Mütter
und ih
re
Kinder

im Nibelungenlied


von Magdalen Frank

.....
Kriemhilds Traum, Carl Otto Czeschka, 1920..
 
I. Kriemhild und ihre Mutter

Ein Mädchen: schön und reich, voller Liebreiz, in der Blüte ihrer Jugend stehend, eine Königstochter, Kriemhild mit Namen, hat einen Traum. Sie träumt,
wie sie züge einen valken, starc, schoen und wilde,
den ir zwene arn erkrummen. (13,2-3)
(Wie sie einen starken, schönen und wilden Falken zähmte,
der ihr von zwei Adlern zerfleischt wurde.)

Dass sie diese brutale Tötung ihres Falken im Traum mit ansehen muss, so der Dichter, sei das Schlimmste überhaupt, was Kriemhild jemals erlebt:
daz si daz muoste sehen,
ir enkunde in dirre werlde leider nimmer gescehen. (13,2-4)

In ihrer großen Not wendet sich die junge Kriemhild an ihre Mutter Ute und erzählt ihr den Traum. Diese antwortet sogleich:
der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man.
in welle got behüeten, du muost in sciere vloren hân. (14,3-4)
(Der Falke, den du zähmst, ist ein Mann von hoher Abstammung.
Behütet ihn Gott nicht, wirst du ihn früh verlieren müssen.)

Die Antwort der Mutter ist eine Feststellung. „Das ist ein Mann“, sagt sie und: „Du wirst ihn verlieren.“ Damit holt die Mutter das schreckliche Traumgeschehen für das Mädchen in den Bereich des Wirklichen. „Wenn eine höhere Macht nicht aufpasst“, sagt sie der Tochter, „wirst du genau das wirklich erleben müssen, was du da geträumt hast.“

Und da die Mutter so genau weiß, wer sich hinter dem geträumten Falken verbirgt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für Kriemhild erst recht, dass das furchtbare Traumbild tatsächlich wahr werden könnte. Utes „Orakel“ wirkt auf die Tochter wie eine nachträgliche Betonierung des Traumerlebnisses.

Zunächst nähert sich Kriemhild der Mutter stärker an und nennt sie „meine geliebte Mutter“, aus Angst, aber auch, um sie von ihrer schrecklichen Trauminterpretation wieder abzubringen:
Waz saget ir mir von manne, vil liebiu muoter mîn?“ (15,1)

Diese Reaktion zeigt, dass sich Kriemhild von ihrer Mutter missverstanden fühlt. Sie will und kann sich mit dem, was die Mutter sagt, nicht abfinden. Sie wehrt sich dagegen. Sie entwickelt eine Eigeninitiative, die ihr helfen soll, dieser von der Mutter als durchaus möglich erklärten Gefahr aus dem Weg gehen zu können. Die logische Konsequenz der Tochter aus all dem lautet:
âne recken minne sô will ich immer sîn. (15,1)

Damit führt sie die Meinung der Mutter, außer Gott könne da niemand etwas tun, ad absurdum.
Die Mutter möchte so etwas nun gerade nicht hören. Mit ihrer Antwort darauf geht sie zum zweiten Mal auf ihr Kind nicht ein: Kriemhilds Vorsatz, Liebe und Männer zukünftig meiden zu wollen, nimmt sie nicht ernst. Sie wehrt ihn einfach ab:
Nu versprich ez niht ze sêre, (16,1)
(nun rede dir nur das nicht ein), fordert sie die Tochter auf.
Und fährt fort, von Glück, Mann, Liebe, Schönheit zu reden – angesichts ihres verängstigten und hilfsbedürftigen Kindes:
soltu immer herzelîche zer werlde werden vrô,
daz gesciht von mannes minne. du wirst ein scoene wîp,
ob dir noch got gefüeget eins guoten riters lîp. (16,2-4)

Die Mutter stellt hier eine Gleichung auf, die sich an Allgemeinplätzen orientiert: Aus einem Mädchen wird eine glückliche und schöne Frau durch die Liebe eines Mannes. Und auch das ist wiederum nur von Gottes Willen abhängig.

Kriemhild muss sich hier noch einmal wie entmündigt fühlen. Der Weg, den sie sich überlegt hatte und der sie aus der Gefahrenzone hätte führen können, für die Mutter zählt er nicht, er wird von ihr mit nichts sagenden Floskeln verworfen.

Daraufhin geht die Tochter auf Distanz zu ihrer Mutter:
„Die rede lât belîben“, sprach si, „frouwe mîn“. (17,1)

Aus der „geliebten Mutter“ ist nun eine frouwe, eine Herrin, geworden. Kriemhild schützt sich vor den Plattitüden der Mutter mit Argumenten, die ihrer eigenen Erfahrung entspringen. Sie weiß es besser und behauptet:
ez ist an manegen wîben vil dicke worden scîn,
wie liebe mit leide ze jungest lônen kann. (17,2-3)

Der Dichter kommentiert Utes Deutung des Traums:
sine kundes niht besceiden baz der guoten. (4,12)
Diese Information ist zweideutig: Einmal lässt sie sich so verstehen, dass Ute mit ihrer Interpretation des Traums genau richtig liegt – oder aber: Dass Ute nicht in der Lage ist, der Tochter den Traum zu erklären, dass sie es nicht besser kann und dass demnach ihre Aussagen als fragwürdig zu betrachten sind.

Der Falke lässt sich auch als Symbol weiblicher Freiheit deuten.
Denn hört man Kriemhild genau zu, lässt sich dem Traum noch eine andere Botschaft als die der Mutter entnehmen. Als die Mutter spontan den edel man in dem Falken erkennt, ruft Kriemhild erstaunt aus:
Waz saget ir mir von manne, vil liebiu muoter mîn? (15,1)
und redet dann von sich, als wäre sie selbst, ihr Körper, bedroht:
sus scoen´ ich will belîben unz an mînen tôt,
daz ich von mannes minne sol gewinnen nimmer nôt. (15,3-4)

In mannes minne sieht Kriemhild die Bedrohung, also die Adler, sie selbst aber ist das Opfer, die Bedrohte, der Falke. Wie schon erwähnt, bezeichnet der Dichter den Traum als Kriemhilds schlimmstes Erlebnis. Dies wird verständlich, wenn man davon ausgeht, dass Kriemhild ihr eigenes Ende im Traum mit ansehen musste.

Dass die Mutter das Falkenbild mit der Vorstellung eines Geliebten verbindet, passt zu ihrer klischeehaften Argumentationsweise. Denn Ende des 12. Jahrhunderts galt der Falke generell als Sinnbild des Geliebten wie z.B. im „Falkenlied“ des KÜRENBERGERs. Doch schon hier, um 1160, steht der Falke auch für einen „freien Aufschwung“, wie HELMUT DE BOOR schreibt. Im „Falkenlied“ DIETMARs VON AIST aus derselben Zeit gilt das Bild des Falken, so DE BOOR weiter, „als Ausdruck der weiblichen Freiheits- und Erfüllungssehnsucht.“

Der Dichter des Nibelungenliedes verweist darauf, dass Kriemhild zu der Zeit ihres Traums am Beginn einer neuen Lebensphase steht:
der minneclîchen meide triuten wol gezam. (3,1)
Sie war liebesfähig geworden.
„Weibliche Freiheits- und Erfüllungssehnsucht“ könnte sie durchaus beherrscht haben. Der Falke, starc, scoen´ unde wilde (13,2) könnte für Kriemhild selbst zur Zeit ihres Traumes stehen und auf ihre Verfassung verweisen. Sie soll und will sich aufschwingen, doch stärkere Kräfte, die beiden Adler des Traums, verhindern dies. Ihre Stärke, Gesundheit und Vitalität wird ihr von ihnen geraubt und zerstört.

Diese Bedeutung des Traums findet in Kriemhilds Tod ihre Erfüllung. Betrachtet man Kriemhilds Ende, wie sie von Hildebrand, der an der Seite Dietrichs von Bern steht, erschlagen wird, so schließt sich hier ein Kreis:
ze stücken was gehouwen dô daz edele wîp. (2377,2)
(In Stücke zerhauen wurde die adlige Frau.)
Sie wurde erkrimmt, zerfetzt, wie es die beiden Adler – die als edle Tiere durchaus für Hildebrand und Dietrich stehen können - mit Kriemhilds Traumfalken taten.

Doch die Deutung der Mutter bewahrheitet sich auch. Es gibt am Ende der ersten âventiure eine Bemerkung des Dichters, die zeigt,
wie Utes Auslegung des Traums zu bewerten ist: Kriemhilds zukünftiger Ehemann,
der was der selbe valke, den si im troume sach,
den ir besciet ir muoter. (19,1-2)
(Er war der Falke, den sie in dem Traum gesehen hatte,
den ihr ihre Mutter vorausgesagt hatte.)

Der Dichter weist hier auf eine Dimension hin, die Kriemhild erst durch Utes Auslegung eröffnet wurde. Von der Mutter wird Kriemhild auf eine neue, zusätzliche Spur gebracht, die dann bekanntlich ihre eigene Dynamik entwickeln und ebenfalls in Erfüllung gehen wird. War Kriemhild noch vor dem Gespräch mit Ute durch ein einziges Angstbild belastet, so ist sie dies nach der Begegnung mit der Mutter in doppelter Hinsicht: Einmal muss sie fürchten, ihren zukünftigen Mann früh zu verlieren, wie es die Mutter prophezeite, und dann muss sie sich selbst weiterhin bedroht fühlen, wie es ihr der Traum gezeigt hatte.

Die Auswirkungen dieser Mutter-Kind Begegnung auf Kriemhild sind beträchtlich. Die Mutter sieht die Angstgefühle ihres Kindes nicht und kann deshalb auch nicht dazu beitragen, diese aufzulösen.
Sondern sie verlagert das Geträumte in die reale Zukunft und
verbindet dadurch Kriemhilds Leben generell mit den Gefühlen von
Hilflosigkeit, Ohnmacht, Angst, die diese durch den Traum erfahren musste.

Tatsächlich wird Kriemhild – ausgenommen ist die erste Zeit ihrer Ehe mit Siegfried - lebenslang von diesen Gefühlen begleitet sein:
• Sie wird ihrem spontanen Willen nicht folgen können. Sie wird an drei wichtigen Kreuzungen ihres Lebens genau das Gegenteil von dem tun, was sie ursprünglich vorhatte:
- Das erste Mal, als sie sich doch verliebt und sie damit ihr sich selbst gegebenes Versprechen bricht.
- Das zweite Mal, als sie ihren ersten Impuls aufgibt, nach Siegfrieds Ermordung mit dem Schwiegervater nach Xanten zurückzukehren und stattdessen in Worms bleibt.
- Das dritte Mal, als sie entgegen ihrer großen inneren Widerstände der Werbung von König Etzel nachgibt.
Erst an ihrem Ende, als alles einer Vernichtung zustrebt und der grôze mort (2086,1) geschieht, bleibt sie bei ihrem eigenen Willen, der nun aber ein destruktiver geworden ist.
• Sie wird immer einen außergewöhnlich hohen Schutz und große Hilfe beanspruchen: So bei Siegfried, so bei Hagen, so bei Rüdiger, der ihr seine umfassende Hilfsbereitschaft sogar beeiden muss; und erst recht an Etzels Hof, als sie ihren Rachekrieg führt.
• Generell fühlt sie sich isoliert, einsam und traurig. Sie weint ununterbrochen.
• Sie wird ein Nicht-Beachten ihrer Person nicht bemerken. Und wenn sie es bemerkt, wird es zu spät sein. ir hettet mîn vergezzen (1042,2), sagt sie zu ihrem Bruder Gunther an Siegfrieds Leiche. Es könnte der Satz ihres Lebens sein.
• Schließlich wird sie um eine Befreiung von dieser Belastung kämpfen. Aber mit welchen Mitteln!

II. Siegfried und seine Eltern

Bei dem Königssohn Siegfried und seinen Eltern in Xanten herrscht
eine andere Atmosphäre als am Wormser Hof. Der junge Mann erhält eine vornehme Erziehung, die ihm entspricht:
Man zôch in mit dem vlîze, als im daz wol gezam. (23,1)
Vil selten âne huote man rîten lie daz kint. (25,1)
sîn pflâgen ouch die wîsen, den êre was bekannt. (25,3)

Erziehung, Behütetheit, Bildung: Begriffe, die für den Hof in Worms nicht gelten können. Dort zählen eher Äußerlichkeiten wie Schönheit, Macht, Stärke und Reichtum.
Der Umgang miteinander ist in Xanten ebenfalls ein anderer als in Worms. Das wird (auch hier) in einem Gespräch zwischen Sohn Siegfried und seinen Eltern Siegmund und Siegelind deutlich. Und auch hier geht es, wie in Worms, um die Verheiratung des Kindes. Doch während in Worms solche Vorstellungen von Mutter Ute eingeführt werden, äußert sie in Xanten Siegfried, der Sohn.

Siegfried hat von Kriemhild und ihrer Schönheit gehört. Und er ist fest entschlossen:
sô will ich Kriemhilden nemen. (48,4)

Die Eltern sind über diese Wahl nicht gerade erbaut. Der Vater bedauert diese Idee:
der wille sînes kindes was im harte leit. (50,3)
Die Mutter hete grôze sorge um ir kindes lîp (51,2),
sie begunde trûren um ir liebez kint. (60,2)

Der daraus entstehende Konflikt wird von Eltern und Sohn offen diskutiert. Die Eltern teilen Siegfried ihre Vorbehalte mit. Der Vater versucht, den Sohn von seiner Werbungsabsicht abzubringen, indem er sich mit ihm solidarisiert:
ez müg´ uns werden leit, ob wir werben wellen
die vil hêrlîchen meit. (54,3-4)

Als die Eltern spüren, dass ihr Kind von seinem Vorhaben nicht abzubringen ist, gehen sie trotz ihrer großen Bedenken ganz auf den Wunsch des Sohnes ein und respektieren seinen Willen.
Der Vater versichert:
so bin ich dînes willen waerlîchen vrô,
und will dirz helfen enden. (53,2-3)
Auch die Mutter gibt klein bei:
„Sît du niht will erwinden“, sprach frou Siglint,
„sô hilf ich dir der reise, mîn einigez kint“. (63,1-2)

Dem „einzigen Kind“ wird zugehört, es wird unterstützt, selbst bei Vorhaben, die die Eltern nicht gut heißen können – dem Sohn wird alles geboten. Siegfried ist es gewohnt zu bekommen, was er will.
Am Ende des Gesprächs verneigt sich der Sohn vor seiner Mutter:
Dô neic der küneginne Sîvrit der junge man. (64,1)

III. Kriemhild und Siegfried

In welcher Verfassung befinden sich Kriemhild und Siegfried, als sie sich begegnen?
Nach dem Gespräch mit ihrer Mutter lebt Kriemhild für sich. Ihre Angst hält sie mit dem Vorsatz in Schach, den die Mutter nicht gelten lassen wollte:
Kriemhilt in ir sinne ir selber nie verjach,
daz si deheinen wolde ze eime trûte hân. (46,2-3)
(Kriemhild versprach es sich selbst,
dass sie niemals einen Geliebten haben wolle.)

Kriemhild gibt sich ihr Versprechen selbst. Das zeigt: Sie hat keine Freunde, keine Verbündete in ihrem Umfeld. Sie macht es mit sich selbst ab.

Siegfried ist am Wormser Hof angekommen und kämpft für Kriemhilds Brüder. Ein Bote, den Kriemhild heimlich, vil tougen (224,3), zu sich kommen lässt, soll sie über Siegfrieds Befinden informieren. Sie sagt zu dem Boten:
tuost du´z âne liegen, ich will dir wesen holt. (225,4)
(Tust du´s ohne zu lügen, werde ich dir wohl gesinnt sein.)

In ihrem Elternhaus rechnet sie damit, belogen zu werden. Verunsichert und misstrauisch ist sie geworden.

Im Vergleich zu Kriemhild kennt Siegfried kein herzen leit (44,1), keine seelischen Schmerzen. Und er hat keine Angst:
doch wolder wesen herre für allen den gewalt,
des in den landen vorhte der degen küen´ unde balt. (43,3-4)
(Er wollte Herr sein über Gewalt,
in welchen Ländern auch immer er sie zu befürchten hatte.)

Auch Siegfried hatte gefährliche Situationen in seiner Jugend zu bestehen, auch er hatte eine Art „Falkentraum“. Von Siegfrieds Drachenkampf und dem Nibelungenschatz, den er errang, wird Hagen später berichten (99,4 ff). Aber anders als Kriemhild aus ihrem Traum ging Siegfried aus diesen Gefahren als Sieger hervor, unendlich reich und (fast) unverwundbar. Unbesiegbar muss er sich seitdem fühlen. Und dem entsprechend verhält er sich auch.

Das ist Siegfrieds Chance bei Kriemhild: An der Seite eines solchen Mannes braucht sie keine Angst mehr zu haben. Und: Mit so einem wie Siegfried kann ihr das Falkenunglück, das die Mutter einst prophezeite, nicht passieren. So einer wird kein Falke abgeben können, er ist eher einer der beiden Adler.

Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter verändert sich. In ihrem verliebten Zustand wird Kriemhild so nach und nach wieder in das Leben am Wormser Hof eingebunden. Beim Pfingstfest bestimmt Gunther, dass Mutter und Tochter die Schar der Gäste gemeinsam begrüßen sollen. (275,3-4) Das ist Utes erster Auftritt mit Kriemhild seit ihrem Gespräch über den Traum.

Kriemhild ist verliebt, sie wird bald heiraten. Wie das Morgenrot ûz den trüeben wolken (281,2) hervorbricht, so erscheint sie jetzt. Die trübe, dunkle Zeit ihres Lebens scheint hinter ihr zu liegen:
sam der liehte mâne vor den sternen stât,
des scîn sô lûterlîche ab den wolken gât,
dem stuont si nu gelîche. (283,1-3)
(Wie der helle Mond vor den Sternen steht, dessen Schein durch die Wolken geht, dem gleicht jetzt Kriemhild.)

Sie selbst wird dieses Bild des Mondes, der die Sterne der Nacht anführt, später auf Siegfried übertragen.

Ute ist nun häufig an der Seite ihrer Tochter zu finden. In der neunten âventiure treten die beiden immer gemeinsam auf. (549,2; 559,1; 588,2-4; 589,4; 603,2-3) Doch zu zweit, wie am Beginn der Erzählung, erscheinen sie nie wieder. Immer sind entweder die Brüder oder der Hofstaat mit dabei.

Kriemhild heiratet Siegfried und zieht mit ihm nach Xanten. Ute und ihre Söhne beklagen täglich, dass die Tochter und Schwester so weit entfernt wohnt. (752,4) Nach siebenjähriger Abwesenheit bekommen Kriemhild und Siegfried eine Einladung nach Worms. Bei den zurückgekehrten Boten erkundigt sich die Mutter sofort nach ihrer Tochter und hört gerne,
Kriemhilt (sei) noch gesunt. (772,3-4)

Sechsundzwanzig Jahre später, als Kriemhilds Boten aus Etzels Reich in Worms eintreffen, ist Ute an einer Begegnung mit ihnen nicht wesentlich interessiert. Im Gegenteil, jetzt sind es die Boten, die ein Treffen mit Ute einfordern müssen, um ihr von der Tochter am fernen Hunnenhof berichten zu können. (1451,1-3)

Als die Boten höflichkeitshalber sagen, was ihnen Kriemhild niemals aufgetragen hatte, nämlich:
daz si iuch dicke saehe (1454,3), kontert Ute:
des enmac niht gesîn. (1455,1) Zu weit sei die Tochter entfernt.


IV. Kriemhilds und Siegfrieds Ehe

Die Freude über ihren starken, schönen Mann, an dessen Seite die Angst von ihr gewichen ist, ist Kriemhild deutlich anzumerken. In Worms beobachtet sie mit ihrer Freundin und Schwägerin Brünhild die Männer beim Ritterspiel. Da bricht es aus Kriemhild heraus:
nu sihestu, wie er stât,
wie rehte hêrlîche er vor den recken gât,
alsam der liehte mâne vor den sternen tuot?
des muoz ich von schulden tragen vroelîchen muot. (817,1-4)
(Siehst du nicht, wie er da steht, wie herrlich er vor den anderen Rittern geht, wie es der helle Mond vor den Sternen tut?
Das ist der Grund für meine Freude.)

Wie den Mond, empfindet sie ihren Mann. Er ist der Mond, ihr Mond,
der ihre eigene innere Nacht erhellt hat und sie dadurch glücklich macht.

Kriemhilds Freude währt jedoch nicht lange. Siegfried, auf den sie so stolz ist, über den sie sich so sehr freut, er ist es, der die ersten Schatten auf ihr Glück wirft. In aller Öffentlichkeit verrät er sie, und das in ihrem Beisein.

Siegfried lügt skrupellos. (877,4) Er kann nicht verlieren. Er bestreitet, Kriemhild jemals in die betrügerischen Vorgänge um Brünhilds Werbung und Hochzeitsnacht eingeweiht zu haben und straft seine Frau damit Lügen. Mit seinem Ehrenwort, mit mînen hôhen eiden, will er Gunther glauben machen, daz ich’s ir niht gesaget hân. (858,3-4)
Nämlich, dass er es war und nicht König Gunther, der Brünhild in Wettkämpfen und später in der Hochzeitsnacht bezwungen hatte.

Siegfried teilt mit, dass er sich für das Verhalten seiner Frau schämt: ir grôzen ungefüege ich mich waerlîche scham. (862,4)
Zuhause wird er seine Frau wegen ihrer Ehrlichkeit verprügeln, wie sie es Hagen später erzählt:
ouch hât er sô zerblouwen dar umbe mînen lîp. (894,2)

Ganz spurlos geht der massive Verrat ihres Mannes, durch den sie in eine von allen Anderen abgesonderte Lage gerät, nicht an Kriemhild vorüber: Sie hat nun Siegfrieds übermuot kennen gelernt, sie erzählt Hagen davon. (896,3)
Ihre Angst kommt wieder. Sie fühlt sich verunsichert. Könnte die Deutung der Mutter nicht doch in Erfüllung gehen?

hey waz ich grôzer sorge dicke umbe Sîfriden hân! (900,4)
ruft sie aus.
Sie klammert sich an Hagen, sucht bei ihm Hilfe, vertraut ihm und bittet:
daz du mir wol behüetest den mînen lieben man. (898,3)
Ihr Vertrauen in Siegfrieds Kräfte ist geschwunden.

Mit ihrer Angst kommen auch die Träume zurück. In einer Nacht träumt sie zweimal den Tod ihres geliebten Mannes. Einmal jagen ihn zwei Wildschweine zu Tode, (921,1-4) ein anderes Mal wird er unter zwei Bergen, die über ihm zusammenfallen, begraben.
(924,2-4) All das wird gleich am Tag darauf an einer Quelle, einer Erdöffnung, durch Hagen und Gunther in Erfüllung gehen. Und damit auch die Deutung der Mutter von Kriemhilds erstem Traum.

Der Dichter bemerkt, dass die Bürger der Stadt Worms den toten Helden beweinen. Über Siegfrieds Verschulden hatte sie niemand informiert, sie wissen nicht, warum der adlige Ritter sein Leben verlor.
Sîfrides schulde in niemen het geseit,
durch waz der edel recke verlür den sînen lîp. (1037,3-4)

Auch Kriemhild bleiben die erheblichen Defizite ihres Mannes verborgen. Sie erkennt Siegfrieds Schwächen nicht. Obwohl sie die Beweise für ihre Wahrheit in Händen hat, nämlich Brünhildes Gürtel und Ring, findet sie das Verhalten Siegfrieds ihr gegenüber in Ordnung. Sie findet es in Ordnung, negiert zu werden. Sie kennt es nicht anders. Sich selbst gibt sie die Mitschuld an seinem Ende.

V. Die Mutter und Hagen in Kriemhilds Empfinden

In Kriemhilds Empfinden existiert eine Verbindung zwischen ihrer Mutter und Hagen. Derjenige, der dafür sorgt, dass die von der Mutter in Kriemhild hervorgerufenen Ängste um ihren Mann durch ein wirkliches Geschehen bestätigt werden, ist Hagen. In Kriemhilds Antworten und Bemerkungen, finden sich Gleichstellungen und Übertragungen, die eine Verbindung von der Mutter zu Hagen
herstellen oder vermuten lassen.

Nach Siegfrieds Tod wollen die Brüder Kriemhild am Wormser Hof behalten. Giselher sagt zu ihr:
du solt durch dîne triuwe hie bî dîner muoter sîn. (1078,4)

Kriemhild geht auf eine Verpflichtung der Mutter gegenüber nicht ein, sie denkt bei Giselhers Worten sofort an Hagen und antwortet:
jane mag es niht geschehen.
vor leide muoz ich sterben, swenne ich Hagenen müese sehen. (1079,3-4)

Als Königin am Etzelhof sendet Kriemhild Boten nach Worms mit ihrer unheilvollen Einladung an die Brüder. Sie trägt den Boten Grüße auf: Ein Vierzeiler lang ist der Gruß an den Bruder Gernot (1417,1-4); Giselher werden ebenfalls vier Zeilen zugedacht (1418,1-4); an Bruder Gunther ergeht kein Gruß.
Mutter Ute und Hagen aber werden von Kriemhild in einem Atemzug und in einer einzigen Strophe zusammen genannt:
Sagt ouch mîner muoter die êre, die ich hân.
und ob von Tronege Hagene welle dort bestân,
wer si danne solde wîsen durch diu lant? (1419,1-3)

Die Mutter wird nur mit einer einzigen Zeile bedacht:
„Berichtet meiner Mutter von dem Ansehen, das ich hier genieße.“

Als die Boten aus Worms zurückkommen, lautet Kriemhilds erste Frage:
nu sagt, waz redete Hagene, dô er diu maere bevant? (1499,4)

Nach ihrer Mutter erkundigt sich Kriemhild nicht.

Als Ratgeber vertreten Hagen und Ute unabhängig voneinander die gleiche Ansicht: „Folge den Freunden!“

Ute sagt zu ihrer Tochter, als diese nicht weiß, wie sie sich zu Etzels Werbung verhalten soll:
volge dînen friunden, sô mac dir wol geschehen. (1246,3)
Die Mutter sagt nicht: „Folge deinem Herzen, deinem eigenen Willen.“ Sondern: „Tu, was die Anderen dir sagen.“

Hagen wiederholt Utes Rat in der 26. âventiure:
man sol friunden volgen; jâ dunket ez mich reht. (1587,2)

Auch unabhängig von Kriemhilds Empfinden existieren zwischen Ute und Hagen Gemeinsamkeiten. So sind sie die einzigen, die die Könige davon abhalten wollen, Kriemhilds Einladung ins Hunnenland anzunehmen.

Mutter Ute wurde durch einen Traum gewarnt: Alle Vögel am Wormser Hof, das heißt, alle ihre Kinder, werden sterben. (1509,3-4) Dieser Traum greift das Vogel-Bild von Kriemhilds erstem Traum auf. Und Utes Traumdeuter ist – Hagen:
„Swer sich an troume wendet“, sprach dô Hagene,
„der enweiz der rehten maere niht ze sagene,
wenn´ ez im ze êren volleclîchen stê.“ (1510,1-3)
Mit anderen Worten: Wer auf Träume baut, hat ein Problem mit der Realität.
Hagen liefert eine deutliche Kritik an Ute und bügelt ihren Traum mit Allgemeinplätzen ab, wie diese es seinerzeit gegenüber Kriemhild getan hatte.

VI. Kriemhilds und Utes Verhältnis in Kriemhilds Witwenzeit

Siegfried ist tot, Kriemhild kaum lebensfähig. Ihre Reaktionen auf den Tod ihres Mannes sind extrem:
daz bluot ir ûz dem munde von herzen jâmer brast. (1010,2)
Später fällt in Ohnmacht und verliert die Besinnung. (1070,3-4)

Als ihre Tröster treten auf: Der Schwiegervater Siegmund, der sie mit nach Xanten nehmen möchte und ihre Brüder Gernot und Giselher. Sie sagen:
nu troeste dich nâch tôde, als ez doch muoz sîn. (1049,2)
Die Mutter bleibt fern. Mit ihrem Gesinde trauert sie zwar um Siegfried – aber nicht mit ihrer Tochter. (1051,2-3)

Erst eine âventiure später heißt es, Ute - und ihr Hofstaat – wollen die verwitwete Tochter beruhigen. (1104,1) Doch sie scheitern:
Done kunde niemen getroesten daz Sîfrides wîp. (1026,1)

Dreizehn Jahre später rät Ute ihrer Tochter, Etzels Werbung anzunehmen:
ich hân dich doch sô lange mit grôzem jâmer gesehen. (1246,4)
(Schon so lange sehe ich dich in deinem großen Jammer umhergehen.)

Anscheinend ist es Ute, die die immer noch weinende Tochter nicht mehr ertragen kann und ihr deshalb eine Verbindung mit dem weit von Worms entfernten Hunnenkönig empfiehlt.

Als Kriemhild tatsächlich ins Hunnenland aufbricht, erscheint Ute wieder mit ihren Frauen, was dem Abschied zwischen Mutter und Tochter einen distanzierten, unpersönlichen Anstrich gibt:
Uote diu vil rîche und manec schoene meit,
die zeigeten, daz in waere nâch vroun Kriemhilde leit. (1285,3-4)
(Ute, die sehr mächtige, und manche schöne Jungfrau,
die zeigten, dass es ihnen nach Kriemhild leid wäre.)

Ute begegnet ihrer Tochter nie mehr als Mutter, sondern nur noch in ihrem Status als Königin.

VII. Kriemhild und Etzel

An Etzels Seite geht es Kriemhild nicht besser als am Hof in Worms. Sie weint und klagt. Mittlerweile sind dreiundzwanzig Jahre seit Siegfrieds Tod vergangen.

Dietrich von Bern informiert die angereisten Brüder über die immer noch andauernde Trauer bei Kriemhild:
ich hoere alle morgen weinen unde klagen
mit jâmerlîchen sinnen daz Etzelen wîp
dem rîchen got von himele des starken Sîfrides lîp. (1730,2-4)

Auch das Volk weiß um die Trauer seiner Königin. Nur Kriemhilds Mann, König Etzel, tappt im Dunkeln. Er meint, sie leide unter Heimweh. Den Brüdern dankt er für ihr Kommen und sagt zu ihnen, dass mit ihrer Ankunft das Trauern der Königin beendet sei:
des ist der küneginne vil michel trûren benomen. (1813,4)

Überhaupt zeichnet sich Etzel durch eine gewisse Blindheit aus. Als er z.B. von einem Ritter auf Hagens Gefährlichkeit hingewiesen wurde, fragt er:
Wie sol ich daz erkennen, daz er sô grimmec ist? (1754,1)

Andere Personen, die Hagen begegneten, spürten sofort, wen sie da mit ihm vor sich hatten; so Brünhilds Leute in Island, so Rüdigers junge Tochter.

Dieser Blindheit ihres Mannes ist Kriemhild ausgesetzt. Sie fühlt sich alleine wie nie zuvor, bereut ihre Heirat und fragt sich,
wie man sie âne schulde braehte dar zuo,
daz si muose minnen einen heidenischen man. (1395,2-3)

Ein vierter Traum sucht sie heim, ein Traum, der ihre Verlorenheit und Sehnsucht nach Zuwendung deutlich widerspiegelt. Sie träumt, dass ihr Bruder Giselher oft an ihrer Hand ging. Und sie küsst ihn ständig in sanftem Schlaf. (1393,2-4)
Dieser Traum von Liebe wird für Kriemhild niemals in Erfüllung gehen.

VIII. Die Katastrophe: Kriemhild als Mutter

Kriemhild ist auch Mutter. Sie hat zwei Söhne. Sohn Gunther stammt aus ihrer Ehe mit Siegfried, Ortlieb aus ihrer Verbindung mit Etzel.
Gunther ist sieben Jahre alt, als ihn seine Mutter verlässt und
nicht mehr zu ihm zurückkehrt. Der Großvater Siegmund muss seine Schwiegertochter, die in Worms bleiben will, an ihren Sohn in Xanten erinnern und beschwört sie, zu dem Kind zurückzukehren:
Und vart ouch mit uns widere durch iuwer kindelîn.
daz ensult ir niht, vrouwe, weise lâzen sîn.
swenne iuwer sun gewahset, der troestet iu den muot. (1087,1-3)

Kriemhild berührt dieses Argument wenig. Sie antwortet:
mîn liebez kindelîn
daz sol ûf genâde iu recken wol bevolhen sîn. (1090,3-4)

Sie überlässt ihr Kind den Anderen. Sie vergisst es. In ihrem Schmerz, in ihrer Trauer denkt sie nicht mehr an ihren Sohn; auch dann nicht, als sie den Nibelungenschatz nach Worms bringen lässt. Erbe des Schatzes, ihrer Morgengabe, wäre auch Siegfrieds Sohn gewesen.

Der Dichter bedauert den jungen Gunther:
Dâ heime si dô liezen Sîfrides kindelîn
unt sun den Kriemhilde. daz muos´ et alsô sîn.
von ir hovereise im erstuont michel sêr:
sîn vater unt sîn´ muoter gesach daz kindel nimmer mêr. (780,1-4)

Eine wesentlich schlimmere Verletzung als Gunther wird sein Halbbruder Ortlieb hinnehmen müssen. Er ist ungefähr sechs Jahre alt, als ihn seine Mutter wissentlich in einen grausamen Tod führt.
wie kunde ein wîp durch râche immer vreislîcher tuon? (1912,4)
(Wie konnte eine Frau aus Rache nur so grausam sein?), fragt der Dichter.

Als der abgeschlagene Kopf ihres Kindes Kriemhild in den Schoß fliegt, zeigt sie keine Reaktion. Sie opfert das Leben ihres kleinen Kindes Ortlieb ganz bewusst, um ihren Mann Etzel auf sich, auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Mit dem Tod ihres Kindes will sie Etzels Unterstützung für ihren Racheplan gegen Hagen gewinnen.
Nun ist sie die vâlandinne (1748,4), die Teufelin, geworden, die Dietrich von Bern in ihr gesehen hat.

Ich bringez an ein ende (2369,1), ruft sie in ihrem Blutrausch aus. Sie tut, was sie lange schon tun wollte, sie erschlägt den leidigen Hagene. (1260,4)

Begann die Erzählung mit einem Gespräch Kriemhilds mit ihrer Mutter, so steht an ihrem Ende Kriemhilds letzter Wortwechsel mit Hagen.

In dem von Hagen im Rhein versenkten Nibelungenschatz verbarg sich unter Edelsteinen und Gold eine Wünschelrute:
Der wunsch der lac darunder, von golde ein rüetelîn.
der daz het erkunnet, der möhte meister sîn
wol in aller werlde über ietslîchen man. (1124,1-3)

Kriemhild hatte diesen Zauberstab, der ihr die Macht über alle Menschen verliehen hätte, besessen, doch sie wusste nichts davon.
Ihr war generell nicht bewusst, was sie besaß. In ihrer Angst, Verwirrung und Verblendung konnte sie nichts erkennen. Und so hat sie alles verloren: Ihren Mann, den Hort, ihre Kinder, ihre Brüder, ihr Leben - ihre Ehre.

Die Verblendung Kriemhilds begann in dem Gespräch mit der Mutter
über den Falkentraum.

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