwemmels Totenliste
Da waren zunächst Markgraf Rüdiger von Bechelaren und seine fünfhundert Ritter, die sämtliche zu Tode kamen. Bischof Pilgrim kannte diesen persönlich, denn Rüdiger war es, der im Auftrag Etzels um die Hand von Kriemhild geworben und sie anschließend ins Hunnenland geleitet hatte. Da des Markgrafen Tochter mit Giselher verlobt worden war, wäre Rüdiger von Bechelaren demnächst mit Pilgrim sogar verwandt gewesen. Aber das Schicksal wollte es, dass sich der Markgraf und König Gernot im Kampf gegenüber standen und gegenseitig erschlugen.
Von den sechshundert Mann, die mit Dietrich von Bern am Hofe Etzels weilten, überlebte keiner, ausgenommen Dietrich selbst und sein Waffenmeister Hildebrand.
Fürst Hermann aus Polen und Siegeher aus der Walachei waren mit zweitausend Rittern nach Gran gekommen und lagen nun alle erschlagen da.
Aus der fernen Türkei war Fürst Walber mit zwölfhundert Mann gekommen, um Etzel zu dienen. Auch sie alle blieben auf dem Schlachtfeld.
Irnfried aus Thüringen, Hawart aus Dänemark und Iring aus Lothringen standen unter Reichsacht und hatten sich deshalb unter Etzels Schutz gestellt. Mit dreitausenddreihundert Recken wollten sie Kriemhild helfen, ihre Rache zu vollziehen, und kamen dabei bis auf den letzten Mann ums Leben. Irnfried wurde von dem berühmten Fiedler Volker von Alzey erschlagen, Iring wurde von Hagen getötet und Hawart starb durch die Hand Dankwarts, Hagens Bruder.
Unter den vielen Hunnen, die den Heldentod starben, befanden sich auch Etzels Bruder Blödelin und dreitausend seiner besten und vornehmsten Getreuen. Es war nicht nur sein Leben, welches Blödelin einbüßte, sondern es war auch sein Ansehen. Denn er war es, der das Gastrecht als Erster brach, um den Schmerz seiner Königin zu rächen.
Und Kriemhild? Wie konnte sie ihr Leben verlieren, wo sie doch nicht an den Kämpfen teilnahm? Sie persönlich schickte den gefesselten Hagen in den Tod, indem sie ihm mit Siegfrieds Schwert Balmung den Kopf abschlug. Diese Tat empörte den Waffenmeister Hildebrand so sehr, dass er dafür Kriemhild erschlug. Der alte Hildebrand schien eine merkwürdige Auffassung von Ritterlichkeit zu haben: Er tötete eine schwache Frau, obwohl diese nur Rache an dem Mörder von Siegfried und ihrem Sohn Ortlieb genommen hatte!
Etzel hatte dies alles hilflos mit ansehen müssen, hielt er doch das Gastrecht heilig und griff deshalb nicht in die Kämpfe ein.
Wie die Toten geborgen und beklagt wurden
Alle, die zum Kampf angetreten waren, lagen jetzt tot oder schwer verletzt in blutgetränkter Rüstung auf dem Hof und im Saal, von dem nur rauchende Trümmer und geschwärzte Wände übrig geblieben waren. Vielen Frauen waren ihre Liebsten genommen worden, und es erhob sich lautes Klagen. Eine einzige Person aber übertönte alle, nämlich Etzel. Sein Wehgeschrei war so maßlos, wie man es noch nie erlebt hatte und wie es sich für einen Fürsten eigentlich nicht ziemte. Allerdings hatte er nicht nur Frau und Kind verloren, auch sein guter Ruf war vergangen. Denn was hier geschehen war, hätte er niemals dulden dürfen! Und jeder seiner Klagerufe wurde von den Hofdamen aufgenommen und so verstärkt, dass es bis in die umliegenden Dörfer schallte. Deshalb liefen viele Leute hinauf zur Burg, um zu sehen, was die Ursache dieses Lärms war. Angesichts der vielen Toten im Hof, unter denen sie dann zahlreiche Anverwandte und Freunde entdeckten, stimmten sie in das Klagen ein. Aber nicht alle: Einige der Dörfler nutzten die Gelegenheit zu Plünderungen.
Es wurde höchste Zeit, dass jemand die Führung übernahm und nach dem Rechten sah. Etzel führte sich fast wie ein Wahnsinniger auf, und so trat Dietrich von Bern vor die Leute und herrschte sie an, sich sofort nur noch nach seinen Anweisungen zu richten. So ließ er die Toten aus dem Hof wegschaffen, damit man zum eingestürzten Saal gelangen konnte. Den Überlebenden wurden Helm und Kettenpanzer abgenommen, und ihre Wunden wurden so gut wie nur möglich versorgt.
Als die Dienerschaft Dietrich von Bern zurief, dass man die Leiche der Königin gefunden habe, eilte er herbei und ließ sie auf eine Bahre legen. Den abgeschlagenen Kopf der unglücklichen Frau legte er selbst dazu. Es war sein letzter Dienst, den er der Königstochter aus Burgund und Herrscherin der Hunnen erweisen konnte. Stets war sie ihm eine gerechte und fürsorgliche Herrin gewesen, auch wenn sie letztlich mitschuldig war am Tod seiner Gefährten. Als Etzel an die Bahre trat und seine tote Gemahlin bitterlich beweinte, konnte selbst Hildebrand, unter dessen Schwerthieben Kriemhild ihr Leben gelassen hatte, seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Etzel aber küsste Kriemhilds kalte Hände und rief: „Hätte ich jemals geahnt, dass Du durch Deine grenzenlose Treue zu Siegfried dieses Unheil hier auslösen würdest, ich hätte lieber meinen ganzen Reichtum und alle Ländereien aufgegeben statt Dich und meine Schwäger und Freunde zu verlieren!“ Dann schickte er seine Leute aus, nach seinem Sohn Ortlieb zu suchen. Man fand das Kind schließlich im eigenen Blut liegend und ohne Kopf und bettete seinen zarten Körper auf eine Bahre neben seine Mutter. Es war erst wenige Stunden her, seit Etzel sein Söhnchen den Gästen aus Burgund vorgestellt und seine Schwäger gebeten hatte, Ortlieb mit nach Worms zu nehmen um ihn entsprechend seiner königlichen Abstammung zu erziehen.
Dann trugen die Diener den toten Blödelin herbei und legten ihn neben Kriemhild und Ortlieb. Auch wenn er kein Christ war - er gehörte zur Familie, und im Tode sollte die Religion keine Rolle mehr spielen. Diesmal aber klagte Etzel nicht, sondern schalt seinen toten Bruder für dessen ruhmlose Tat, die Gäste am Hunnenhof überfallen zu haben. Etzel wusste zwar von Hagens Missetaten, er wäre aber nie auf den Gedanken gekommen, Hagen unter Missachtung des Gastrechtes zu töten. Und alle, die hier jetzt tot lagen, ob Burgunder, ob Hunnen oder Etzels Vasallen, hätten ihm in der Not jederzeit Beistand geleistet. Doch statt ihn vor dem tiefen Hass seiner Frau Kriemhild gegen die Burgunder zu warnen, hatte Blödelin zu den Waffen gegriffen und die Zukunft des Hunnenhofes zunichtewerden lassen. Dies machte Etzel mit zorniger Stimme seinem hier aufgebahrten Bruder zum Vorwurf. Und er ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er seinen Göttern, „Götzen“ nannte er sie, die Schuld für das hier entstandene Unheil gab. „Wäre ich bloß Christ geblieben“, wie er es fünf Jahre lang war, „dann wäre mir vielleicht dieses Schicksal erspart geblieben!“, klagte der Hunnenkönig.
Schließlich setzte Dietrich von Bern Etzels Jammern entgegen, dass es ihm selbst eigentlich viel schlimmer ergangen sei. Denn während Etzel noch genügend Untertanen blieben, die ihm zur Seite stehen könnten, habe er alle seine Gefährten verloren, mit deren Hilfe er seine Herrschaft einst zurückgewinnen wollte.
Als nächsten fand man Iring, den Hagen mit einem Speerwurf tödlich getroffen hatte, bevor jener hatte fliehen können. Man trug ihn und dreißig seiner Mannen auf Totenbahren weg.
Als dann König Etzel den enthaupteten Burgunderkönig Gunther sah, setzte er erneut mit seinem Wehklagen ein. Dietrich klärte ihn darüber auf, wie Gunther ums Leben gekommen war: Nicht im heldenhaften Kampf sei er gefallen, sondern die Rache seiner Schwester habe ihn letztlich ereilt und sein Ende besiegelt. Für Etzel war es aber nicht die Schuld seiner geliebten Gattin, sondern die seines Bruders Blödelin und dessen Vasallen, die den Kampf begonnen hatten. Der Waffenmeister Hildebrand aus Bern war schließlich derjenige, der die eigentliche Ursache beim Namen nannte: „Hier liegt der Teufel, der alles verschuldet hat. Blödelin wollte nur all das Leid rächen, das Hagen seiner Herrin zugefügt hatte“, und er zeigte dabei auf den Tronjer.
Für Etzel blieb Hagen trotzdem Gast, der nur dadurch den Tod gefunden hatte, weil das Gastrecht verletzt worden war, und er ließ den Leichnam zu Gunther und den Seinen tragen. Als die Leute im Hofe dies sahen, verfluchten und bespuckten sie den erschlagenen Hagen, denn alle erblickten in ihm den Unhold, dessen Schandtaten das ganze Unheil ausgelöst hatten.
Etzel, Dietrich von Bern und Hildebrand schritten nun dorthin, wo Dietrichs gefallene Helden und die toten Burgunder lagen. Zuallererst stießen sie auf einen Ritter, aus dessen Panzer reichlich Blut geflossen war. Hildebrand erkannte ihn sofort: „Dies hier ist der Spielmann Volker, gegen den ich kämpfte. Und wäre mir Helferich nicht beigestanden, dann hätte mich Volker besiegt. So aber kam es umgekehrt.“ Etzel wollte noch mehr wissen, und so erfuhr er von Hildebrand, dass der Fiedler einer von König Gunthers Getreuen war und aus Alzey stammte. Als Dietrich den Tod dieses Helden beklagen wollte, fand Hildebrand dies ganz und gar nicht angemessen. Schließlich hatte Volker mindestens zwölf Ritter aus Dietrichs Schar erschlagen und darüber hinaus noch viele andere Kämpfer. Und dies waren Hildebrands Worte:
„Uns hat Volkers Hand
hier so sehr geschädigt,
dass wir es nie
verwinden können.
Von Deinen Leuten
hat er ganz alleine sicher zwölf erschlagen.
Ich danke Gott,
dass er nicht länger am Leben blieb.
Als ich mit ihm kämpfte,
wehrte sich der Held so mächtig,
dass es dröhnte wie von Donnerschlägen.
Doch verletzte ich ihn dann.
Diese Wunde, die so klafft,
schlugen ihm meine Hände.“
aus der Klage
in: Das Nibelungenlied von Joachim Heinzle, 2013
König Etzel ließ Volker zu den anderen Toten bringen, wo die Klageweiber ihren Dienst verrichteten. Die drei Helden aber schritten weiter die Reihe der Toten ab, und wo immer sie ein bekanntes Gesicht entdeckten, machten sie Halt und sparten nicht mit guten Worten über den Getöteten. Gleichgültig, ob es sich um einen Getreuen des Hunnenkönigs oder Dietrichs handelte oder um einen Burgunder. Fiel das Lob über einen Burgunder jedoch zu überschwänglich aus, mischte sich Hildebrand ein und wies darauf hin, dass es letztlich die Burgunder gewesen seien, die hier so schrecklich gewütet hätten. So geschah es auch, als sie Hagens Bruder Dankwart auffanden und Dietrich ihn als glanzvolles Vorbild rühmte. Da unterbrach ihn Hildebrand: „Hört damit auf, einen zu rühmen, der so viele von Deinen Begleitern erschlagen hat!“ Als Dankwarts Leichnam zu den anderen Toten getragen wurde, erhob sich erneutes Klagen, aber auch zorniges Geschrei, denn die Hunnen erkannten in ihm denjenigen, der Blödelin getötet hatte.
Und weiter suchten die Drei unter den Toten nach ihren gefallenen Getreuen. Als nächsten fanden sie Wolfbrand, einen Amelungen, der gemeinsam mit Dietrich an manchen Kämpfen an Etzels Seite teilgenommen hatte. Neben ihm lag der Berner Herzog Siegestab in seiner mit Edelsteinen geschmückten Rüstung, die ihn aber nicht vor den tödlichen Schwerthieben hatte schützen können. Hildebrand hatte im Gefecht beobachtet, dass es Volker war, der Siegestab getötet hatte, und er hatte ihn gerächt, indem er seinerseits Volker erschlug. Bevor man den Herzog wegtragen konnte, musste man ihm seinen schweren Schild abnehmen, den er noch immer schützend vor sich hielt.
Der nächste aus Dietrichs Gefolge war Wolfwin, dessen Körper durch viele Schwerthiebe nahezu entstellt war. Hildebrand war darüber sehr erschüttert, denn Wolfwin war sein Neffe. Nun lag dieser, ein Burggraf, vor ihnen, gefallen durch die Hand Giselhers, einem der drei Burgunderkönige. Giselher war der jüngste unter ihnen und seiner Schwester Kriemhild besonders zugetan gewesen; den Mord an seinem Schwager Siegfried aber hatte auch er nicht verhindert.
Trotz seiner Jugend verstand er es offensichtlich zu kämpfen, denn er hatte neben Wolfwin auch die beiden Ritter Nitger und Gerbart bezwungen. Aber auch König Gunther hatte im Kampfe seinem Bruder in nichts nachgestanden, hatte er doch die drei Berner Wiknant, Siegeher und Wikhart getötet. Dietrich musste im Angesicht seiner toten Gefährten vor Schmerzensleid laut stöhnen. Etzel jedoch begann nach Sitte der Hunnen erneut ein lautes Wehgeschrei, das weithin zu hören war. Als sich beide wieder gefasst hatten, ordneten sie an, die vielen Leichen, die um den Palas herum lagen, fortzutragen. Es waren derer so viele, dass es nicht genügend Männer gab, den Toten die Rüstungen auszuziehen, und so übernahmen Frauen und Mädchen diese traurige Aufgabe. Dort, wo sie die Riemen nicht lösen konnten, schnitten sie diese einfach auf; es gab ja niemanden mehr, der die Rüstungen hätte tragen können. Zwar waren zahlreiche Männer aus der Umgebung herbeigeeilt, um zu sehen, was auf der Burg vorgefallen war, aber sie standen nur gaffend herum. Etzel nahm dies voller Zorn wahr und befahl ihnen, den Frauen zu helfen. Vergebens, denn diese einfachen Leute hatten keine Ahnung, wie eine Rüstung beschaffen war. So mussten also die Frauen ohne Unterstützung mit dem Totendienst fortfahren, während die Leichenberge weiter anwuchsen: mehr als achthundert Tote hatte man bereits herbeigeschafft.
Nun begann sogar Hildebrand laut zu jammern, denn er hatte seinen Neffen Wolfhart entdeckt. Er und Giselher hatten sich letztlich gegenseitig erschlagen. Wolfhart hielt sein Schwert noch immer fest umklammert, so dass Dietrich und Hildebrand Zangen zur Hilfe nehmen mussten, um den Schwertgriff aus Wolfharts Fingern zu befreien. Während man seine Leiche wusch und von seiner Rüstung befreite, hub Dietrich zu einer langen Klagerede an. Er machte sich auch selbst Vorwürfe, dass er Wolfhart und die anderen Amelungen aus Bern (so hieß damals Verona) fortgeführt habe und sie statt Dank nun den Tod gefunden hätten. Hildebrand, der selbst genügend Grund zur Klage hatte, brachte ihn schließlich mit den Worten, dass Klagen für niemanden gut seien, zum Schweigen.
Neben Wolfhart lagen Giselher und noch zahlreiche andere, die der König erschlagen hatte, darunter mehr als dreißig Berner. Trotzdem fanden Dietrich und sogar Hildebrand lobende Worte für den toten Burgunder und sprachen von seiner Großzügigkeit und seinem Heldenmut. Dietrich hatte natürlich nicht vergessen, dass Giselher mit Rüdigers Tochter verlobt gewesen war. Und da Rüdigers Frau Gotelind eine Cousine von Dietrich war, gehörte Giselher bereits gewissermaßen „zur Familie“.
Man schaffte Giselher zu Kriemhilds Bahre, wobei man hart zu tragen hatte, denn Giselher trug eine schwere Rüstung. Auch alle Knappen aus Burgund brachte man herbei, denn man ging vermutlich zu Recht davon aus, dass sie alle Christen gewesen seien.
Von den drei Burgunderkönigen fehlte nur noch einer, nämlich Gernot. Man fand ihn schließlich mit einer tiefen Todeswunde, die ihm Rüdiger zugefügt hatte. Er hatte allerdings keinen wirklichen Sieg davongetragen, denn gleichzeitig hatte auch ihm Gernot einen tödlichen Streich versetzt. Er hatte noch das Schwert in der Hand, an dem Hildebrand keine einzige Scharte entdecken konnte - so vorzüglich war die Klinge geschmiedet. Dieses Schwert hatte noch vor kurzem Rüdiger selbst gehört. Er hatte es Gernot als Gastgeschenk überreicht, als die Burgunder auf ihrem Weg zu Etzel an seinem Hof Rast gemacht hatten. Welche Ironie des Schicksals: mit dem eigenen Geschenk erschlagen zu werden!
Etzel bedauerte den Tod Gernots ganz besonders, denn ihm und seinen Brüdern wollte er ursprünglich sein Söhnchen Ortlieb zur königlichen Erziehung anvertrauen. Als man Gernot zu den anderen Toten trug, traten die Klageweiber neugierig hinzu, um den Burgunderkönig auch einmal aus der Nähe zu sehen.
Dort wo man Gernot gefunden hatte lag nur ein paar Schritte weiter der tote Rüdiger auf seinem Schild. Für Dietrich von Bern war er ein Verwandter und vor allem ein unersetzlicher Freund. Denn er hatte es Rüdiger zu verdanken, dass er vor zwölf Jahren erneut an Etzels Hof Aufnahme fand, obwohl ihm Etzel den Tod seiner beider Söhne Ort und Scharf zur Last legte. Der Hunnenkönig hatte sie damals Dietrich anvertraut, als dieser sein Reich zurückerobern wollte. In der Schlacht vor Raben (so hieß damals Ravenna) hatten jedoch beide ihr Leben verloren, zwar durch eigene Schuld, aber Etzel machte Dietrich dafür verantwortlich und wollte Rache an ihm nehmen. Nur durch Rüdigers Einsatz und den Zuspruch Etzels damaliger Frau Helche wurde der Hunnenkönig umgestimmt. Kein Wunder, dass Dietrich jetzt laute Klage anstimmte, in die Etzel ebenfalls einfiel; war ihm der Markgraf doch stets ein treuer Vasall gewesen, frei von jeglicher Falschheit. Dietrich bat Etzel, auch in Zukunft als Dank für Rüdigers Dienste für dessen Frau und Tochter zu sorgen, eine Verpflichtung, die der Hunnenkönig auch ohne Dietrichs Bitten übernommen hätte. Unterdessen versuchte Hildebrand, die Leiche des Markgrafen aus dem Saale zu tragen. Aber als sich der verwundete Berner bückte, begann seine Wunde erneut zu bluten, und er schaffte es mit seiner Last gerade bis zur Tür. Dort verließen ihn die Kräfte, und er sank ohnmächtig zu Boden. Erschrocken rief Etzel um Wasser, dann kniete er vor Hildebrand nieder und goss das Wasser über dessen Kopf. Schnell erholte sich Hildebrand, schämte sich aber seiner Schwäche und darüber, dass es der Hunnenkönig persönlich war, der sich seiner annahm. Der aber fand es nur recht und billig, demjenigen einen Dienste zu erweisen, der ihm so lange zur Seite gestanden und für ihn gekämpft hatte. Wie angesehen Rüdiger gewesen war, konnte man jetzt erleben, als er aus dem Saal getragen wurde. Das ganze Gefolge, Männer wie Frauen, Alte wie Junge stimmten laute Klage an. Manch eine Frau zerriss vor Schmerz ihre Kleider und man konnte Mädchen sehen, die sich die Haare ausrissen und das Gesicht zerkratzten. So war es damals bei Totenklage Sitte, und dies nicht nur unter den Hunnen.
Ausschnitt aus einem Karton zu den Nibelungenfresken von Albert Burkart in Fürstenfeldbruck, 1940
Wie die Toten aufgebahrt und dann begraben wurden
Schließlich hatte man die Vornehmsten unter den Toten auf Bahren gelegt; siebzehnhundert Christen und Heiden lagen da nebeneinander. Es war eine Totenschau, wie sie grausamer nicht sein konnte, als Familienmitglieder und der vornehme Hofstaat der gefallenen Könige und Fürsten vorbei zogen. Allein sechsundachtzig junge Damen waren darunter, welche erst Helche und später ihre Nachfolgerin Kriemhild erzogen hatten. Es sollen hier nur einige dieser trauernden Damen genannt werden:
Da waren zunächst die Fürstin Herrat, Helches Nichte und gleichzeitig Dietrichs Verlobte, König Nitgers Tochter Sieglind und Goldrun, die Tochter von Lüdiger aus Frankreich. Beide waren seinerzeit Helche anvertraut worden, um in den höfischen Sitten unterwiesen zu werden.
Aufzuführen sind zudem die Fürstentöchter Hildeburg aus der Normandie und Helind aus Griechenland sowie die Herzogin Adellind aus Ungarn.
Diese kurze Liste zeigt, in welch hohem Ansehen Etzels Hof stand. Jeder namhafte Fürst wünschte sich, dass seine Tochter dort ihre Erziehung genießen sollte. Deshalb waren unter den Klagenden allein achtzig Grafentöchter. Und natürlich folgten dem Trauerzug auch alle Witwen, deren Männer unter den Toten lagen, und Verwandte, die einen der Ihren zu beklagen hatten.
Viele Leute aus der Umgebung waren herbeigeströmt, um zu sehen, ob einer ihrer Lieben sein Leben auf dem blutigen Schlachtfeld gelassen hatte. Und so nahm das Wehklagen kein Ende. Als Dietrich unter den Trauernden die Stimme seiner Verlobten Herrat vernahm, ließ er sie und die anderen jungen Frauen wegführen, um deren Schmerz etwas zu lindern und um endlich die Bestattung der Toten vorbereiten zu können. Da Etzel in seinem Leid dieser Aufgabe nicht gewachsen war, fiel sie ganz allein Dietrich und Hildebrand zu. Sie ließen zuallererst die drei Burgunderkönige in Särge legen. Kriemhild und ihr Söhnchen wickelte man in ein wertvolles Seidentuch und bettete sie in einen großen Sarg. Ähnlich verfuhr man mit Etzels Bruder Blödelin. Sodann wurden sie mit großem Prunk bestattet. Um die noch folgenden zahlreichen Begräbnisse vornehmen zu können, wurden so viele Männer, Geistliche und Priester, wie man auftreiben konnte, zur Burg beordert. Als Ersten senkten sie Rüdiger in sein Grab, ganz nahe bei den Burgunderkönigen. Ein würdiger und ehrenvoller Abschied wurde auch den anderen Königen und ruhmreichen Helden bereitet. Darunter befanden sich sowohl Hawart, Iring und Irnfried als auch Hagen, Dankwart und Volker, um nur einige zu nennen. Da allein die Bestattung der Vornehmen drei volle Tage beanspruchte, mussten die noch ausstehenden Bestattungszeremonien verkürzt werden. Man kam schließlich überein, die restlichen Toten in ein Gemeinschaftsgrab zu legen. Den zahlreichen Schaulustigen wurde deshalb befohlen, eine große Grube auszuheben, in die man dann die Toten bettete. Den Anfang machten die neunhundert burgundischen Knappen, gefolgt von allen anderen Opfern, Christen wie Heiden.
Für Etzel war es ein schwerer Abschied nicht nur von Frau und Kind, sondern auch von seinen vielen Getreuen. Als er klagte, dass ihm nun kein Gefährte mehr zur Seite stehe, erinnerte ihn Dietrich daran, dass es im Hunnenland noch genügend tapfere Männer gebe und schließlich seien ja noch er und Hildebrand da. Aber auch damit konnte er den Hunnenkönig nicht beruhigen. So wich auch bei Dietrich schließlich alle Entschlossenheit und Mutlosigkeit machte sich breit. Der alte und erfahrene Hildebrand erkannte die ausweglose Lage und empfahl deshalb seinem Herrn: „Was sollen wir hier noch ausrichten, mein Herr? Lasset uns gemeinsam mit Herrat und allem, was Dir einst die Königin Helche zum Geschenk gemacht hatte, das Land verlassen.“ Dietrich stimmte nach einigem Hin und Her diesem Vorschlag zu, wollte sich aber vorher um die Hinterlassenschaften der Gefallenen kümmern. Er ließ Rüstungen und Waffen von Blut und Schmutz reinigen und Etzel zur Aufbewahrung übergeben. Alle Rüstungen und Waffen, deren ursprüngliche Besitzer man kannte, sollten in deren Heimat zurückgebracht werden. Dies sollte Etzels Sinn für Gerechtigkeit beweisen und somit sein Ansehen mehren. Der Hunnenkönig, inzwischen wieder gefasst und fähig, seinen Pflichten nachzukommen, begrüßte den Vorschlag. Sogleich ließ er Rüdigers Rüstung, Schild und Schwert herbeibringen und dessen Schlachtross damit beladen. Rüdigers Knappen, es waren deren nur noch sieben, sollten damit den Heimweg antreten. Doch wer sollte die schreckliche Botschaft Rüdigers Witwe Gotelind und danach dem Hof in Worms überbringen? Der König entschied: „Schwemmel soll es sein, denn dieser kennt den Weg.“ Als dessen Begleiter wurden zwölf Männer benannt, und man begann sogleich, weitere Pferde mit dem Eigentum der Helden aus Burgund zu bepacken. Für Schwemmel war es ein Schock, als er diesen Auftrag vernahm. Wusste er doch, dass es noch vielfach Sitte war, den Überbringer schlechter Nachrichten mit dem Tode zu „entlohnen“. Er versuchte daher den König davon zu überzeugen, dass er für diese Aufgabe mangels Erfahrung ungeeignet und nur ein Spielmann sei. Doch keine Widerrede half ihm. Etzel persönlich gab ihm Anweisungen, wie er Brünhild in Worms von den Geschehnissen auf Etzels Hof zu berichten habe: „Schildere ganz genau, wie es sich zugetragen hat. Auch, dass mich keine Schuld trifft, denn ich habe nicht das Gastrecht verletzt. Im Gegenteil - meine Gäste haben meine Freundschaft mit Feindschaft vergolten.“
Dietrich jedoch verstand sehr wohl die Nöte des Spielmannes. Er gab ihm daher den Rat, auf seinem Weg nach Bechelaren niemanden etwas zu erzählen und auf entsprechende Fragen zu antworten, dass der Markgraf später nachfolgen würde. Auch Gotelind und deren Tochter sollte er die Wahrheit verschweigen und behaupten, Rüdiger werde so lange im Hunnenland ausharren, bis sich die Burgunder unter seiner Begleitung auf den Heimweg machten. Er, Dietrich, würde dann auch selbst zu Besuch nach Bechelaren kommen.
Wie Schwemmel die Todesnachrichten überbrachte
Nachdem Dietrich den Boten entlassen hatte, machte sich Schwemmel mit seinen zwölf Begleitern und Rüdigers Knappen auf den Weg. Hinter ihnen blieben die Klagenden und die Toten zurück, vor ihnen lag die Ungewissheit. Unterwegs wurden sie oft gefragt, warum sie so bedrückt und traurig wirkten. Aber sie hielten sich an Dietrichs Rat und verschwiegen die Wahrheit, auch wenn es ihnen manchmal schwer fiel. Als sie in Österreich ankamen, wurden sie besonders oft mit Fragen nach Rüdiger bedrängt, denn dort war der Markgraf bekannt und beliebt. Schließlich erreichten sie Wien, das von der Herzogin Isalde regiert wurde. Die Fürstin ließ Schwemmel zu sich rufen und erkannte mit dem feinen Gespür einer Frau, dass da etwas war, das den Boten sehr bedrückte. Bald brachte sie den Spielmann dazu, ihr alles zu berichten. Es wäre besser gewesen, er hätte geschwiegen, denn nun stimmte Isalde laute Klage an, die man im ganzen Hofe vernehmen konnte. Schnell breitete sich die Nachricht in Wien aus. Deshalb machten sich die Boten schleunigst wieder auf den Weg, damit die Todesnachricht nicht vor ihnen nach Bechelaren gelangen würde.
Anders als es sonst bei Knappen üblich war, kamen sie dort hoch zu Ross angeritten. Die kleine Schar wirbelte so viel Staub auf, dass man auf Rüdigers Burg glaubte, der Herr käme zurück. Des Markgrafen Tochter fiel aber bald auf, dass es nur wenige Knappen waren, die da geritten kamen. Und entgegen ihrer Gewohnheit lärmten und scherzten die Knappen nicht, wie sie es sonst taten, wenn sie heim kamen, sondern näherten sich zusammengesunken und schweigsam. Das Mädchen wunderte sich auch, dass die Knappen ihres Vaters Pferd am Zügel führten und dass das Pferd sehr unruhig war und nur widerwillig folgte. Sie eilte zu ihrer Mutter und berichtet ihr von ihren Beobachtungen. Sogleich erinnerte sich Gotelind an ihren schrecklichen Traum, in dem ihr Mann völlig ergraut und sein Gefolge ganz mit Schnee bedeckt waren. Sie wurde dann in ein dunkles Gemach gebeten, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Jetzt fiel auch Dietelind ein Traum ein, den sie kürzlich hatte. Darin ging es um ihres Vaters Streitross Boimunt, welches wilde Sprünge machte, dann Wasser trank und auf der Stelle im Teich versank. Die Schilderung ihrer Träume weckte bei den zwei Frauen böse Vorahnungen. Sie gingen in den Hof, wo Schwemmel gerade von den anwesenden Rittern willkommen geheißen wurde. Die Knappen aber ritten wortlos vorüber und direkt zu den Ställen, wo sie die Pferde abluden. Gotelind stellte sie zur Rede und erhielt die Antwort, dass Etzel sie grüßen lasse und ihr versicherte, für sie immer da zu sein. Und dass Rüdiger für den Hunnenkönig in einen Krieg gezogen sei. Das Ganze klang sehr vage und die Zweifel bei Gotelind waren nur allzu deutlich. Deshalb fuhr der Sprecher der Knappen fort: „Ich soll Euch, meine Herrin, weiterhin melden, dass Fürst Dietrich in zwölf Tagen nach Bechelaren zu Besuch kommen werde.“ Nun waren die Frauen sichtbar erleichtert, und Dietelind wollte wissen, wie denn die Burgunder von Kriemhild empfangen worden seien, vor allem Gunther und Hagen, und warum Giselher ihr keine Grüße senden würde. Aus Angst, die Wahrheit gestehen zu müssen, spann der Knappe sein Lügengespinst weiter und erzählte von einem freundlichen Empfang aller an Etzels Hof und dass Giselher bei Abreise der Knappen gesund und munter gewesen sei. Sicherlich würde er bald auf dem Rückweg zum Rhein in Bechelaren vorbei kommen. Die anderen Knappen standen daneben und lauschten ungläubig den Lügen ihres Kameraden, bis einer von ihnen zu weinen begann. Da konnten sich auch die anderen Knappen nicht mehr zurückhalten und einer nach dem anderen stimmte eine Klage an. Jetzt erkannte Gotelind, dass etwas sehr Schlimmes geschehen sein musste, und sie forderte den Knappen auf, ihr die Wahrheit zu sagen. Da riss Schwemmel das Wort an sich und begann die Vorkommnisse in Gran zu schildern. Einmal angefangen, sprudelte es nur so aus ihm heraus - es schien, als wollte die Wahrheit endlich ans Tageslicht gelangen. Schonungslos sprach er vom Tod Giselhers und davon, dass Rüdiger von Gernot erschlagen worden war. Trotz aller Vorahnungen war das Gehörte für die beiden Frauen so entsetzlich, dass sie jegliche Fassung verloren und zusammenbrachen. Man musste ihre Gesichter mit kaltem Wasser besprühen, damit sie wieder zu sich kamen. Während Gotelind weiter verzweifelt nach ihrem Mann rief, fasste Dietelind sich einigermaßen und wollte wissen, warum ihr Onkel Dietrich von Bern den Tod ihres Vaters nicht verhindern konnte. Schwemmel gab zu bedenken, dass Dietrich selbst nur mit knapper Not dem Tod entronnen war. Hätte man Etzel nicht daran gehindert, in diesen Kampf einzugreifen, wäre auch er umgekommen. „Aber wie konnte es sein, dass sich mein Vater und Gernot plötzlich in Feindschaft gegenüber standen?“ fragte Dietelind. „Die Königin war es“, antwortete der Spielmann. „Kriemhild allein hat alle gegeneinander aufgehetzt und so den Tod aller verschuldet. Sie hat aber keinen Vorteil daraus gezogen, sondern mit dem Tode gebüßt.“ Das Klagen nahm daraufhin kein Ende, schon gar nicht, als man die zerhauene, glanzlose Rüstung von Rüdiger sah. So kam es, dass gegen alle Sitte den Gästen kein Trunk, sei es Wein, sei es Wasser, gereicht wurde. Dies war so befremdlich, dass Schwemmel, der als Bote bislang anderes gewohnt war, seine Begleiter zum Aufbruch anhielt. Jetzt erst besann sich die junge Markgräfin ihrer Pflichten und ließ Etzels Boten in der Stadt Quartier bereiten. Sie trug Schwemmel zum Abschied auf, Königin Ute in Worms darüber zu unterrichten, dass man sie, Dietelind, König Giselher angetraut habe und dass Gernot ihren Vater Rüdiger erschlagen habe.
Wollte sie damit andeuten, dass das Burgunderreich ihr gegenüber in der Pflicht stand?
Am nächsten Morgen ritten Schwemmel und seine Begleiter weiter Donau aufwärts nach Passau. Als man Bischof Pilgrim berichtete, dass Boten aus dem Hunnenland zu ihm unterwegs seien, dachte er zunächst, dass es sich um seine drei Neffen und ihr Heer handelte. Bald aber musste er sich sagen lassen, dass sie alle im Hunnenland erschlagen worden waren. Es war Schwemmel, der ihm wahrheitsgemäß die Ereignisse an Etzels Hof schilderte. Wie schon in Wien und in Bechelaren musste der Spielmann auch hier wieder lautes Klagen vernehmen, welches allerdings schnell verebbte, weil Pilgrim sein Gefolge anwies, nicht zu jammern, sondern alle Priester und Mönche herbeizurufen. Er wollte nämlich, wie es seine Pflicht als Onkel und Priester war, eine Totenmesse lesen, die er dann auch selbst leitete und sang. Danach rief er wieder Schwemmel zu sich, um ihm eine Botschaft für Ute aufzutragen. (Der arme Schwemmel - jeder trug ihm eine Botschaft auf). Er sollte die Königin davon unterrichten, dass es von Kriemhild nicht rechtens war, Gernot und Giselher töten zu lassen. Es hätte genügt, Hagen als Siegfrieds Mörder seine Tat büßen zu lassen; das hätte man Kriemhild nicht zum Vorwurf machen können. Schwemmel sollte der Burgunderkönigin auch ausrichten, dass vieles Klagen und Weinen unnütz sei, denn letztlich sei der Tod früher oder später unabänderlich. Die Vasallen am Königshof in Worms sollte er daran erinnern, dass König Gunther für sie immer gut gesorgt habe und sie deshalb seinem Sohn ebenfalls die Treue halten sollten.
Schwemmel musste dann dem Bischof noch versprechen, auf seinem Rückweg wieder in Passau Halt zu machen. Pilgrim hatte nämlich die Absicht, alles über die Geschehnisse in Gran aufschreiben zu lassen, und dazu war die Hilfe des Spielmannes erforderlich.
Endlich konnte sich der Bote wieder auf den Weg machen, geschützt durch ein Geleit, das der Bischof für ihn abgestellt hatte, denn sein Weg führte ja durch das gefährliche Bayernland. Aber niemand legte Hand an die Boten aus dem Hunnenland. Zwar hatte man Hagens Untaten nicht vergessen, aber diese waren jetzt durch dessen Tod gesühnt, und es gab keinen weiteren Grund für eine Feindschaft. So kamen die Boten schließlich nach Worms am Rhein. Die Leute wunderten sich sehr über das seltsame Aussehen der Fremden und auch darüber, dass diese König Gunthers Pferd mit sich führten. Sogleich meldete man dem Königshof, dass fremde Männer mit Pferden und Rüstungen der drei Könige angekommen seien. Schwemmel wich unterdes geschickt allen Fragen nach den Königen aus und wartete, bis er zu Brünhild vorgelassen wurde. Die Königin empfing ihn sehr freundlich, erhoffte sie sich doch Nachrichten von König Gunther. Dennoch war sie verwundert darüber, dass ihr Mann keinen Boten geschickt hatte, den sie kennen würde, sondern einen unbekannten Hunnen.
Schwemmel hatte inzwischen Erfahrungen in der Überbringung schlechter Nachrichten. Doch hier in der Fremde, in Worms, beschlich ihn wieder die Angst, dass man ihn wegen seiner unheilvollen Botschaft bestrafen könnte. Deshalb erbat sich zu allererst von Brünhild die Zusage, als Bote keinen Schaden zu erleiden. Die Königin zögerte nicht, ihm ihr Wohlwollen zu versichern. Aber das Verlangen des Spielmannes dämpfte ihre Freude über die Rückkehr ihres Mannes und machte der Sorge Platz, dass der Bote aus dem Hunnenland keine guten Neuigkeiten für sie hätte. Geschickt überbrachte Schwemmel zunächst die Grüße Etzels. Dann kam er auf Bischof Pilgrim zu sprechen, der Brünhild anbot, ihr stets mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Auch fordere dieser alle Vasallen des Königs auf, der Königin und ihrem Sohn als treue Beschützer zur Seite zu stehen. Und dann folgte die traurige Botschaft: „Euer Mann ist tot. Auch Gernot und Giselher werden nicht mehr zurückkommen. Ihnen erging es wie Hagen, Volker und Dankwart und dem gesamten Gefolge: sie wurden alle erschlagen.“
Jetzt erlebte Schwemmel das, was er schon kannte: es erhob sich ein lautes, vielstimmiges Klagen. Sogleich wurden Boten nach Lorsch zu Königin Ute geschickt, die daraufhin nach Worms zu Brünhild eilte. Eine Hilfe war sie allerdings nicht, denn das Wehgeschrei von Ute übertraf das von Brünhild und ihrer Bediensteten. Aber hier zeigte sich rasch die starke Bindung zum Königshaus. Von überallher kamen Landesherren geeilt, um Brünhild als Vasallen zur Seite zu stehen und ihr Hilfe anzubieten. Auch Gunthers Mundschenk Sindolt erschien, um der Königin seinen Beistand anzubieten, aber auch mäßigend auf sie einzuwirken. Er gab ihr zu bedenken, dass ihr ja noch die Freude bliebe, dass ihr Sohn die Nachfolge Gunthers antreten könne. Da fasste sich Brünhild wieder und forderte Schwemmel auf, ihr das Geschehen an Etzels Burg zu schildern. Es war inzwischen eine große Versammlung, vor der Schwemmel stand und der er nun Bericht erstattete:
„Es begann ja damit, dass Hagen Kriemhilds Mann Siegfried ermordet hatte. Und es war Kriemhilds Rache an ihm, die allen den Tod brachte. Den Anfang machte aber Etzels Bruder Blödelin, der mit seinen Hunnen sämtliche burgundische Knappen erschlug. Einzig Dankwart überlebte und tötete zur Strafe Blödelin. Als er dies der Festgesellschaft im großen Saal meldete, war Hagen der Erste, der zu den Waffen griff und das unschuldige Söhnchen von Etzel und Kriemhild umbrachte und damit den Startschuss zu einem fürchterlichen Gemetzel gab. Es war ein Kampf alle gegen alle, nicht nur Burgunder gegen Hunnen, sondern auch gegen die christlichen Vasallen Etzels. Einzig Dietrich von Bern und Rüdiger von Bechelaren hielten sich abseits. Dietrich, weil er sich beiden Seiten verpflichtet fühlte, und Rüdiger, weil er seine Tochter König Giselher zur Frau gegeben hatte. Später aber musste er seinen Treueeid gegenüber Kriemhild einlösen und in den Kampf eingreifen. Am Ende erschlugen er und König Gernot sich gegenseitig. Noch immer weigerte sich Dietrich an einem Kampf, der nicht der seinige war, teilzunehmen. Anders sein Gefolge, das den Tod Rüdigers rächen wollte und dabei den Tod fand. Bis auf einen, nämlich den Waffenmeister Hildebrand, der schwer verwundet seinem Herrn vom Untergang der Amelungen berichtete. Da hielt auch Dietrich nichts mehr zurück. Ihm blieben nur noch zwei Gegner, nämlich Gunther und Hagen als einzige überlebende Burgunder. Statt sie zu töten, rang er einen nach dem anderen nieder, fesselte sie und übergab sie Kriemhild als Gefangene. Der Berner hätte mit keinem von beiden so leichtes Spiel gehabt, wenn sie nicht schon zwei Tage lang im Kampf gestanden hätten. So aber waren sie geschwächt und konnten Dietrich nicht widerstehen. Kriemhild hatte jetzt freie Hand, ihre Rache zu vollenden und beide Gefangene in den Tod zu schicken. Darüber war Hildebrand dermaßen erbost, dass er seinerseits Kriemhild vom Leben in den Tod beförderte. Ich, Schwemmel, ein Spielmann König Etzels, ließ meinen Herrn in seinem Elend zurück, um Euch in seinem Auftrag dies kund zu tun.“ Mit diesen Worten beendete der Hunne seine Rede und wieder erhob sich laute Klage. Königin Ute wurde von so viel Leid krank und starb nach sieben Tagen daran. Sie wurde in ihrer Abtei Lorsch begraben.
Die Höchsten und Vornehmsten zu Hofe aber kümmerten sich um Brünhild. Sie sollte ihren Kummer zurückstellen und Sorge für einen neuen Herrn in Worms tragen. Natürlich konnte dies nur ihr Sohn als legitimer Nachfahre von König Gunther sein. Auch Rumolt, Gunthers Küchenmeister und enger Vertrauter, der nicht mit ins Hunnenland gezogen war, unterstütze diese Ansicht. Aus dem, was er aus Schwemmels Bericht entnommen hatte, ergab sich für ihn klar die Schuldfrage: Es war nicht der Streit zwischen Brünhild und Kriemhild, der den Ausschlag geben hatte, wie dies die Königin in ihrem Leid glaubte, denn dieser hätte sich leicht beilegen lassen. Nein, es war einzig Hagens Schuld, weil er Kriemhilds Mann ermordet und ihren Schatz geraubt hatte.
Schließlich fanden die Beratungen schnell ein Ende, und es wurde in aller Eile ein großes Fest vorbereitet. Brünhilds Sohn wurde mit großem Prunk in Worms zum König gekrönt, und das Land Burgund hatte wieder einen Herren.
Schwemmel aber erbat sich die Erlaubnis, ins Hunnenland zurückkehren zu dürfen. Dort traf er Etzel und Dietrich und er berichtete beiden getreulich von seiner Reise. Nachdem er geendet hatte, versank Etzel in tiefe Trauer. Er schien kein Interesse mehr an seiner Umgebung zu haben. Da beschloss Dietrich, Etzels Hof zu verlassen und zusammen mit Herrat und Hildebrand in seine Heimat zurückzukehren. Der König reagierte darauf verzweifelt, denn nun würden ihn auch noch die letzten Getreuen verlassen. Auch als er Dietrichs Treue beschwor, konnte er ihn nicht umstimmen. Alles Bitten und Flehen nutzte nichts.
Da Dietrich kein Gefolge mehr hatte, welches ausreichend Schutz für viele Lasttiere bieten konnte, blieb Herrat nur ein Saumpferd, das sie mit ihrem Eigentum beladen konnte. Allerdings gab es darunter ein wertvolles Erbe von Helche, nämlich deren Sattel, geschmückt mit Gold und Edelsteinen. Nicht minder prachtvoll war die dazugehörige Satteldecke. Als die Drei Abschied von Etzel nahmen, übermannte ihn das Leid so sehr, dass er zusammenbrach. Davon sollte er sich nicht mehr erholen, sondern in Schwermut versinken. Was weiterhin aus ihm geworden ist, verliert sich im Dunkel der Geschichte.
Unter den Zurückgebliebenen an Etzels Hof war niemand, der den Abschied von Dietrich und seiner Begleitung nicht sehr bedauerte. Die kleine Truppe aber kam nach sieben Tagen wie versprochen in Bechelaren an. Dort wurde sie jedoch nicht von Gotelind empfangen, sondern von deren Tochter Dietelind. Diese war in tiefer Trauer, denn ihre Mutter war drei Tage zuvor gestorben. Sie hatte das große Leid über Rüdigers Tod nicht verwinden können. Herrat nahm die junge Fürstin in ihren Arm, um sie zu trösten. Vergeblich, denn Dietelind war zu verzweifelt darüber, jetzt ganz allein in der Welt zu sein. Nun versuchte auch Dietrich, ihr Mut zuzusprechen. Er versicherte ihr, sie stets nach allen Kräften unterstützen zu wollen und für sie einen Mann zu suchen, mit dem sie die Zukunft meistern werde. Nachdem er Dietelind dem Schutz der verbliebenen Vasallen anvertraut hatte, machte er sich auf den Weg in seine Heimat.
Hier endet die Geschichte, welche DIE KLAGE genannt wird.
Meister Konrad legte die Schreibfeder zur Seite. Vor ihm lagen elf eng beschriebene Pergamentblätter. Er konnte nicht ahnen, dass sein Werk später mehrfach aus der üblichen Kirchensprache ins Deutsche übertragen werden sollte.
Nachwort
Die Klage schließt sich in fast allen vollständigen Codices des Nibelungenlieds unmittelbar an dessen Text an. Ihre Zugehörigkeit zum Nibelungenlied erkennt man schon daran, dass es zwischen Lied und Klage gewöhnlich keinen Absatz oder gar Seitenumbruch gibt. In einigen Fällen hat die Klage nicht einmal eine gesonderte Überschrift. Trotzdem setzt sie sich vom Lied deutlich ab, denn sie ist im Gegensatz zum Lied in Reimpaarversen verfasst. Dies verdeutlichen die folgenden Anfangsstrophen bzw. –Verse von Lied und Klage, entnommen dem bereits erwähnten Buch von Joachim Heinzle:
Nibelungenlied
Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn,
daz in allen landen niht schoeners mohte sîn,
Kriemhilt geheizen. si wart ein schoene wîp,
dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp.
Die Klage
Hie hebt sich ein maere,
daz waere vil redebere
und waere guot ze sagene,
niuwan daz ez ze klagene
den liuten allen gezimt.
swer ez rehte vernimt,
der muoz ez jaemerliche klagen
und jâmer in dem herzen tragen.
Erste Editionen des Nibelungenlieds beinhalten folgerichtig Lied und Klage. Johann Jakob Bodmer, von dem die erste Transkription des Nibelungenlieds stammt, hielt die Klage sogar für bedeutsamer als den ersten Teil des Lieds. Deshalb lässt er seine Ausgabe von 1757 unter dem Titel „Chriemhilden Rache, und die Klage“ erst mit dem letzten Drittel des Lieds beginnen, lässt aber die komplette Klage folgen.
Die erste vollständige Transkription des Nibelungenlieds einschließlich Klage verdanken wir 1787 Christoph Heinrich Müller.
Friedrich Heinrich von der Hagen verfasste 1807 die erste neuhochdeutsche Übersetzung von Lied und Klage. Allerdings setzte sich mehr und mehr die Meinung durch, dass die Klage eine eigenständige Dichtung sei. Deshalb wurde spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts das Lied ohne Klage editiert. Daraus erklärt sich, warum in der teilweise recht populären Nibelungenlied-Literatur die Klage keinerlei Beachtung fand und findet, von wissenschaftlichen Bearbeitungen abgesehen. Erst Joachim Heinzle hat 2013 mit seiner Transkription und Übersetzung der Handschrift B des Nibelungenlieds die beiden Texte von Lied und Klage wieder vereint.
|