Franz Joseph
von Wocher
und das Nibelungenlied

ein Beitrag von Rainer Schöffl, München

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Nibelungenlied Handschrift A..


Wann immer über die Wieder-Entdeckung des Nibelungenlieds geschrieben wird, taucht bei den Handschriften A und C der Name von Wocher auf. In dem von Johannes Crueger 1) auszugsweise veröffentlichten Briefen von Johann Jakob Bodmer, Laurenz Zellweger und Jacob Hermann Obereit wird stets nur vom „Oberamtmann aus Hohenems“ oder vom „Oberamtmann Wocher“ gesprochen. In der ersten neuzeitlichen Veröffentlichung des Nibelungenlieds 2) heißt er „Wocher von Oberlachen“, und dieser Name findet sich dann auch in späteren Schriften, wie zum Beispiel 1856 bei Friedrich Zarncke 3). Sein korrekter Name Franz Joseph von Wocher zu Oberlochen und Hausen taucht erst viel später in der Literatur auf, beispielsweise 1955 in der Zeitschrift Montfort 4), also anlässlich der zweihundertsten Wiederkehr der Entdeckung der Nibelungenlied-Handschrift C.
Ähnlich widersprüchlich wie die Nennung seines Namens ist auch die Charakterisierung der Person Franz Joseph von Wocher, und dessen Anteil an der Wieder-Entdeckung der Handschriften A und C wird gleichfalls sehr gegenteilig beschrieben.
Obwohl von Wocher scheinbar nur eine Nebenrolle bei diesen literaturgeschichtlichen Ereignissen spielte, ist es angebracht, sich mit ihm eingehender zu befassen.

Franz Joseph von Wocher wurde am 1. November 1721 in Meersburg geboren (in 4) wird das Geburtsdatum fälschlicherweise mit 21. November angeben, was jedoch durch den Stammbaum und das Epithaph in Feldkirch-Altenstadt eindeutig widerlegt ist). Die Abstammung der Familie von Wocher lässt sich im Stammbaum 5a) bis in das 17. Jahrhundert zurückverfolgen, allerdings ist der Name Wocher bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Schwäbischen nachgewiesen 6). Das Familienbuch der Familie Wocher, niedergeschrieben 1884 von Franz Fidel Wocher, Bregenz, und der neueste Stammbaum 5b) gehen sogar bis in das Jahr 1315 zurück und erwähnen außerdem die Existenz des Namens Wocher bereits im 5. Jahrhundert in Säckingen.
Wann die Erhebung der Wocher in den Adelsstand erfolgte, ist nicht eindeutig geklärt. Allerdings findet sich in dem oben erwähnten Familienbuch folgender Eintrag:

[…] Von einem Alt. Wocherischen Geschlecht erwähnt eine gedruckte Beschreibung einer älteren Belagerung der Stadt Wien durch die Türken, welche der große Historiograf, der regierende Graf Franz Truchsess Waldburg-Zeil in seiner Hausbibliothek hatte:
Gedruckte Beschreibung erwähnt eines Wocher’s, der sich während der Belagerung von Wien, dergestalt an Bravour ausgezeichnet hatte, daß er und seine Nachkommen in Adelstand erhoben wurden und ihm als Anerkennung seiner Verdienste folgendes Familienwappen ertheilt wurde:
Ein geviertes blaues Feld, worauf sich ein aufrechtstehender Luchs befindet, welcher den türkischen Halbmond in seinen vorderen Pfoten hält […]
[der türkische Halbmond ist bekanntlich eine Mondsichel, Anm. des Verfassers]


Es lässt sich mit einiger Sicherheit annehmen, dass mit der älteren Belagerung der Stadt Wien die erste Türkenbelagerung von 1529 gemeint ist. Demnach führt die Familie Wocher seit diesem Jahr das Adelsprädikat „von“ in ihrem Namen.


Auszug aus dem Stammbaum Franz Joseph von Wocher von 1922 5a)
Vorstehender Stammbaum im Vorarlberger Landesarchiv besteht aus zwei Blättern;
die Trennstelle geht durch die Aufzeichnungen über Franz Joseph von Wocher)

Ein Johann Georg von Wocher (*1639, †1699) ist der Begründer der 1. Linie derer von Wocher zu Oberlochen und Hausen, indem er 1689 das Lehen Hausen am Andelsbach und 1696 das Lehen Oberlochen (später: Oberlochau) erwarb.
Der Adelssitz oder Edelsitz Oberlochen wurde erstmals urkundlich 1291 erwähnt. Bis 1696 gab es zahlreiche, wechselnde Lehensträger. In der Kaufurkunde von 1696 wird von „[…] Schloss mit seinen umgebenden Mauern zu Oberlochau […]“ gesprochen. Der von Johann Georg Wocher, gräflich Königseggscher Obervogt, erstandene Besitz setzte sich aus einem Allodialbesitz und aus Lehensbestandteilen zusammen.


Edelsitz Oberlochen, Gemälde von Adolf Lang

1754 wurde Franz Joseph von Wocher in seinem eigenen als auch im Namen seiner Geschwister mit dem Gut Oberlochen belehnt. Nach der von der Familie von Wocher betriebenen Allodisierung im Jahre 1832, d.h. Umwandlung des Lehens in freies Eigentum, wurde das Gut an die bisherigen Pächter verkauft und ging später in den Besitz der Barmherzigen Schwestern in Zams über 6).
Diese errichteten auf dem Gut 1926 ein Pflegeheim, bei dessen Bau die vorhandenen Gebäude bis auf wenige Reste abgerissen wurden 7). Der letzte verbliebene Turm musste dann 1955 dem Bau einer Kapelle weichen 8).
Wie das Gut vor dem Abriss ausgesehen hat, zeigen einige undatierte Gemälde, die sich im Besitz des Pflegeheims befinden und welche dem Maler Adolf Lang zugeschrieben werden 7). Auf einem der Gemälde ist der riesige, fast 10 Meter lange Weintorggel zu sehen, der dann angeblich vom Landesmuseum erworben wurde. Zwei der Gemälde sind hier wiedergegeben.

Während das Gut Oberlochen in der Gesamt-ansicht einen noch ordentlichen Eindruck macht, zeigt das Detailbild bereits den schlechten Zustand des Bauwerkes. Die Ortsgeschichtliche Sammlung Lochau besitzt zusätzlich ein Foto des Guts Oberlochen, welches aber unter einem so ungünstigen Winkel aufgenommen wurde, dass nur ein Wohnhaus und Teile der Scheune zu sehen sind.


Detailansicht von Oberlochen vor dem Abriss, Gemälde von Adolf Lang
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Das heutige Pflegeheim Jesuheim in Lochau, einer Nachbargemeinde von Bregenz, ist ein ausgedehnter Gebäudekomplex und weist keinerlei historische Gebäude- oder Mauerreste mehr auf. Umso erstaunter wird daher ein Gast sein, der auf dem Besucherparkplatz einen Wegweiser zum „Edelsitz Oberlochau“ entdeckt. Dabei handelt es sich allerdings nur um zwei Ruhebänke, von denen aus man einen herrlichen, gewissermaßen „edlen“, Ausblick auf Lochau und den Bodensee hat.


Pflegeheim Jesuheim in Lochau

Das andere Lehensgut derer von Wocher ist Hausen am Andelsbach, eine kleine Gemeinde etwa 30 km nördlich von Überlingen/Bodensee. Der Ort wird weithin sichtbar überragt vom Glockenturm mit Treppengiebeln aus dem 14. Jahrhundert, ursprünglich als Wehrturm gedacht. Der erste Kirchenbau, geweiht der Heiligen Odilia, wurde 1855 durch einen Neubau ersetzt. Lediglich der ursprüngliche Turm blieb erhalten.

Johann Georg Wocher erwarb 1689 sowohl das Patronatsrecht zu Hausen (als Kompatronat mit dem Haus Sigmaringen) als auch das Lehensgut zu Hausen.
1816 gingen dann Patronatsrecht und Lehen von den von Wocher’schen Erben an den Fürst zu Hohenzollern.

Kirche von Hausen am Andelsbach
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Doch zurück zur Geschichte des Franz Joseph von Wocher.
Seine Eltern Franz Anton und Maria Theresia Friz von Cauenstein heirateten 1717. Es war vermutlich Franz Anton von Wocher, der durch den Kauf eines Schloss-ähnlichen Anwesens in Feldkirch-Levis den Wocher’schen Familiensitz begründete, wo er auch 1748 starb. Franz Joseph von Wocher wird im oben erwähnten Stammbaum als Besitzer des Edelsitzes Levis geführt. Er hatte drei Geschwister, die alle, wie auch er, zusätzlich den Vornamen Johann bzw. Johanna führten: Johann Karl Heinrich, Johann Franz Joseph, Johanna Maria Anna Antonia und Johann Carl Anton. Zusammen mit seinen Brüdern baute er nach 1770 das Gebäude im Louis XVI-Stil um. In zahlreichen Räumen befinden sich Stuckdecken, in denen die Wissenschaften, Künste und das Handwerk verherrlicht werden (siehe nachfolgendes Foto). Durch mehrfaches Übertünchen im Laufe der vielen Jahre seit ihrer Erschaffung haben die Stuckarbeiten sicherlich einiges an Kontur verloren.


Stuckdecken (Ausschnitt) im Wocher’schen Familiensitz in Feldkirch-Levis

Als Franz Joseph von Wocher 1757 Hohenems verlassen musste und Wohnsitz in Feldkirch-Levis nahm, ließ er über dem Portal das Allianzwappen von Wocher/von Püschel anbringen. Er heiratete nämlich 1746 Maria Barbara Agatha Püschel (auch: Peschel 9)) zu Luttach, mit der er 12 Kinder hatte, von denen 5 in frühem Kindesalter starben. In mehreren Veröffentlichungen sowie im Familienbuch wird von nur 10 Kindern geschrieben, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass früh gestorbene Kinder manchmal gar nicht mitgezählt wurden.
Agatha Püschel soll aus einem altadeligen Schweizer Geschlecht stammen 6), aber es dürfte wohl eher zutreffen, dass es sich, wie aus dem Familienarchiv 16) ersichtlich, um ein altadeliges Südtiroler Geschlecht handelt.


Allianzwappen über dem Portal des Familiensitzes in Levis

Im Allianzwappen sieht man links das Wappen deren von Wocher: ein steigender Luchs mit einer Mondsichel in den Vorderpranken. Rechts ist das Püschel’sche Wappen: drei gebündelte Straußenfedern 6). Die Jahreszahl 1583 auf dem Torbogen weist wahrscheinlich auf das Baujahr durch den oder die Vorbesitzer hin.
Die Feldkirchener Bürgerfamilie Wohlwend erwarb 1805 das Anwesen von Franz Joseph von Wochers Nachfahren. Es wird deshalb noch immer Wohlwendhaus genannt, obwohl es bereits seit 1899 im Besitz der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) ist. Heute ist das Anwesen in einzelne Wohnungen unterteilt, die an Privatpersonen vermietet sind.

Von Franz Joseph von Wocher scheint es kein Bildnis zu geben, wohl aber von seiner Frau M. B. Agatha. Von ihr wird berichtet 6), dass sie einst auf einer Reise nach Hausen mit einem ihrer kleinen Kinder [ es handelte sich vermutlich um ihren im November 1753 geborenen Sohn Maximilian, Anm. des Verfassers] auf dem Bodensee in einen schweren Sturm geriet. Da habe sie im Falle ihrer Rettung ein Votivbild gelobt. Dieses hängt seit 1754 in der Kirche von Hausen am Andelsbach im (üblicherweise verschlossenen) Aufgang zur Empore. Das etwa 80 cm x 100 cm große Bild hat der Künstler wohl mit Absicht im Stil der Heiligen Maria mit Kind gemalt. Da die ursprüngliche Inschrift Freifrau v. Wocher 1754 6) nicht mehr vorhanden ist, wurde das Votivbild deshalb später für ein Madonnenbild gehalten. Im linken unteren Teil des Gemäldes ist das Wappen derer von Wocher zu erkennen, so dass hier kein Zweifel besteht, um welches Bild es sich handelt.
Der Barockrahmen ist überreich mit Akanthusblattwerk und Weintrauben geschmückt.


Votivbild der Maria Barbara Agatha von Wocher, 1754

Franz Joseph von Wocher starb am 5. August 1788 und wurde, wie auch später seine Frau, in Feldkirch-Altenstadt begraben. Ein Enkel von Wochers, der als Arzt in Innsbruck lebte, löste 1859 die Grabstätte in Altenstadt auf, bat aber darum, den Gedenkstein zu erhalten10). Dieser Gedenkstein existiert noch immer. Er befindet sich an der Außenwand der Pfarrkirche St. Pankratius und Zeno in Altenstadt im hintersten Winkel
am Übergang zur Klosterkirche. Das Wappen ist noch sehr gut erhalten, und auch die Inschrift lässt sich bei günstigem Lichteinfall recht gut entziffern

Die Inschrift des Epithaphs lässt sich als Fotografie in der Vergrößerung gut lesen, jedoch nicht in der Wiedergabe als Druck. Deshalb wird hier dessen Text abgeschrieben und zwar so, wie er auf dem Epithaph steht. Das fehlende „c“ in „menshlichen“ muss kein Fehler des Steinmetz‘ sein, sondern entspricht wohl dem gesprochenen „sch“ im Mittelhochdeutschen, welches damals sicher noch gegenwärtig war.

FRANZ JOSEPH VON WOCHER
ZU OBERLOCHEN UND HAUSEN
GEBOREN AM Iten NOVEMBER 1721 GESTORBEN DEN Vten AUGUST 1788
EINGEWEIHT IN DIE TIEFSTEN GEHEIMNISSE
DER NATUR
VERWANDTE ER DEN GRÖSTEN THEIL
SEINES LEBENS
MIT DER EDELSTEN UNEIGENNÜTZIGKEIT
ZUM
WOHL SEINES VATERLANDES
UND ZUR
LINDERUNG DES MENSHLICHEN ELENDES
R. I. P.

In den schriftlichen Nachlässen der Familie von Wocher ist noch ein Brief erwähnenswert, den eine Antonia von Wocher, geb. Funkner von Funken, Schwiegertochter des Franz Joseph von Wocher, 1808 an den Bürgermeister von Feldkirch schrieb. Dieser Brief trägt ein Siegel, welches das von Wocher’sche Wappen zeigt 11). Die Mondsichel, die der Luchs in seinen Pranken hält, weist hier die bekannte Darstellung eines (Mond-)Gesichtes auf.
Die Funkner von Funken waren ein böhmisches Geschlecht, welches im 18. Jahrhundert in Liechtensteinische und gräflich Hohenemsische Dienste trat 10) und sogar einen Oberamtmann in Hohenems stellte.

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Wappen der Familie von Wocher
Ausschnitt aus dem Votivbild (oben)
von Wocher’sches Briefsiegel
von 1808

So interessant die Lebensgeschichte des Franz Joseph von Wocher und seiner Nachfahren ist, so steht doch hier der Zusammenhang dieser Person mit dem Nibelungenlied im Vordergrund.

Die Reichsgrafschaft Hohenems wurde Mitte des 18. Jahrhunderts von Graf Franz Rudolf regiert, der sich aber in kaiserlichen Militärdiensten häufig außer Landes aufhielt und deshalb die Grafschaft Hohenems von Oberamtmännern regieren ließ 4). Die Position und Aufgaben eines Oberamtmannes lassen sich heutzutage mit denen eines Landrates vergleichen. Oberamtmänner hatten in der Regel ein abgeschlossenes Jurastudium. Nicht jedoch Franz Joseph von Wocher, welcher Medizin und Naturwissenschaften studiert hatte, zunächst aber in militärischen Diensten stand, wie später auch etliche seiner Nachfahren. Da Franz Joseph von Wocher aber während seiner Militärzeit Graf Franz Rudolf kennengelernt hatte, wurde er 1745 dessen reichsgräflich Hohenemsischer Rat und Oberamtmann in Hohenems4). Die Stuckarbeiten im Familiensitz in Feldkirch-Levis (siehe Seite 5) legen Zeugnis ab von den vielseitigen Interessen des Franz Joseph von Wocher.


Palast Hohenems - Innenhof

Seit 1746 versuchte der Schweizer Philologe Johann Jakob Bodmer über seinen Freund Dr. Laurenz Zellweger aus Trogen/Schweiz in der Bibliothek von Hohenems nach mittelhochdeutschen Texten forschen zu lassen bzw. „nach altschwäbischen Gedichten“, wie er sich ausdrückte. Aus dem Schriftwechsel zwischen Bodmer und Zellweger1) geht hervor, dass diese Suche, falls sie überhaupt zielgerichtet stattgefunden hatte, ergebnislos blieb. Man erhält beim Studium dieser Briefe aber den Eindruck, dass der „Oberamtmann von Hohenems“, wie er in den Briefen immer heißt, keinerlei Interesse an einer Suche oder dem Auffinden derartiger Schriften hatte. Es erscheint deshalb erstaunlich, dass der aus Lindau stammende Arzt Jacob Hermann Obereit (auch: Oberreit oder Obereidt), welcher sich für altdeutsche Poesie begeisterte und ein Verehrer Bodmers war, am 29. Juni 1755 nicht nur Zutritt zur Bibliothek in Hohenems durch den Oberamtmann von Wocher erhielt, sondern auch nach nur kurzer Suche „[…] 2 alte eingebundene pergamentene Codices von altschwäbischen Gedichten […]“ fand, von denen eines das Nibelungenlied (heute: Handschrift C) war.
Der diesbezügliche Brief Obereits an Bodmer ist erhalten und in 1) abgedruckt. Den Inhalt der anderen, schwer lesbaren Handschrift („Barlaam und Josaphat“ von Rudolf von Ems) kannte von Wocher sogar, woraus sich schließen lässt, dass er über entsprechende Kenntnis und Bildung verfügte. Er lehnte es jedoch ab, Hermann Obereit die Schriften auszuhändigen, mit dem Hinweis, dass die Bibliothek „fideikommiss“, also unteilbar sei und er davon nichts entnehmen könne. Da es sich in diesem Falle aber nicht um eine Veräußerung, sondern um eine Ausleihe gehandelt hätte, könnte es sich bei der Begründung des Franz Joseph von Wocher auch um eine Ausrede gehandelt haben. Auf jeden Fall macht der Oberamtmann hier eine etwas zwielichtige Figur. Umso mehr verwundert, dass nur wenig später, nämlich am 14. Juli 1755, ein Johannes Delucas Riz die beiden von Obereit entdeckten Handschriften an Bodmer schicken konnte. Franz Joseph von Wocher hatte nämlich diese Handschriften Herrn Riz ohne zeitliche und örtliche Einschränkungen ausgehändigt. In seinem Begleitbrief schildert Riz den Oberamtmann von Wocher als gebildet und leutselig und dass er neben der Politik „[…] auch in den Wissenschaften zuhause […]“ sei 1). Gebildet war er in der Tat, denn „er beherrschte nicht nur die klassischen Sprachen, sondern auch Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch und Holländisch“ 17). Außerdem war er ein eifriger Kunstsammler. So befanden sich beispielsweise in seinem Besitz zwei Altarflügel von Hans Holbein d. Ä., die später das Eigentum von Gustav von Wocher in Wien wurden (siehe dazu Seite 12). Über dessen Enkel gelangten sie schließlich in den Dom zu Augsburg 18).

Die von Johannes Crueger1) sehr detailliert recherchierte Entdeckungsgeschichte des Nibelungenlieds wirft einige Fragen auf:

• Wieso suchte Obereit ausgerechnet in Hohenems nach alten Schriften?
• Wieso bekam er problemlos Zutritt zur Bibliothek?
• Wie konnte es sein, dass er nach nur kurzer Suche das Nibelungenlied entdeckte, obwohl der Zustand der Bibliothek als mehr oder weniger chaotisch beschrieben wurde?

Die Antworten darauf könnten sich aus der Tatsache ergeben, dass Jacob Hermann Obereit und Franz Joseph von Wocher miteinander verwandt waren, ein Umstand, der bisher wenig Beachtung fand. Obereits Mutter Ursula war nämlich eine geborene (von) Wocher! Der genaue Verwandtschaftsgrad lässt sich vermutlich durch Einsicht in die Lindauer Kirchenbücher ermitteln. Weiterhin kann angenommen werden, dass sich die fast gleichaltrigen Franz Joseph von Wocher und Jacob Hermann Obereit näher kannten, standen doch beide der Freimaurerei nahe oder waren gar Freimaurer, hatten ähnliche wissenschaftliche und geistige Interessen, waren beide Mediziner und pflegten Bekanntschaft mit einer Reihe derselben Persönlichkeiten. Dass sie sogar, wie mehrfach berichtet wird, Freunde waren, lässt sich allerdings nicht belegen.
So ist es jedenfalls nicht unwahrscheinlich, dass Jacob Hermann Obereit bei der Auffindung der Nibelungenlied-Handschrift durch Franz Joseph von Wocher tatkräftig unterstützt wurde. Es muss hier aber betont werden, dass dies reine Spekulation ist, für die es keine Beweise gibt, und die Verdienste Jacob Hermann Obereits sollen dadurch weder geschmälert noch gar in Frage gestellt werden.

Der erste neuzeitliche Nachdruck eines Teils des Nibelungenlieds erfolgte, wie bereits einleitend erwähnt, durch Johann Jakob Bodmer im Jahr 1757 unter dem Titel Chriemhilden Rache. Auf Seite IX dieser Veröffentlichung wird Franz Joseph von Wocher als Entdecker des Nibelungenlieds genannt, wie auf nachstehender Kopie rechts unten nachzulesen ist.
Damit verdreht Bodmer die Tatsachen völlig und lässt Obereit als den wahren (Wieder-) Entdecker des Nibelungenlieds unerwähnt.


Erste (Teil-)Veröffentlichung des Nibelungenlieds mit Nennung des Franz Joseph von Wocher im letzten Abschnitt der rechten Seite (Yale Collection of German Literature, Beinecke Rare Book and Manuscript Library)
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Die entscheidenden beiden Sätze sind hier nochmals in besser lesbarer Form wiedergegeben:

[...] Erst in diesen leztern Jahren konnten sich einige wichtige Ueberbleibsel der alten schwäbischen Literatur, die in dieser Bibliothek ligen [sic], der Aufmerksamkeit des Woledelgebohrnen Herrn Wochers von Oberlachen, nicht entziehen. Er erkannte vornehmlich den Werth dieser Gedichte, und hatte die Gütigkeit dem Herausgeber die Handschrift davon mitzutheilen.

Erst Johannes Crueger deckte in seiner als Teilabdruck erschienen Dissertation 1883 den wahren Sachverhalt auf 1). Aber damit ist die Beziehung zwischen Franz Joseph von Wocher und dem Nibelungenlied noch nicht zu Ende.

Mit dem Tod seines Brotherrn Graf Franz Rudolf änderte sich das Leben von Franz Joseph von Wocher schlagartig. Offensichtlich hatte er sich in seiner Zeit als Oberamtmann von Hohenems so unbeliebt gemacht, dass er bei Eintreffen der Todesnachricht des Grafen im April 1756 aus Hohenems regelrecht fliehen musste und dabei seine Frau im Wochenbett zurückließ (als Oberamtmann lebte Franz Joseph von Wocher mit seiner Familie auf Hohenems). Interessant ist, dass seine Widersacher eine offenbar umfangreiche Privatbibliothek vorfanden, die bis zur Klärung der Eigentumsverhältnisse unter Verschluss genommen wurde. Um die Herausgabe dieser Bibliothek entwickelte sich eine längere, rechtliche Auseinandersetzung. Die hier beschriebenen Vorgänge in Hohenems in 1756 und der Zeit danach sind in 4) im Detail geschildert. Leider finden sich dort keine Hinweise darüber, ob und eventuell wann Franz Joseph von Wocher seine Bücher wieder erhielt. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass ein Enkel des Franz Joseph von Wocher, nämlich der hochdekorierte Feldmarschall-Leutnant Gustav von Wocher (*1779, †1858), dem eine ungewöhnliche Bildung bescheinigt wurde, eine „[…] wertvolle, nicht unansehnliche Büchersammlung hinterließ. Da sich dafür in Österreich kein Käufer fand, wanderte sie nach Augsburg“ 12). Sollte es sich dabei teilweise um die Bibliothek des Franz Joseph von Wocher gehandelt haben, so verliert sich ihre Spur in Augsburg, da die Vereinigte Königliche Kreis- und Stadtbibliothek (heute: Staats- und Stadtbibliothek Augsburg) im fraglichen Zeitraum keine Sammlungen aufgekauft hatte.
Bei dem militärischen Rang eines Feldmarschall-Leutnants handelte es sich übrigens um den zweithöchsten Generalsrang der k.u.k. Armee von Österreich bis 1915.

Franz Joseph von Wocher erhielt später den Posten eines Regierungsrates in Tettnang. Ob dies der Tätigkeit eines Oberamtmannes entsprach, konnte nicht geklärt werden. Nach seiner Pensionierung zog sich von Wocher auf den Familiensitz in Feldkirch-Levis zurück.

Anlässlich des 200. Jubiläums der (Wieder-) Entdeckung des Nibelungenlieds errichtete die Gemeinde Hohenems 1955 in der Ortsmitte einen Nibelungenbrunnen, der mit einem farbenfrohen Mosaik mit Szenen aus dem Nibelungenlied ausgelegt ist.


Nibelungenbrunnen in Hohenems

Vierundzwanzig Jahre nach der (Wieder-) Entdeckung der Handschrift C des Nibelungenlieds in Hohenems reifte in Johann Jakob Bodmer der Wunsch, eine vollständige Abschrift anzufertigen (er hatte seinerzeit nur etwa ein Drittel des Nibelungenlieds kopiert und als Chriemhilden Rache veröffentlicht). Deshalb wandte sich Bodmer im Mai 1779 schriftlich an Franz Joseph von Wocher, für ihn auf Hohenems nach der Nibelungenlied-Handschrift zu suchen. Am 10. September 1779 teilte von Wocher schließlich Bodmer die Auffindung des Nibelungenlieds mit. Sein Brief ist als Faksimile in 13) abgedruckt nebst einer Transkription, die hier übernommen wurde:

[Anrede fehlt, Anm. des Verfassers] Ich habe Hohenems schon vor 22 Jahren verlassen, und seither sind erstaunliche Veränderungen mit dieser Grafschaft vorgefallen. Das Haus Österreich hat alle Herrlichkeiten, Regalien, Jurisdictionen, und auch den größten Theil der Erträgnisse an sich gezogen, und der Besitzer des Übrigen, Herr Graf von Harrach, welcher auch noch die Bibliothek erhalten, hat einen Beamten darüber gesetzt, der in allen Wissenschaften ein Fremdling ist.
Ich hatte diesem, seitdem ich Dero verehrliche Zuschrift empfangen, einigemal geschrieben, und ihn um das betr. Mapt. gebethen; allein er konnte es nicht finden [Oberamtmann auf Hohenems war damals Michel Härig, Anm. des Verfassers]. Meine kränkliche Leibes Umstände gestatteten mir endlich, gestern selbst gen Hohenems zu reisen: ich traf den ganzen beträchtlichen, nun bey nahe vermoderten Büchervorrath in verschiedenen Haufen auf einander liegend an, und nach langem Durchwühlen glückte es mir endlich, das alte Gedicht: das Liet der Nibelungen zu finden, welches ich Denenselben zu senden die Ehre habe.
Ich wünschete, Denenselben auch in andere Wege gefällig seyn, und dienen zu können, wozu ich mir beliebige Anlässe ausbitte. Mit vollkommenster Hochachtung bin ich stäts Dero Gehors. Diener von Wocher.
Feldkirch den 10. 7bris 1779

Johann Jakob Bodmer fertigte aus diesem ihm zugesandten Codex eine Abschrift der ihm fehlenden Aventiuren an und sandte die nunmehr vollständige Transkription des Nibelungenlieds am 1. Mai 1781 an Christoph Heinrich Müller in Berlin, der es dann 1782 in Druck brachte. Der Brief Bodmers an Müller ist in 14) wiedergegeben, und aus dessen Inhalt geht klar hervor, dass es Bodmer war, welcher erkannt hatte, einen anderen Codex als 1755 erhalten zu haben: „[...] Der Codex war den Lettern und dem Bande nach dem vorigen ähnlich; doch erkannte ich bald, daß es ein anderer war [...]“.

Es war diejenige Handschrift des Nibelungenlieds, welche seit 1826 die Sigle A trägt.

Johann Jakob Bodmer wird in wissenschaftlichen Kreisen deshalb als deren (Wieder-) Entdecker benannt, weil er erkannt hatte, eine andere Handschrift als die von Jacob Hermann Obereit entdeckte in Händen zu halten. Andererseits verdanken wir ihre Auffindung Franz Joseph von Wocher, weshalb auch dieser als Entdecker der Handschrift A genannt wird.
Die Germanistin Karin Schneider löst die Frage nach der Entdeckerpriorität in 15) auf pragmatische Weise indem sie schreibt, „[…] hatten Wocher und Bodmer damit die Nibelungen-Handschrift A wiederentdeckt“.
Auf diese Weise wird der Beitrag beider Personen an der Entdeckung der Handschrift A entsprechend gewürdigt.

Man kann abschließend ohne Übertreibung feststellen, dass Franz Joseph von Wocher zu Oberlochen und Hausen einen nicht unerheblichen Beitrag zur Entdeckung der Handschrift A und sehr wahrscheinlich auch der Handschrift C des Nibelungenlieds geleistet hat.



Der Verfasser dankt folgenden Institutionen für ihre Unterstützung bei seinen Recherchen zu Franz Joseph von Wocher:

• Kulturamt Stadt Hohenems
• Stadtarchiv Bregenz
• Stadtarchiv Feldkirch
• Vorarlberger Landesarchiv
• Jesuheim Lochau
• Gemeinde Lochau – Ortsgeschichtliche Sammlung
• Kath. Pfarramt Krauchenwies
• Staats- und Stadtbibliothek Augsburg
• Staatsarchiv Sigmaringen
• Stadtarchiv Tettnang
• ÖBB-Immobilienmanagement GmbH Bludenz

Besonderer Dank gilt Herrn Max Wocher, Rankweil, der dem Verfasser Einblick in das Familienbuch und den aktualisierten Stammbaum gewährte, sowie Frau Dr. Nestler-Wocher, die umfangreiches Informationsmaterial aus dem Familienarchiv zur Verfügung stellte.

Quellennachweis
1) Crueger, Johannes, Der Entdecker der Nibelungen, Frankfurt 1883
2) Bodmer, Johann Jakob, Chriemhilden Rache und Die Klage, Zürich 1757
3) Zarncke, Friedrich, Das Nibelungenlied, Leipzig 1856
4) Welti, Ludwig, Rund um die Entdeckung der Hohenemser Nibelungenhandschriften,
Montfort 7. Jahrgang 1955
5a) Stammbaum der Familie von Wocher von 1922, Vorarlberger Landesarchiv
5b) Stammbäume des Geschlechts der Wocher, 2007, Familienarchiv Wocher
6) Ulmer, Andreas, Die Burgen und Edelsitze Vorarlbergs und Liechtensteins, Dornbirn 1925
7) Huber, Franz Josef, Kleines Vorarlberger Burgenbuch, Dornbirn 1985
8) Aufzeichnungen des Pflegeheims Jesuheim in Lochau
9) Vorarlberger Volksblatt, Bregenz 27. November 1897
10) Kelz, Karl, Zur Geschichte des Feldkircher Friedhofs, Dornbirn 1939
11) Stadtarchiv Feldkirch/Österreich
12) Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Wien 1889
13) Tiefenthaler, Eberhard, Die Auffindung der Handschriften des Nibelungenliedes in
Hohenems, Montfort 31. Jahrgang 1979
14) von der Hagen, Friedrich Heinrich, Aufklärung über den Müllerischen Text des Nibelungen
Liedes, Sammlung für Altdeutsche Literatur und Kunst, Breslau 1812
15) Heinzle, Joachim et al., Die Nibelungen Sage-Epos-Mythos, Wiesbaden 2003
16) Wocher, Christoph, Familienarchiv Wocher, Langenargen
17) Burmeister, Karl Heinz, in: Hexe oder Hausfrau, Seite 115/116, Sigmaringendorf 1991
18) Chevalley, Denis André, Der Dom zu Augsburg, Seite 204, München 1995

Fotos:Sämtliche Fotos stammen vom Verfasser.