Kalkulierte Verräterin oder
treusorgende Ehefrau?


Kriemhilds Rolle
bei der Ermordung Siegfrieds

von Torsten Wondrejz

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Kriemhilds Verrat - Linolschnitt (Theodor Herzen, 1992)..


Beschäftigen möchte ich mich heute mit der Frage nach der Rolle Kriemhilds bei der Ermordung Siegfrieds. Ist Kriemhild als kaltblütige Verräterin zu charakterisieren, die Hagen mit vollstem Bewusstsein die verletzbare Stelle am Körper ihres Mannes preisgibt und Siegfrieds Tod damit billigend in Kauf nimmt oder sogar herbeiwünscht? Oder bestimmen ihr Handeln in diesem Zusammenhang völlig andere Motive und Leitlinien? Um sich diesem Fragekomplex zu nähern, ist es notwendig, zunächst Argumente zu sammeln, die für Kriemhilds kaltblütig kalkuliertes Handeln sprechen und ebenso Belegstellen und - möglichkeiten zu beleuchten, die Kriemhild von diesen Vorwürfen exkulpieren. Die kritische Analyse und Gegenüberstellung der einzelnen Ergebnisse soll helfen sich abschließend der Beantwortung der gestellten Frage zu nähern. Beleggrundlage hierbei kann nur der mittelalterliche Text, das Nibelungenlied also selbst sein.

Rufen wir uns zunächst noch einmal die Szenerie der 10. bis 16. Aventiure in Erinnerung: Nachdem Siegfried Gunther in Isenstein durch Einsatz seiner unter der tarnhût nach außen verborgenen Kräfte geholfen hatte, Brünhild im Wettkampf zu besiegen, findet in Worms die große Doppelhochzeit statt. Dass Siegfried und Kriemhild ranggleich mit den Königen auftreten weckt Brünhilds Empörung, denn sie vermutet hinter Siegfried den man und eigenholt Gunthers. Mit Gunthers Aussflüchen gibt sie sich nicht zufrieden und verweigert sich ihn in der Hochzeitsnacht, sodass Siegfried Gunther erneut seine Hilfe zusichern muss. Tatsächlich gelingt es ihm wieder mit Hilfe der tarnhût Brünhild niederzuringen, bevor er das Bett Gunther überlässt, der ihr die Jungfräulichkeit und damit ihre Riesenkräfte nimmt. Als Zeichen seines Sieges hat Siegfreid jedoch Ring und Gürtel Brünhilds an sich genommen, Zeichen die suggerieren könnten, er habe Brünhild als erster besessen.
Nach dem Fest zieht Siegfried mit seiner Frau Kriemhild zurück in sein Land. Dort fallen Kriemhild bei der Festkrönung die beiden Trophäen in die Hände. Konfliktträchtig wird die Szenerie erst wieder als Siegfried und Kriemhild nach Worms zu einem Fest geladen werden. Brünhild ließen die unbefriedigenden Auskünfte über Siegfrieds Stand keine Ruhe, sodass sie unter dem Vorwand verwandtschaftlicher Liebe bei Gunther die Einladung der beiden erreicht.

Beim Turnier eskaliert der Streit. Die Rangprobe zwischen den beiden Königinnen entscheidet Kriemhild, von Brünhild als Frau eines Leibeigenen und deshalb selbst als leibeigen beschimpft, für sich, indem sie Ring und Gürtel vorzeigt und damit Brünhild vor aller Augen zur Nebenfrau Siegfrieds stempelt.
Siegfried wird herbeigerufen und muss beschwören, nie dergleichen Kriemhild gegenüber behauptet zu haben. In Siegfrieds und Gunthers Augen ist die Sache beigelegt, doch die Kränkung der Königin ist nicht aus der Welt und ruft die burgundischen Gefolgsleute, an der Spitze Hagen, auf den Plan. Hagen spinnt eine raffinierte Mordintrige und täuscht einen Krieg gegen die Sachsen vor. Angeblich um Siegfried in diesem Krieg besser schützen zu können, lässt sich Hagen von Kriemhild die Stelle an Siegfrieds Körper verraten, an der er trotz Drachenpanzer verwundbar ist. Die folgende Ermordung ist so erst möglich geworden. Im Königinnenstreit geht es primär um einen Rangstreit. Brünhild will ihre Stellung als Königin gegenüber Kriemhild abheben, die – aus Sicht Brünhilds – mit dem Lehnsmann Gunthers verheiratet ist und damit unter ihr rangieren müsste. In Wahrheit ist Kriemhild die Frau eines Königs und zudem die Frau des stärksten Mannes. Um ihren eigenen Rang gegenüber Brünhild zu verteidigen, lüftet sie das Geheimnis der Hochzeitsnacht und nennt Brünhild manne kebse.

Rinke und Wedel interpretierten in ihrer Inszenierung „Siegfrieds Frauen“ 2006, dass Kriemhild, hinter den Betrug in der Hochzeitsnacht gekommen, den Frauenstreit bewusst provoziert, um die Wahrheit hierüber herauszufinden.
Betrachtet man den dazugehörigen Textabschnitt, zeigt sich, dass anhand dieser Stelle eine Interpretation, die in diese Richtung weise, nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Es wäre hier durchaus denkbar, dass Kriemhild tatsächlich von einem sexuellen Kontakt zwischen ihrem Mann und ihrer Rivalin ausgeht. Sexuelle Abenteuer verheirateter Adliger waren zwar nichts ungewöhnliches, aber nur, wenn sie mit nichtadligen Frauen stattfanden. Der vermeintliche sexuelle Kontakt Siegfrieds mit der Frau des Burgunderkönigs – von dem sie hätte ausgehen können, führte sie doch die vermeintlichen Beweisstücke Ring und Gürtel mit sich - hätte demnach eine Demütigung für Kriemhild, die die Schwester des Königs ist, bedeuten können. Der Text sagt hierzu freilich nichts, der Leser/Hörer findet lediglich eine Leerstelle vor, die diese gedankliche Ergänzung zwar nicht untermauert, sie aber auch nicht dementiert.
Ein wichtiger weiterer Aspekt kommt hinzu. Im Anschluss an den Königinnenstreit, infolge dessen Kriemhild verbal die Königin attackierte, wird sie der zuht ihres Mannes unterstellt, die im Privaten stattfindet. Kriemhild bestätigt Hagen gegenüber, dass sie von Siegfried verprügelt wurde. Für Adlige stellen Prügel Erniedrigung und Entehrung dar. Anders als der Falkentraum ankündigt, ist nicht Kriemhild die Erzieherin des Mannes, sondern der Gewalt des Mannes unterworfen. Die Frauen dienen der Ehre seines Hofes, daher wachen die Männer über die zuht der Frau. Sie, nicht die Männer sind Objekt der Erziehung. Männliche Gewalt schließt Züchtigung ein. Die zuht hat dafür zu sorgen, dass aus der höfischen vrouwe nicht wirklich die Herrin wird.

Hat Kriemhild die Mordintrige ihres Verwandten Hagen durchschaut und in der Preisgabe der verwundbaren Stelle die Chance zur eigenen Genugtuung gesehen? Spekulierte sie zu diesem Zeitpunkt darauf, nach der Ermordung Siegfrieds in den Besitz seines Hortes zu gelangen, um ihre eigene Macht somit zu erweitern und zu vervollständigen?
Durch die Markierung auf Siegfrieds Gewand und die darauf erst möglich gewordene Ermordung Siegfrieds an der Quelle im Wald, entledigt sie sich ihres Mannes, denn nach der Mordtat ist sie, ob sie es beabsichtigt hat oder nicht, männlicher zuht entzogen und zugleich Erbin des Nibelungenschatzes. Dass Hagen alle Hebel in Bewegung setzten wird, ihr den Hort vorzuenthalten, ist erst eine Entwicklung der Folgezeit.
Generell herrscht in der Heldenepik ein negatives Frauenbild vor. Weibliche Macht ist negativ konnotiert und verlangt nach Einschränkung. Der Erzähler unterstreicht immer wieder, dass die Rache Kriemhilds an ihren Verwandten, die zum Untergang führt, ein Werk einer Frau ist. Doch weniger die Rache, sondern, dass eine Frau sie anstößt, ist das eigentlich Anstößige. Hildebrant rächt Hagen, auch weil eine Frau ihn erschlägt, den größten Helden. Ist das Bild der kaltblütig und kalkulierend handelnden Kriemhild auch für den ersten Teil des Liedes – also bis zur Ermordung Siegfrieds, wirklich aufrecht zu erhalten? An dieser Stelle soll die Brücke geschlagen werden zur Betrachtung der nibelungischen Gesellschaft, in die Kriemhild eingebettet ist:
Ein dichtes Netz personaler Beziehungen bestimmt das Handeln der Protagonisten und kennzeichnet gleichzeitig die Lebensverhältnisse am Hof. Der Personenverband integriert die Feudalherren und ihre Lehns- und Eigenleute in ein komplexes Geflecht horizontaler und vertikaler Abhängigkeiten. Zu nennen sind drei Bindungsarten: verwandtschaftliche Bindungen, herrschaftliche (oder vasallitische) und vriuntschaft (oder genossenschaftliche Bindung). Den jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang stiftet die gegenseitige triuwe. Unter den vriunten sind die mâgen, die Verwandten, besonders herausgehoben. Familiäre Bindungen stehen im Zentrum. Verwandtschaftsbände sind durch wechselseitige hulde verknüpft. Auf die Bindung an ihre mâgen kann Kriemhild am Etzelhof ihre verräterische Einladung stützten, ihretwegen schöpft auch Etzel kein Verdacht.
Die Rolle der Frau definiert sich über die Stellung des Mannes. Zu Beginn des Nibelungenliedes setzten die Burgunderkönige ihre Schwester Kriemhild geschickt als Lockpreis für Siegfrieds Teilnahme am Sachsenkrieg sowie für die Brautwerbung Gunthers ein. Nach der Hochzeit mit Siegfried hängt Kriemhilds Stellung von derjenigen ihres Mannes ab.

Das Eheverhältnis zwischen Kriemhild und Siegfried wird im Text immer wieder mit dem Terminus minne charakterisiert. minne ist neben einem psychischen Impuls gleichzeitig auch ein Rechtsbegriff, der das Verhältnis friedfertigen Umgangs und dessen rechtliche Absicherung meint. Minne bezeichnet also das intakte Verhältnis zweier Figuren nach der Seite ihrer rechtlichen Beziehung, ihres Umgangs miteinander und ihrer psychologischen Einstellung zueinander. Haz bezeichnet das Gegenteil. Dieser Terminus findet sich nicht einmal, wenn von der Beziehung zwischen Siegfried zu seiner Frau die Rede ist. Die Identifizierung der Person ist gebunden an ihre körperliche Erscheinung. Seit Siegfrieds Tod heißt Kriemhild diu gotes arme, das vil arme wîp oder einfach die arme Kriemhilde. Arm fasst Aspekte des Statusverlustes und des Verlustes des Geliebten zusammen. Zu einem Teil ist arm-Sein materiell kompensierbar. Dieser Teil des Mangels kann durch monetären Ausgleich oder militärischer Hilfe überwunden werden. Der Verlust des Geliebten jedoch nicht. Der materielle Ausgleich wäre für die Witwe Kriemhild über den Hortgewinn möglich gewesen, den Hagen jedoch verhindert, indem er den Nibelungenschatz im Rhein versenkt. Armut bleibt für Kriemhild Zustand der Ohnmacht.
Weil mit der Ausschaltung von Siegfrieds Macht auch die Zerstörung seiner Person und Schönheit einhergehen, ist mit seinem Tod nicht nur die Stellung seiner Frau vernichtet, sondern auch ihre Schönheit wertlos. Schönheit haftet nicht an einer Person, sondern setzt eine dem Rang gemäße Position voraus. Nach den Regeln und Konzeptionen höfischer Epik, hätte ein Verrat Kriemhilds an ihrem Ehemann nicht nur ihre eigene Stellung als Frau und wohlhabende Königin gefährdet, sondern auch ihre über alle anderen strahlende Schönheit. Erst nach vielen Jahren am Hof in Worms, kehren ihre prächtigen Kleider in Folge der Werbung Etzels wieder zurück. Da ihre Schönheit ihr von ihrer Herkunft angeboren ist, kann sie im richtigen sozialen Kontext sofort wiederhergestellt werden.

In der Schlussaventiure, kurz bevor Kriemhild ihren Bruder Gunther hinrichten lässt und eigenhändig Hagen enthauptet, bezeichnet Hagen sie als goldgierige Frau: „Wahrhaftig, ich habe geschworen, dass ich den Hort nicht zeige, solange einer von meinen Herren lebt; solange werde ich ihn niemandem geben.“ Hagens Äußerung ist die Reaktion und Antwort auf die Forderung Kriemhilds: „Wenn ihr mir zurückgeben werdet, was ihr mir genommen habt, dann könnt ihr durchaus noch lebendig nach Hause nach Burgund kommen.“
Diese Stelle des Epos lässt sich als Ergebnis einer im Nibelungenlied mehrfach auftauchenden Erzählstrategie deuten, die nicht auf Klarheit, sondern auf Ambiguität zielt. Die Worte Kriemhilds können auf zweifache Weise auslegt werden, in bezug auf den geraubten Hort und in bezug auf den ermordeten Siegfried. Kriemhilds Worte sind doppelsinnig.
In ihrer Forderung kommt der Hort ausdrücklich nicht vor. Sie zu erfüllen, ist im vollen Sinne unmöglich, denn Siegfried, wenn er gemeint sein sollte, ist tot. Erst Hagens Antwort vereindeutigt die Worte, indem er sie allein auf den Hort bezieht. Er legt Kriemhild damit auf die Rolle der goldgierigen Königin fest, und er inszeniert sich selbst als unbeugsam zu seinem Wort stehenden treuen Vasallen. Ein weiterer Beleg für die Wichtigkeit und Häufigkeit kalkulierter Unbestimmtheit der Erzählstrategie liefert die nähere Interpretation des Antworttextes Hagens. Auch Hagens Worte sind doppelsinnig, denn sie lassen zwei Folgerungen zu: die eine: „Ich kann dir nichts zurückgeben, denn mich bindet mein Eid“ die zweite: „Solange mich mein Eid bindet, ist nichts zu machen, du müsstest schon dessen Voraussetzungen aus der Welt schaffen.“ Es bleibt offen, ob Hagen mit Absicht den Tod seines Herrn herbeiführt, lässt Kriemhild Gunther doch im Anschluss hieran hinrichten, oder ob er ein letztes Mal die unauflösliche triuwe-Bindung an Gunther, seinen Lehnsherrn, beweist.
Sicher zu schlussfolgern hieraus ist nur, dass Kriemhilds Gier nach dem Hort ihres ermordeten Mannes gerade nicht sicher und eindeutig nachzuweisen ist. Hinzu kommt, dass sich der Erzähler in seinem Kommentar – anders als Hagen – gegen die Goldgier der Heldin ausspricht: Und wäre er tausendmal größer gewesen – gemeint ist der Nibelungenhort -, Kriemhild wäre gern mit leeren Händen dagestanden, wenn Siegfried noch am Leben geblieben wäre.

Kriemhilds empfundener Schmerz und ihre Trauer um Siegfried werden mehrfach herzen jâmer genannt. Hierbei handelt es sich wie bei den Affektformen wie zorn, trûren nicht nur um Antriebe, die einem Charakter zugeschrieben werden können, sondern auch um Äußerungen, die bestimmten Konstellationen zugeordnet sind: es handelt sich stets um defekte oder intakte Zustände im sozialen Beziehungsgeflecht. Kriemhilds herzen jâmer verlegt Ursprung wie Äußerung des Schmerzes ins Inneren der Person. Insofern erscheint er als Fremdkörper in der nibelungischen Welt. Auf inneren Schmerz bezogen wir jâmer erst in Kombination mit herze. Diese Kombination deutet auf Kriemhilds Motive für die Unerbittlichkeit ihrer Rache hin. Ihre Trauer, die zur Vernichtung ihrer Verwandten führen wird, leitet sich aus ihrer triuwe-Bindung an Siegfried her, die über dessen Tod hinausreicht.
Höfisches Vokabular kann nicht einfach mit den Konnotationen der höfischen Dichtung gleichgesetzt werden. Herz kann auch negativ belegt sein. Das herz ist der Ort sorgfältig geheim gehaltener Pläne. Mit herz kann ein unheimlicher Ort heimlichen Planens gemeint sein, von dem die Zerstörung sozialer Ordnung (der triuwe-Bindungen) ausgeht. An K arbeitet der Erzähler des Liedes eine Seite heraus, die in der Welt des NL ganz unwahrscheinlich ist und deshalb von allen verkannt wird. Was man ihre unverbrüchliche Liebe und Treue gegenüber Siegfried aus den Handlungskonstellationen erschließen muss, besetzt einen Raum, der im Epos als dunkle Leerstelle erscheint. Es ist das herze, einerseits aus der höfischen Dichtung als Ort einer neuen Kultur der Innerlichkeit bekannt, doch auch ein verschlossener Ort heimlicher Gedanken und Pläne, die nicht offen eingestanden werden können.
Hier sind wir an dem Kernargument angelangt, das die Interpretation, welche Kriemhild als Verräterin an ihrem eigenen Ehemann entlarven will, endgültig und entschieden zurückweist: (und zwar) Kriemhilds radikalisierte individuelle triuwe zu ihrem geliebten Mann Siegfried. Der triuwe Begriff steht für das wechselseitige Bindungsgeflecht zwischen Menschen. Die triuwe Kriemhild zu Siegfried ist unbestritten: si was im getriuwe, des ir diu meiste menige giht, so lautet der Erzählerkommentar am Ende der 19. Aventiure. Ihre triuwe radikalisiert sich nach Siegfrieds Tod und ist nunmehr auf seine Person allein gerichtet.

Diese tiefe Verbundenheit kommt allerdings erst langsam ins Spiel. Zunächst ist ihre Verbindung konventionellen Mustern unterworfen. Die Schwester der Könige ist passiv, sie ist in der Verfügungsgewalt ihrer Brüder und wird instrumentalisiert. Ihr gruoz belohnt Siegfried. Zunächst beurteilt Kriemhild den Helden aus Xanten nach seinen Verdiensten um ihre Verwandten. Sie unterwirft sich. Jedoch wird bereits die normgerechte Hochzeit von Anzeichen der individuellen minne durchdrungen: Versteckte Blicke und Erröten. Bei der offiziellen Vermählung zeigt sich Zuneigung.
Das Nibelungenlied zitiert Minnesymptome, doch stets koordiniert mit den üblichen Konstellationen feudaler Eheschließung. Dann wird Emotion zur Hauptsache. Erst nach dem Tod Sigrifds wächst sich K. minne zur Passion. Sie bleibt bei den Verwandten, aber nur solange bis sie Mögl. zur Rache erhält.
Dass die Individualisierung der triuwe Kriemhilds nicht nur anhand einzelner Textabschnitte zu erkennen, sondern charakteristisch ist für den Sagenstoff der Nibelungenthematik, beweist der Blick auf den Klagentext. Das Nibelungenlied ist um 1200 nicht ohne die Klage denkbar. Bis ins 15. Jahrhundert haben alle Abschreiber dem Nibelungenlied die Klage angehängt. Die Klage versucht die beunruhigenden Fragen, die das Nibelungenlied offen lässt, mit einiger Geschwätzigkeit zu beantworten. Für die Zeitgenossen des Mittelalters scheint die eine Dichtung nicht ohne die andere denkbar gewesen zu sein.
In der Nibelungenforschung wird heiß diskutiert, ob die Klage zusammen mit der Fassung des Nibelungenliedes aus einer gemeinsamen Werkstattsituation hervorgegangen ist, oder als nachträglicher, selbstständiger Kommentar und Ergänzung zu bewerten ist und damit eine frühe Rezipientenreaktion auf das Epos sei.

Welcher Forschungsrichtung man sich hier auch immer zuwenden mag, egal wie man sich entscheidet, in Bezug auf unsere Fragestellung wird in jedem Fall klar, dass Klage und Lied zusammen gesehen werden müssen und das in beiden Texten die Individualisierung der triuwe Kriemhild zu Siegfried ein Kernthema bilden. Der Klagentext vereindeutigt das: Kriemhild wird differenziert dargestellt. Keiner verschließt die Augen vor ihrer Verantwortung, ihre Rache an den Verwandten wird als Auslöser von Leid beklagt. Pilgrim legt ihr den Tod der Brüder Gernot und Giselher zur Last. Zudem wird die Eskalation zum Völker vernichtenden Krieg verurteilt. Gegenüber der Rache an Hagen und Gunther, den Mördern ihres Mannes, gilt sie als unbescholten. Die grundsätzliche geistige Beschränkung von Frauen lässt Kriemhild aber die Kontrolle über das Geschehen entgleiten. Es folgt die Exkulpierung Kriemhilds. Entschuldigt ist sie durch ihr Motiv, ihre triuwe, die triuwe zu Siegfried. Auch wenn zusätzlich als Entschuldigung für Kriemhilds Racheverhalten die grundsätzliche geistige Beschränktheit von Frauen angeführt wird, ändert das nichts an der Tatsache, dass in der Klage triuwe einseitig nur Kriemhild zugeschlagen wird, die sie sogar ins Himmelreich eingehen lässt, und damit ihr loyales und treues Verhalten gegenüber ihrem Ehemann untermauert und bestätigt wird. Triuwe, der Begriff mittelalterlicher Feudalgesellschaft wird zur individuellen Tugend, vor allem Kriemhilds.

Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle sagen, dass selbst wenn einzelne Textauszüge eine andere Interpretation zulassen, zumindest aber nicht völlig abweisen, kann es auf die Frage, ob Kriemhild sich als kaltblütige Verräterin an ihrem Mann entpuppt oder als treusorgende Ehefrau angesehen werden muss, nur eine Antwort geben, berücksichtigt man den gesamten Text des Nibelungenliedes sowie den Klagentext mit ein: und zwar: Kriemhild war vor der Ermordung Siegfrieds und auch noch danach, bis in den eigenen Tod in triuwe zu ihm verbunden. So und nur so haben es die mittelalterlichen Zeitgenossen verstanden und verstanden wissen wollen, egal ob die Klage zusammen mit dem Nibelungenliedtext in einer gemeinsamen Werksatt entstanden ist, oder als erste Rezipientenreaktion anzusehen ist.
Am Ende sind wir jedoch noch nicht ganz angekommen. Es soll noch ein differenzierender Blick auf die Rollen bzw. das Rollenverhalten der Figuren geworfen werden – mit besonderer Berücksichtigung der Rollenverbindlichkeit im Kontext der Mordintrige an dem Helden Siegfried.

Hier soll gefragt werden nach der regelhaften Zweckdienlichkeit der Figurenrollen und deren Grenzen. Diese Analyse soll zusätzlich eine Antwort auf die Frage liefern, welche Schwierigkeiten und grundsätzlichen Probleme zu konstatieren sind, bei der Frage danach, ob Kriemhild die von Hagen gesponnene Mordintrige überhaupt hätte durchschauen können, was ihr dann erst die Handhabe gestattet hätte, - rein theoretisch – eigenständig und kalkulierend zu handeln. Es geht jetzt nicht mehr darum, ob sie so gehandelt hat oder nicht – dass sie es nicht getan hat, haben wir gesehen, sondern es geht darum, zu untersuchen, ob ihre Rolle als Sagenfigur ihr diese theoretische Handlungsfreiheit überhaupt erlaubt hätte. Um sich diesem Fragekomplexes zu nähern, soll der Blick noch einmal auf die gesellschaftliche Ordnung im Nibelungenlied gerichtet werden, in die Kriemhild am Hof zu Worms eingebettet ist:
Das gesellschaftliche Leben ist geprägt durch die gegenseitigen Treueverpflichtungen zueinander. Die verschiedenen Typen der sozialen Bindungen sind – wie oben bereits erwähnt – unterschiedlich gewichtet, aus denen sich der Personenverband aufbaut. Verwandtschaftliche Bindungen sind unter den triuwe-Bindungen bedeuten besondere Garantien.
Aber: Treuebindungen können sich überkreuzen und gegenseitig ausschließen. Persönliche Verpflichtungen zu brechen im Namen anderer, ist in jedem Fall Verrat und Treuebruch. Und doch lässt sich dies nicht vermeiden. Das Nibelungenlied erzählt das Dilemma der sich überschneidenden triuwe-Bindungen, von denen dann zwangsläufig eine gekappt werden muss. Hagen entscheidet sich für die Bindung an das Königshaus, handelt nicht als Verwandter Kriemhilds, sondern als man und Vasall Gunthers:
Im Königinnenstreit wird die Königin Brünhild von Kriemhild beleidigt und mit der Behauptung sie sei mannes kebse – schwer gedemütigt. Auch noch nachdem Siegfried in seinem Reinigungseid beschworen hatte, sich nicht dem Vorwurf des ruom, also dem Prahlen mit sexuellen Erfolgen, schuldig gemacht zu haben und auch noch nach Siegfrieds Versprechen das ungefüege und üppeclich Verhalten Kriemhilds zu zügeln und zu bestrafen, trûret noch der Prünhilde lîp.
Der am Wormser Hofe ausgelöste Defekt demaskiert sich in den Tränen der Königin. Das Leid Brünhilds und die damit zerstörte Freude am Hof zwingt die burgundischen Gefolgsleute, an deren Spitze Hagen, zum Handeln. Hagen erweist sich als stets treuer Vasall Gunthers. Er löst bzw. muss seine verwandtschaftliche Bindung zu Kriemhild auflösen, um seine vasallitische zum burgundischen Königshaus zu erfüllen. Die nun betriebene Mordintrige gegenüber Siegfrieds ist in jedem Falle als Treuebruch zu kennzeichnen, gibt doch Gunther noch zu bedenken, er was uns ie getriuwe. Hagens Mordtat ist jedoch durch seine Bindung an Brünhild begründet. Im Verrat ist das Fundament des Personenverbandes getroffen, und deshalb wirkt er weit über die unmittelbar Beteiligten hinaus. An der Figur Rüdigers wird das Dilemma des Personenverbandes noch deutlicher vor Augen geführt.
Rüdiger steht gegenüber seinem Lehnsherrn Etzel in der Pflicht und ist zudem durch einen Eid Etzels zweiter Frau Kriemhild gebunden. Zu den Burgundern steht er in einem Freundschaftsverhältnis. Zudem gibt er seine Tochter Giselher zur Frau und begründet damit Verwandtschaft.

Als es zu den Kampfauseinandersetzungen am Etzelhof kommt, muss Rüdiger Recht brechen. Etzels und Kriemhilds Fußfall vor ihm betont nochmals die vorhandene wechselseitige Abhängigkeit von Herr und Gefolgsmann. Jetzt kann er sich der Forderung Etzels um Waffenhilfe nicht mehr entziehen. Seine Bindung an die burgundischen friunde muss er seiner Lehnstreue opfern.
Rüdiger folgt, anders als der Verräter Hagen, offen dem, was ihm auferlegt ist. Er kann daher mit unbeschädigter Ehre aus dem Konflikt hervorgehen. Sterben muss er, weil es keine pragmatische Lösung in dieser aporetischen Situation gibt, in die er involviert wurde. Dass Rüdiger durch das Schwert stirbt, dass er seinem Gegner Gernot selbst geschenkt hat, stellt die tödliche Konsequenz aus den entgegen gesetzten Verpflichtungen dar. Jede Entscheidung muss Recht verletzten. Rüdiger wird im Nibelungenlied dennoch als strahlender Heros verehrt, weil er sich trotz verfahrener Situation vorbildlich verhält und sich in sein Schicksal fügt. Am höchsten bewertet wird eine freiwillige Bindung unter Gleichen, wie zwischen Hagen und Volker. Hier ersetzt ein emotionaler Bindungsgrund, was an institutioneller Absicherung fehlt. Das Zerrbild hierzu ist das Bündnis auf Zeit zwischen Gunther und Siegfried, das zerfällt, wenn der gemeinsame Zweck erreicht ist. Kriemhilds triuwe ist ambivalent: Positiv nur solange, wie sie in andere triuwe-Netze eingebettet ist, dann immer weniger, je mehr sie alle anderen triuwe-Bindungen bedroht und zuletzt vernichtet.

Kriemhilds triuwe ist nunmehr nur noch auf eine Person gerichtet. Zwangsläufig muss sie aus dem selbstverständlichen Geflecht der getriuwen, das feudale Gesellschaft konstituiert, herausgelöst werden. Zunächst löst sie sich von Siegfrieds Sippe, indem sie diese an der Rache hindert und sich von ihnen distanziert. Rache soll ihre Angelegenheit alleine sein. Beim Abschied an den Etzelhof ist Kriemhild in den Verband der vriunde eingebunden. Tränenreich ist der Abschied von ihren Verwandten in Worms am Hof. Eigentlich ist die triuwe gegenüber der vriunden höchster Bewunderung wert. Doch öffnet sie die Chance für Verrat und Zerstörung. Kriemhild beweist staete gegenüber Siegfried, doch ist ihr Preis Unversöhnlichkeit.
Allerdings erst als Kriemhild auf die Leute Etzels zählen kann, wird die triuwe zu Siegfried schließlich zum absoluten, alle anderen sozialen Bindungen aufzehrenden Motiv für ihre Rache. In der 23. Aventiure gibt sie dann ihre geliebten Brüder Giselher und Gernot auf. Der Erzähler spricht davon, dass ihr das der Teufel eingeflüstert habe. Gerade weil Kriemhilds minne und triuwe nicht mehr über Siegfrieds Stellung allein vermittelt ist, sondern ihm, unabhängig von dem, was er ist und hat, gelten soll, fällt sie aus dem Geflecht gewöhnlicher triuwe-Bindung heraus. Die Bindung an den holden vriedel – Geliebter - kann und muss alle anderen Bindungen –die an Verwandte und vriunde – zerstören. Ihr Tod spiegelt das Vergehen wider, sie wird zerstückelt, die Strafe für Verräter. Das Nibelungenlied erzählt die Widersprüche und Grenzen der triuwe. Wenn Kriemhild sich aus den sozialen Bindungen des Wormser Hofes Schritt für Schritt löst, bedeutet das zugleich, dass diese zunächst bestanden haben und intakt gewesen sein müssen. Aus der Perspektive Kriemhilds gesehen, war dies auch noch im Anschluss an den so folgenreichen Königinnenzank so:
Mit den Worten: du bist mîn mâc, sô bin ich der dîn (Du bist mit mir verwandt und ich mit dir) drückt sie ihr ihrem Verwandten Hagen gegenüber Vertrauen aus und verrät ihm die verwundbare Stelle am Körper des Drachentöters aus Xanten. Aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Einbindung in Worms kann, ja muss Kriemhild auf diese zentrale Form der Treuebindung vertrauen. Sie selbst artikuliert ja sogar ihr Vertrauen aufgrund der verwandtschaftlichen Verbindung.
Ob sie vielleicht Siegfried sogar darüber in Kenntnis setzt, dass Hagen seine verwundbare Stelle kennt, verrät der Text freilich nicht. Aber auch das Gegenteil muss aufgrund dieser Leerstelle offen bleiben. Beiden könnten schließlich davon ausgehen, dass Hagen tatsächlich als Beschützer Siegfrieds auftreten wird.

Dass Siegfried den Burgundern sein Vertrauen schenkt, beweist seine freiwillige Einwilligung zur Teilnahme am vermeidlichen Sachsenkrieg. Selbst als der angebliche Kriegszug zu einem Jagtausflug umfunktioniert wird, schöpft er keinen Verdacht. Siegfrieds Vertrauen auf die mâgen seiner Frau ist nicht einfach törichte Verblendung, sondern ergibt sich aus dem Verhältnis, in das er mit seiner Heirat eingetreten ist. Verwandtschaft in Frage zu stellen heißt die Grundlage mittelalterlicher Lebensordnung zu untergraben.
Im Nibelungenlied wird das problematische Verhältnis zwischen dem Oppositionspaar Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit erzählt. Das Sichtbarkeitskriterium behauptet auf problematische Weise seine Geltung, auch wenn das, was vor aller Augen gesagt wird, immer deutlicher als falscher Schein entlarvt wird.

Transparenz kehrt zurück als Siegfrieds Mörder an seiner Leiche vorbeigehen fangen die Wunden an zu bluten. Kriemhild kann so die Mörder ihres Mannes erkennen, auch wenn sie zu dieser Zeit nicht gegen das Wort des Königs ankommt. Wahrheit hängt von Macht ab. Im Nibelungenlied gibt es eine Sphäre jenseits von Sichtbarkeit nur als Verrat und Intrige. Das Wort gerät ins Spannungsverhältnis zum Zeichen. Siegfrieds Reinigungseid kann den Verdacht nicht ausräumen, den die Zeichen Ring und Gürtel suggerieren. Gunthers Urteilsspruch, der Siegfried freispricht vom Vorwurf des ruom, trocknet nicht die Tränen der Königin. Der Sprechakt, der Wahrheit zu verkünden und Recht zu setzten scheint, richtet sich vergeblich gegen die Evidenz der Zeichen.
Körperhaftigkeit bedeutet Sichtbarkeit. Ist Siegfried unsichtbar, werden die Taten Gunther zugeschrieben. Unsichtbarkeit ist entscheidend, dass jemand nicht da ist. So wird der Betrug an Brünhild als Entzug von Sichtbarkeit vollzogen.
Dem Muster der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit folgend wird deutlich, dass das Mordkomplott an Siegfried gelingen kann, weil der Plan teilweise im Dunklen geschieht, der Wahrnehmung verborgen bleibt und ein falsches Bild arrangiert wird durch Lüge. Die Mordintrige hat keinen Raum, sie kann sich nicht auf der Bühne höfischen Handelns zeigen. Sie zu durchschauen vermögen Kriemhild wie auch Siegfried daher nicht. Siegfried bemerkt zwar ihre Planung, deutet sie aber falsch als Zeichen für die Bedrohung durch den vermeintlichen Krieg.
Kriemhild und Siegfried können auf die Garantien der gesellschaftlichen Bindungen am Wormser Hof vertrauen, in die sie verwandtschaftlich eingeflochten sind. Ihnen die Fähigkeit zu attestieren, sie könnten die im Dunklen vollzogene und damit der Sichtbarkeit entzogene Mordintrige durchschauen und daraufhin ihre eigenständige Handlungsweise gestalten, würde bedeuten den Figuren Kriemhild und Siegfried eine Kompetenz zu unterstellen, die ihnen der epische Text des Nibelungenliedes in keinster Weise zuschreibt.

Am Ende steht das Bild einer durch und durch konsistenten „nibelungischen Textwelt“, in der die Figuren so und nicht anders handeln, weil sie den Regel, selbst dann, wenn sie sie brechen oder sich ihnen verweigern wollen, gehorchen müssen.
Den Worten Jan-Dirk Müllers verpflichtet lässt sich resümieren, dass die Spielregeln funktionieren, doch sind es Spielregeln für den Untergang.