Hagen
und Kriemhild
Argumentationszirkel
der Gewalt


von Volker Gallé


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Franz von Stuck, Der Nibelungen Not, um 1920 .




Hagen und Kriemhild sind die treibenden Kräfte der Handlung im Nibelungenlied. Ohne ihre jeweilige Unversöhnlichkeit ist das Untergangsszenario am Ende nicht denkbar. In beiden Teilen des Epos spielen sie eine Hauptrolle. Siegfried und Brünhild verlassen am Ende des ersten Teils die Bühne, Etzel, Rüdiger und Dietrich kommen erst mit Blick auf den 2. Teil ins Spiel. Auch Volker entfaltet seine Rolle erst im 2. Teil. Die drei Königsbrüder sind zwar in beiden Teilen aktiv, spielen aber bis auf Gunter Nebenrollen. Gunter ist durch seine Brautwerbung um Brunhild zwar handlungsrelevant, das Königreich Burgund als corpus politicus jedoch vertritt Hagen.

In den gegenwärtigen Interpretationen des Nibelungenstoffs werden die Figuren Hagen und Kriemhild auf der Basis einer „libidinösen Hassbeziehung“ (Gephart S. 141) inszeniert. Leider wird daraus meist allzu vereinfachend eine Hassliebe, die sich sexuell darstellt. Eine Hassbindung in einer Beziehung bezieht ihre Unausweichlichkeit, die durchaus untergangsorientiert sein kann, aber aus der Abhängigkeit der emotionalen Orientierung am Anderen in einem Machtkampf und aus Überwältigung der Person durch die starke Emotion. Etwas Anderes sind Hasslieben in bestehenden sexuellen Beziehungen. Etwas Anderes sind auch auch ambivalente Opferbindungen an Täter. Letzteres käme von Kriemhilds Seite gegenüber Hagen eher in Betracht. Allerdings ist Kriemhild ein Opfer von Hagens struktureller, nicht personaler Gewalt, sowohl was ihre Stellung am Königshof angeht als auch als Ehefrau des Mordopfers Siegfried. Und ob Hagen, der seine Schutzfunktion verräterisch instrumentalisiert, überhaupt eine emotionale Bindung, vielleicht sogar ein sexuelles Interesse an Kriemhild haben könnte, ist eine reine Fantasie psychologischer Interpretationswillens heutiger Regiedeutungen. Da scheint mir eher der Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Nicht dass Emotionen im mittelalterlichen Epos keine Rolle spielten, im Gegenteil, aber sie sind viel stärker an soziale Muster des Status gebunden als an kleinfamiliäre Strukturen und romantische Liebeskonzepte.
Nach dem politischen Umbruch 1989 wurde anfangs gern ein Ende der Geschichte eingeläutet und eine Privatisierung der Interessen, vor allem in den relativ reichen westlichen Gesellschaften. Es ist also eine Mainstream-Deutung unsrer Zeit in einem Teil der globalisierten Welt, der die Sexualisierung von Inszenierungen auf der Bühne und im Alltag aufdrängt. Durch die Erfahrungen von fundamentalistischen Prozessen kollektiver Identitäten, seien sie national oder religiös begründet – man denke an den Ukrainekonflikt oder an die Auseinandersetzung mit dem Islamismus – wird zunehmend deutlich, dass man von einem Ende der Geschichte nicht sprechen kann und die politische Frage zurückkehrt in den Mittelpunkt des Interesses, und zwar in Form einer Auseinandersetzung zwischen autoritären und republikanischen Modellen. Beide Formen kollektiver Identität haben emotionale Potenziale. Im autoritären Modell geht es um Ehre, Kränkung, Demütigung, Vergewaltigung und wahre Lehre als Teil einer Gruppe, im republikanischen Modell um Respekt, Wahrnehmung der Person, Rechtsstaatlichkeit und intersubjektive Verständigung von Personen. In allen Gesellschaften mischen sich diese Strukturen auf je eigene Art und Weise, mal dominiert das eine, mal das Andere. Die Entpolitisierung des republikanischen Modells hat nicht nur zu Unübersichtlichkeiten geführt, die eine Sehnsucht nach Eindeutigkeit zur Folge haben, und zum Ausstieg aus politischer Beteiligung, sondern auch zu einem immer mehr technokratisch-bürokratischen Umgang mit Recht und Politik. Das macht es autoritären Modellen leicht, emotional Fuß zu fassen. In ihrem Buch „Politische Emotionen“ verweist die nordamerikanische Ehtikerin Martha C. Nussbaum darauf, dass eine gute Nation nach Rousseau eine „patriotische Zivilreligion“ (Nussbaum, S. 313) brauche. Das Mitfühlende dieser patriotische Liebe, die sich in beispielhaften Narrativen, so genannten großen Erzählungen äußert, könne man mit einem Gespür für Menschlichkeit verbinden. Eine „verwässerte Motivation“, die nüchterne Prinzipien in den Mittelpuntk stelle, verliere an Anzierhungskraft. Es bleibt die Frage, welche Geschichten zu Person, Familie, Region, Nation, Menschheit in welcher Beziehung wie erzählt werden. Hier sieht Nussbaum seit der griechischen Antike die Bedeutung des Theaters, von Komödie und Tragödie. Und in diesem Zusammenhang plädiere ich dafür, zu einer politisch-emotionalen Deutung des Nibelungenstoffes zurückzukehren. Dass Kunst dies leisten kann, zeigen Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly in ihrem Buch „Alles, was leuchtet – Wie große Literatur den Sinn des Lebens erklärt“: „Tempel, Kathedralen, Epen, Dramen und andere Kunstwerke fokussieren die Aufmerksamkeit einer Kultur auf das erstrebenswerte Leben und überhöhen es...Kunstwerke wirken...sie sammeln Sitten und Gebräuche, um auf eine bestimtme Lebensweise zu fokussierenudn diese zu manifestieren. Wenn Kunstwerke leuchten, dann illunimieren und verherrlichen sie eine bestimmte Lebensweise – sie lassen alle dinge in ihrem Licht erstrahlen. Ein Kunstwerk verkörpert die Wahrheit seiner Welt.“ (Dreyfus/Kelly, S. 151/152) Das Besondere dabei ist, dass die Spannung zwischen den Deutungsmodellen verschiedener Zeiten – und das gilt natürlich insbesondere für Stoffbearbeitungen wie beim Nibelungenlied - den Blick öffnet, sowohl für blinde Flecke in der Gegenwart als auch für elementare Dramaturgien, die noch, immer noch zu bewältigen sind, wenn auch unter veränderten politischen Verhältnissen.

Rückblick aufs Mittelalter
Was treibt die Figuren Hagen und Kriemhild an, was sind ihre handlungsbestimmenden Motive?

Hagen
Bei Hagen ist es die Treue zum personalisierten Staat, wie er sich seit der Spätantike in Europa herausgebildet hat und bis in die Neuzeit wirksam war. Der anonyme Autor des Nibelungenlieds schreibt aus der Sicht seiner Zeit um 1200. Statt den Staatsbegriff nur auf den modernen Staats zu beziehen, der auf dem Gewaltmonopol fußt, beziehe ich ihn auch auf die charismatischen Herrschaftsformen von Antike und Mittelalter. Zur Beschreibung des mittelalterlichen Staatsmodells eignet sich die Lehre von den zwei Körpern des Königs, wie sie Ernst Kantorowicz in einer klassischen Studie 1957 vor allem an englischen Beispielen des 13. bis 16. Jahrhunderts entwickelt hat. Der eine Körper des Königs „ist sein natürlicher Körper , „der allen Anfechtungen ausgesetzt ist, die sich aus der Natur oder aus Unfällen ergeben“, und der deshalb nicht anders ist als „die natürlichen Körper anderer Menschen“ Der andere Körper des Königs wird jedoch als sein politischer Körper beschrieben, den man „nicht sehen oder anfassen kann“ und der „für die Lenkung des Volkes und das öffentliche Wohl“ da ist“ (Skinner, S. 13) Das Leben des Königs garantiert also in gewisser Weise das Leben des feudalen Staates. Vor allem der politische Körper und damit der Status des Königs darf nicht verletzt werden. Da dieser Status aber von einem lebendigen Menschen ausgefüllt wird, ist nicht nur die familiäre Nachfolge wichtig, sondern möglichst auch eine andauernde Unversehrheit des Königsmenschen. So ist es auch zu verstehen, dass Zweikämpfe als Rechtsrituale im Mittelalter zwar von Königen angenommen, aber meist von Stellvertretern durchgeführt werden. Dieser Sachverhalt spiegelt sich deutlich in Gunthers Verhalten bei der Brautwerbung, die nicht im heute üblichen Umfang als Schwäche ausgelegt werden kann. Hagen sieht seine Aufgabe darin, in erster Linie den politischen Körper des Königs zu schützen und zu verteidigen. Angriffe auf den Status des Königs sind damit Fragen der Staatsräson und abzuwehren. Sie legitimieren auch Gewalt, im Fall Kriemhilds und Siegfrieds sogar Mord. Vor allem in den Chroniken des frühen Mittlalters ist die Klärung von Machtfragen einer Königsherrschaft über Verwandten- oder Rivalenmord im Übrigen ein häufig beschreibenes Ereignis. Schließlich deutet auch der Königsmord der französischen Revolution noch darauf hin, dass die Vorstellung vom politischen Körper des Königs bis in die Gegenwart hinein virulent ist. Ohne die Vermutung einer Wirkmächtigkeit wäre auch eine Abdankung ausreichend gewesen. Derzeit finden sich Reste dieses Modells noch in den Gesellsschaftskolumnen der yellow press mit ihren Berichten aus Adelskreisen, bürgerlich ersetzbar durch andere Formen von Homestories, sei es von Prominenten oder Jederfrauen und Jedermännern, damit aber immer mehr privatisiert.
Neben der Lehre von den zwei Körpern des Königs ist das sich im hohen Mittelalter ausprägende Modell der Lehensherrschaft von Bedeutung für Hagens Selbstverständnis. Das Lehensmodell bedeutet eine gegenseitige Verpflichtung von Lehensherr und Vasall. „Die Lehensbindung ist durch die komplementären Pflichten zu „Schutz und Schirm“ seitens des Herren und von „Rat und Hilfe“ seitens des Vasallen charakterisiert.“(Mitterauer, S. 111) Nicht von ungefähr ist daher Hagen Ratgeber seines Königs und Gunther gibt gegenüber Kriemhild seine Schutzpflicht gegenüber Hagen nicht auf. Hagen versteht sich als Hüter des politischen Königskörpers und damit der burgundischen Herrschaft, die König und Volk umschließt. Dadurch sieht er auch seine Gewalthandlungen legitimiert. Das Prinzip der Staatsräson – Staat im mittelatlterlichen Sinn – verlangt aus Sicht Hagens unbedingte Treue, weil der Verrat an diesem Prinzip das Ende des Staates, den Tod des politischen Körpers bedeuten würde. Persönliche Schicksale sind demgegenüber zweitrangig, auch das eigene Schicksal. Das heißt nicht, dass Hagen die Spielregeln der höfischen Diplomatie fremd wären, wie sein Verhalten beim Eintreffen Siegfrieds in Worms zeigt. Klugheit und Weitsicht gehören sehr wohl zu seiner Ratgeberfunktion, aber auch sie stehen im Dienst eines Prinzips, das nicht verhandelbar ist.
Erst ab dem 15. Jahrhundert rückt die Staatsverfassung stärker in den Mittelpunkt der Bindungen von König wie von Volk. Dies wiederum ist möglich, weil sich aus der Bindung des Herrn im Lehenswesen Ständeverfassungen entwicklen können, die später in die parlamentarischen Formen der Staatsverfassung münden. Hier setzt auch unser mögliches Verstehen des anders gedachten mittelalterlichen Gesellschaftsmodells an.
Im Mittelalter gibt es vor dem ewigen Landfrieden 1495, der das Gewaltmonopol des Ständestaates definiert, eine nicht harmonisierte, wohl aber gesammelte Vielzahl von Rechtsvorschriften, deren eine die Fehde ist. Sie fußt auf Rechtsvorstellungen des Ausgleichs. Unter bestimmten Bedingungen können Personen ihnen zugefügten Schaden über gewaltsame Regulierungen ausgleichen statt Gerichte zu bemühen.
Damit kommen wir zu Kriemhild.

Kriemhild
Bei Kriemhild geht es um Rache als handlungsbestimmendes Prinzip. Die Ächtung von Rache in Gesellschaften mit staatlichem Gewaltmonopol und die Ablehnung von Rache in der christlichen Lehre täuschen darüber hinweg, dass Rache bis zum Beginn der modernen Neuzeit nicht nur ein starkes Gefühl, sondern auch ein Rechtsverfahren darstellt, das in der Wiederherstellung von Gerechtigkeit begründet ist. Man nennt das Talionsprinzip, d.h. Eintreiben eines gleichartigen Ausgleichs. In seiner ältesten Form findet es sich in einer Sammlung von sumerischen Rechtssätzen aus derzeit um 2100 v. Chr. Dort heißt es: „Wenn ein Mann einen Mord begangen hat, soll besagter Mann getötet werden.“ (wikipedia). Das trifft auf den Mord an Siegfried zu, seine Ehefrau kann diesne Ausgleich verlangen. Es kommt dazu, dass ihr Status beschädigt wurde, indem ihr der ererbte Schatz vorenthalten wird, den sie braucht, um zum Einen als Frau und zum Anderen gegen die eigene Sippe ihren Anspruch geltend zu machen. Hier wird auch die Tatsache deutlich, dass Kriemhild als Frau aus den Funktionen des Feudalstaats weitgehend ausgeschlossen ist und nur durch ihren Ehemann präsent sein konnte, sozusagen dafür ersatzweise durch den Schatz.
Da die Auseinandersetzung, anders als bei den antiken Rachegöttinnen, nicht um die Verletzung der Sippenehre geht – es ist ja ein Konflikt innerhalb der eigenen Sippe – bildet sich in der Figur Kriemhilds ansatzweise eine eher moderne Form des Fühlens. Irmgard Gephart scheibt in „Der Zorn der Nibelungen“: „Kriemhild sucht also nicht eigentlich Rache als objektivierte Rache,vollzogen durch die Sippe oder Gefolgsleute, sondern vielmehr die personale Lust an der Vergeltung. Nicht der vollzogene Racheakt als solcher vermag sie zu befriedigen, sondern die persönliche Begegnung mit Hagen, in der sie seine Demütigung zu erzwingen sucht.“ (Gephart, S. 141) Zwischen Siegfried und Kriemhild gab es eine Liebesbeziehung, in der – höfisch gesprochen – hohe und niedere Minne zusammenfanden, eine Liebesheirat im romantischen Sinn. Ist das der Sprengstoff, den der Autor unbewusst in den epischen Ton geschmuggelt hat? Sicher ist, dass Kriemhild an einem patriarchalischen Staatsmodell scheitert. Das wird um so deutlicher, als ihr (und auch Brünhild im Königinnenstreit) vom Autor die Schuld für den Untergangstod der burgundischen Helden zugewiesen wird. Sie ist die Teufelin, z.B. in den Augen Dietrichs, der die mögliche Einigung mit Hagen auf der Ebene des Männerbundes und seiner Gepflogenheiten von der Rachewut Kriemhilds gestört sieht. Diese negative Bewertung Kriemhilds hat bereits das Mittelalter beschäftigt. In der „Klage“ wird Hagen das Treueideal aberkannt und Kriemhild zuerkannt. Kriemhild wird zwar durch den Racheprozess schuldig, aber sie wird anders als Hagen ins Recht gesetzt, was ihre Motive angeht. „Das rettet Kriemhild vor dem ewigen Tod.“(Brinker-von der Heyde, S. 131). Die Klage resümiert: „Weil sie wegen ihrer Treue starb, wird sie noch lange Zeit in Gottes Gnade im Himmel leben.“
Auch die Rache wird maßlos, selbst wenn sie gerechtfertigt sein mag. Ist das ein weibliches Verhaltensmuster in patriachalischen Gesellschaften oder ist die Maßlosigkeit weiblicher Rache ein männliches Klischee? Jedenfalls, so Ursula Richter in ihrem Buch „Rache der Frauen“ (1991) suchten und suchen Frauen andere Strategien, um Rache zu üben als Männer, sie agierten aus einer Ohnmachtssituation heraus, die ihnen Körpergewalt in der Regel verwehrte. Das Bild der „Teufelin“ wie bei Kriemhild in Nibelungenlied ist übrigens über Jahrhunderte zu finden, auch in den mündlich überlieferten Volkserzählungen. Eine österreichische Sage erzählt davon, dass der Teufel und eine Frau sich um ein Reisigbündel stritten. Christus habe Petrus als Streitschlichter hingeschickt und der habe beiden den Kopf abgehauen, da sie auf seinen Rat nicht hören wollten. Christus habe diese Lösung nicht gut geheißen und Petrus befohlen, die Köpfe wieder aufzusetzen. In der Eile habe dieser dem Teufel dne Kopf der Frauund der Frau den Kopf des Teufels augesetzt. Einen Unterschied habe man nicht bemerken können. In der literarischen Überlieferung steht für diesen Diskurs die Bearbeitung der Medeafigur.

Weitaus interessanter scheint mir allerdings ein anderer Diskurs, der Lösungen, sozusagen Lehren aus der Gewalt aufzuweisen sucht, weil er Rechtsuniversalien an die Republik knüpft. Erstmals taucht eine solche Geschichtserzählung bei Livius auf. Sextus Tarquinius aus der Königsfamilie vergewaltigt Lukretia, die aus einer Wette von Männern als besonders tugenhaft hervorging. Es ist genau das, was ihn demütigt und reizt. Lukretia offenbart sich ihren Verwandten, wird schuldlos gesprochen und ersticht sich dennoch, damit sich „keine Schamlose auf sie berufen könne“ (Koschorke, S. 45) Der republikanische Verschwörer Brutus zieht das Messer aus der Wunde, reicht es an die umstehendne Männer herum und schwört, das recht- und sittenlos Königtum in Rom zu beenden. Albrecht Koschorke bezeichnet das als „weibliches Gründungsopfer“ der Republik. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die Republiken sich gern Frauenfiguren als Enbleme suchten, wie die Marianne in der französischen Revolution. Die Tugendhaftigkeit, manchmal Jungfräulichkeit solcher Figuren knüpft an die Göttin Artemis an als einer von Männern unbeherschte Frau. Demokraten sind wie Minderheiten, z.B. Juden, in der Geschichte gern als weibisch von patriarchalischen Herrschaftsdiskursen ausgeschlossen worden. Es könnte also dabei um eine Integration von Männlichkeit und Weiblichkeit in einem Bund der Gleichen gehen.

Retardierende Momente

Zurück zu Hagen und Kriemhild und den Argumentationszirklen der Gewalt. Der Weg zum Untergang ist im Nibelungenlied kein Weg ohne Alternativen. Besonders bei Hagen, aber auch bei Kriemhild gibt es retardierende Momente, die alternative Entscheidungen möglich machen. So warnt Hagen vor Siegfried als einem Unruhestifter, warnt vor der Brautwerbung Brunhilds, beides sind heroische Figuren, homerische Halbgötter im antiken Sinn und nicht mit den normalen Helden des Hofes kompatibel. Er warnt auch, der Einladung Etzels zu folgen, weil er sich Kriemhilds Racheabsichten bewusst ist. Hätte Gunther auf Hagen gehört, hätte das Unglück also mehrmals aufgehalten werden können. In der 25. Aventiure warnen die weissagenden Frauen Hagen zudem vor der Reise ins Hunnenland. Die Burgunder würden dort sterben, sagen sie. Hagen antwortet, das wäre seinem König schwer beizubringen. Also bleibt er beim königlichen Wunsch, auch wenn er den Untergang ahnt.
Auch Kriemhilds Falkentraum ist eine Warnung und veranlasst die junge Frau zu der Absichtserklärung, auf die Liebe eines Kriegers verzichten zu wollen, um niemals aus Liebe Leid zu erfahren. Der Autor kommentiert, es werde anders kommen und sie werde die Tötung ihres Geliebten an der dafür verantwortlichen eigenen Familie rächen. Das weiss man bereits in der 19. Strophe der ersten Aventiure. Insofern ist die Liebe-und-Rache-Linie Kriemhilds bereits früher und eindeutiger vorgezeichnet als die Treue-Mord-Linie Hagens. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass der Autor sich bereits zuvor darauf festgelegt hat, dass Kriemhild (Strophe 2), bzw. Krimehild und Brunhild (Strophe 6), also die Frauen, die Ursache des Untergangs sind. Der Autor steht auf der Seite des Staates, der in Burgund von Männern verkörpert wird. Die wohl eher vom Höfischen her abgeleitete Argumentation der Rachegewalt aus individueller Verletzung ist ihm nicht geheuer. Diese Position ist es dann ja auch, die in der Folge die Schulddebatte in der Klage auslöst, also das 13. Jahrhundert offenbar stark beschäftigt hat. Das wiederum hängt damit zusammen, dass sich das Lehenswesen im 12. Jahrhundert des Stauferreiches als Staatsprinzip durchsetzte, um 1200 zunehmend verschriftlicht wurde (siehe Steffen Patzoldt), aber durch die politischen Eriegnisse als fragil empfunden wurde. Ich verweise auf den Thronstreit zwischen dem Staufer Philipp von Schwaben und dem Welfen Otto von Braunschweig ab 1197, der 1208 mit einem Rachermord an Philipp durch den Wittelsbacher Pfalzgrafen Otto seinen Höhepunkt fand, eine unsichere Zeit der Herrschaft. Parallel dazu findet man im Entwicklungsroman der höfischen Artusepik eine ethisch bestimmte Debatte um die Ausbildung individueller Persönlichkeit, die sich in die Zukunft eines bürgerlichen Selbstverständisses richtet.
Auffallend im Nibelungenlied ist auch, dass es der Burgunderhof ist, der in seinen beiden Kernformen, Treue und Rache, stärker schicksalsbestimmt ist als der Etzelhof, der mehr auf Gastfreundschaft und Diplomatie setzt (siehe Gerd Althoff). Rüdiger scheitert letztlich tragisch an der Unmöglichkeit, zwei Treueversprechen mtieinander in Einklang zu bringen, das gegenüber Kriemhild und das gegenüber der Burgunderfamilie, mit der er über seine Tochter und Giselher sogar verwandt geworden ist. Als Etzels Vasall bittet er darum, aus der Treuepflicht entlassen zu werden. Gegenüber Kriemhild argumentiert er sogar in einem christlich inspirierten Sinn, er habe zwar geschworen, um der Königin willen Ehre und Leben aufs Spiel zu setzen, aber er habe nicht geschworen, seine Seele zu verlieren. Kriemhild und Etzel knien vor ihrem Lehnsmann nieder und bitten um die Einhaltung der Treueverpflichtung. Rüdiger bietet an, alle Lehen zurückzugeben und das Land zu Fuß zu verlassen. Das wird ihm verweigert und so sucht er den Tod im Kampf. Letzlich argumentiert der Etzelhof also wie der Burgunderhof mit den Spielregeln des Lehensprinzips. Auch Dietrich tritt als Vermittler auf und sucht vor allem den Rachefeldzug Kriemhilds einzudämmen. Aber die De-Eskalation ist nicht erfolgreich, weil die Vertreter des Treue-und des Racheprinzips, Hagen und Kriemhild nicht zur Vermittlung bereit sind.

Argumentationszirkel der Gewalt

Die Interkation, „sofern Hagen und Kriemhild an ihr beteiligt sind, gleicht im Folgenden einem Schlagabtausch, indem beide Parteien sich einander ihre Negativerwartungen erfüllen, um daraus ein Maximum an Selbstbestätigung zu ziehen. In krassem Gegensatz zu der realitätsfernen Ahnungslosigkeit, welcher die beiden Landesherren Gunther und Etzel an den Tag legen, setzen Kriemhild und Hagen auf Konfliktfreilegung und Konfliktsteigerung“, so Gephart (Gephart, S. 135) Es ist allerdings nicht Ahnungslosigkeit, die die beiden Landesherren auszeichnet, sondern der Versuch zu deeskalieren im Sinn von Vermittlung. Das aber unterlaufen Hagen und Kriemhild. In der Unbedingtheit ihrer Gewalt-Argumentation ist die Abhängigkeit voneinander begründet, nicht in einer wie auch immer gearteten erotischen Anziehung. Die starke Emotionalität entsteht aus Machtwillen.
Der Religionsphilosoph René Girard, der sich mit Gewalteskalation als einem mimetischen Prinzip beschäftigt hat, setzt sich in seinem jüngsten Buch „Im Angesicht der Apokalypse“ mit dem preußischen Kriegstheoretiker Clausewitz auseinander. Und auch wenn hier eine Analyse der Moderne und ihres Untergangspotenzials im Vordergrund steht, gibt es dennoch eine überzeitliche Verbindung mit dem mittelalterlichen Denken, die man leicht erkennt, wenn man Clausewitz zitiert und auf den Konflikt Hagen/Kriemhild bezieht:„Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf...Jeder sucht den andern durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen; sein nächster Zweck ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem fernern Widerstand unfähig zu machen. Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ (Girard, S. 29) Das „Streben nach dem Äußersten“ führt dazu, das sich die Gegner imitieren, einander ähnlich werden, obwohl ihre hermetischen Argumentationszirkel auf prinzipieller Verschiedenheit beruhen und beharren. Vorhandene Institutionen und Rituale der Vermittlung werden ausgeschaltet und schlecht geredet. Das ist die Aufgabe von Hetze und Propaganda, die Stärke suggerieren. Es ist der christliche Ansatz der Feindesliebe, der das Sich Ähnlich Werden im Hass auszuhebeln sucht. Diplomatie, Deeskalation und Verständigungs- und Verstehensprozesse sind zudem, auf lange Sicht gesehen, nur scheinbar schwache Mittel, denn sie basieren auf eme Wissen, dass „der Krieg nicht zu einer absoluten Entscheidung“ führt, „sondern stets zu einem relativen Ausgang“, bisher jedenfalls. Man spricht auch vom Ausbluten eines Konflikts. Ich meine, dass diese Strukturen sich sowohl im Konflikt Hagens und Kriemhilds als auch in den aktuellen Konflikten Europas und des Nahen Ostens, Ukraine und Syrien, finden lassen, auch wenn sich die Inhalte der hermetischen Argumentationszirkel und die konkreten Dramatugien unterscheiden. Allerdings spielen Treue und Rache zu allen Zeiten dabei eine entscheiden Rolle als Motivation der handelnden Kriegstreiber und Gewalttäter. Stärker als die Artusepik, die Wege zur Persönlichkeitsbildung und zur Friedensvermittlung in den Mittelpuntk stellt, setzt sich das Nibelungenlied mit den Potenzialen der Gewalt und ihren Folgen auseinander. Ein Inzenierungsmodell, das dies berücksichtigt, scheint mir für die Gegenwart mehr Erkenntnis zu bringen als die Reduktion der Gewaltspriale auf „Beziehungskisten“.

Autorenintension und Publikumsreaktion

Das führt mich zu einer weiteren Bewertung des mittelalterlichen Epos. Es gibt anthropolgische Grundkonstanten, bzw. große Erzählungen über Jahrhunderte, die das Mittelalter mit uns heute bei aller Verschiedenheit verbinden. In der Umbruchszeit um 1200 sind Ungleichzeitgkeiten angelegt, die uns unterschiedlich stark berühren. Homerisches Heldenverständnis, vor allem in den Halbgöttern Siegfried und Kriemhild, beruht darauf, dass die Begeisterung durch den die jewielige Handlung steuernden Gott der polytheistischen Welt ein moralisch nicht vermitteltes Nebeneinander von Verhaltensweisen ermöglicht, das bereits im Mittelalter als maßlos empfunden wurde. Dem stehen zwiegespaltene Menschen gegenüber, die schwächer erscheinen, aber im Grunde Reflexion und Ambivalenz im Inneren kennengelernt haben. Neben der christlichen Ethik des Mitgefühls gibt es auch erste Entwürfe romantischer Liebe. Diese entfaltet sich erst in der bürgerlichen Gesellschaft dominant. Dominanz ist dabei der entscheidende Begriff für ungleichzeitige Zustände, denn all das, was war, ist, wenn auch latent oder im Hintergrund, in der jeweiligen Gegenwart präsent, ebenso das, was noch kommen wird. Der Zeitgeist beschreibt lediglich das dominante Modell einer Zeit.
Der Autor des Nibelungenlieds hat die dominanten Fragen seiner Zeit durchgespielt und festgestellt, dass das Treue- als auch das Rachemodell, insbesondere wo beide aufeinander unversöhnlich treffen, zum Untergang der beteiligten Menschen führen müssen, die jeweiligen Ideale zerstören das Lebendige. Seine Schuldzuweisungen scheinen mir demgegenüber weniger relevant. Sie wurden ja auch in der Folge diskutiert und relativiert. Es ist die Wirkung seines dramaturgischen Modells, die - obwohl vielleicht gar nicht von ihm beabsichtigt -, das Epos auch für die Moderne wirksam sein lässt. Ein „So nicht“, also eine Rollendistanz ist eine ebenso denkbare Publikumsreaktion wie die Identifikation mit den vorgestellten Rollenmustern. Nur die Nachahmung der Hagen- und Kriemhildrolle muss in den Untergang führen. Wie können konfliktvermeidende Strategie gestärkt werden, ist die offene Frage, die sich das Publikum stellen kann.
Es bleibt die theatermoralische Frage, ob das Erschrecken über Katastrophen lehrreicher ist als gelingende Beispiele von Konfliktbewältigung. Unterhaltsamer scheint jedenfalls der Katastrophenstil zu sein, manchmla verbunden mit einer aristotelischen Katharsishoffnung, aber in diesem Angebot ist eben auch die Verführungskraft mimetischer Gewalt verborgen. Nicht von ungefähr bin ich daher ein Freund von reflexiven, also epischen Elementen, sei es auf der Bühne, sei es vor der Inszenierung in Einführungen oder danach in Werkstattgeprächen. Der Quotendaumen und die Abstimmung mit den Füßen, ersetzt keineswegs den Ddiskurs über Inhalte, von dem eine demokratische Gesellschaft, eine Republik lebt. Und der Nibelungenstoff beschreibt Dramaturgien, die uns heute auch im politischen Alltag beschäftigen und weiter beschäftigen werden. Das ist seine Chance für die Bühne. Und die Anstrengung des Begriffs für Strategien der Problemlösung ist die Chance für unsere Gesellschaft, wenn sie nicht Gewaltspiralen zwanghaft wiederholen will.



Literatur

Gerd Althoff,
Das Nibelungenlied und die Spielregeln der Gesellschaft im 12. Jahrhundert, in: Gerold Bönnen/Volker Gallé, Der Mord und die Klage – Das Nibelungenlied und die Kulturen der Gewalt, Worms 2003, S. 83 -102

Gerd Althoff,
Frieden stiften – Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2011

Claudia Brinker-Von der Heyde,
Hagen – valant oder trost der Nibelungen? - Zur Unerträglichkeit ambivalenter Gewalt im Nibelungenlied und ihrer Bewältigung in der Klage, in: Gerold Bönnen/Volker Gallé, Der Mord und die Klage – Das Nibelungenlied und die Kulturen der Gewalt, Worms 2003, S. 122 -144

Hubert Dreyfus/Sean Dorrance Kelly,
Alles, was leuchtet – Wie große Literatur den Sinn des Lebens erklärt, Berlin 2015

Irmgard Gephart,
Der Zorn der Nibelungen – Rivalität und Rache im Nibelungenlied, Köln 2005

René Girard,
Im Angesicht der Apokalypse – Clausewitz zu Ende denken, Berlin 2014

Annette Kämmerer u.a.,
Medeas Wandlungen – Studium zu einem Mythos in Kunst und Wissenschaft, Heidelberg 1998

Albrecht Koschorke u.a.,
Der fiktive Staat -Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt 2007

Michael Mitterauer,
Warum Europa? - Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, 5.Auflage München 2009

Martha C. Nussbaum,
Politische Emotionen, Frankfurt 2014

Steffen Patzold,
Das Lehnswesen, München 2012

Ursula Richter,
Die Rache der Frauen – Formen weiblicher Selbstbehauptung, Stuttgart 1991

Quentin Skinner,
Die drei Körper des Staates, Göttingen 2012