„Amtsfahrt ins Nibelungenland“

Ein Wormser Himmelfahrtskommando nach Niederösterreich im Jahr 1939


von Volker Gallé

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Dr. Friedrich Maria Illert / Stadtarchiv Worms ..

Rhein und Donau


Im „Sardinischen Krieg“ von 1859, in dem das Königreich Sardinien unterstützt vom Frankreich Napoleons III. gegen Österreich die italienische Unabhängigkeit anstrebte, entstand im gesamten „Deutschen Bund“ Angst vor französischen Expansionsplänen am Rhein und einer möglichen Kriegserklärung Russlands, Frankreichs und Italiens an alle deutschen Länder. Der Jurist, Historiker und Autor Felix Dahn (1834–1912) dichtete daher im Laufe dieses Jahres zwei „Deutsche Lieder“. In einem der beiden Texte verbindet er eine geopolitische Strategie an Rhein und Donau mit einer nationalmythisch aufgeladenen Nibelungenrezeption:

Und wenn’s beschlossen ist da droben,
dass unser Reich versink’ in Nacht,-
noch einmal soll die Welt erproben
des deutschen Schwertes alte Macht...
Schon einmal ward so stolz gerungen
Von deutschen Helden, kühn im Tod:
Ein zweiter Kampf der Nibelungen
sei unsern Feinden angedroht...
Vom Blute schäumend ziehn mit Stöhnen
Empor die Donau und der Rhein:
Es wollen brausend ihren Söhnen
Die deutschen Ströme Helfer sein..

Nach der Niederlage von Solferino musste die habsburgische Monarchie 1859 die österreichischen Herrschaft in Norditalien aufgeben, 1866 nach der Niederlage von Königsgrätz gegen die Preußen eine kleindeutsche Lösung akzeptieren. Der „Deutsche Bund“, den Österreich angeführt hatte, löste sich auf. Österreich konzentrierte sich geopolitisch auf seine Herrschaft in Südosteuropa. Ungarn und Tschechen verlangten für ihre Solidarität in den beiden Kriegen politische Gleichstellung, die den Tschechen in der Sprachenverordnung von 1897 gewährt wurde. Dagegen opponierte die deutschsprachige Bevölkerung. Die Deutschnationalen um Georg Ritter von Schönerer forderten im Zuge der Los-von-Rom-Bewegung den Anschluss an das 1871 gegründete, preußisch dominierte „Deutsche Reich“. Auf diesem Hintergrund entwickelte sich in Wien ein starkes Interesse an einer nationalen Nibelungenrezeption.
Der Nibelungengau zwischen Grein und Melk
Ein Beispiel für dieses Interesse ist die Erfindung des Nibelungengaus. Am Anfang dieses Prozesses stand zunächst die 1901 erstmals propagierte Idee der Wiener Schriftstellergenossenschaft mit Wilhelm Schriefer, Kolloden, Ignaz Bauer, Arthur Edler von Gschmeidler und Theodor Weiser – einer Gruppe mit ganz unterschiedlichen Biografien -, in Pöchlarn an der Donau ein Nibelungendenkmal zu errichten. Die Stadt hieß im Mittelalter Bechelaren und wird im Nibelungenlied als Stammsitz des Rüdiger von Bechelaren erwähnt. Rüdiger verwaltet dort als germanischer Adliger eine hunnische Markgrafschaft. Seine Botschafterfunktion wie sein Loyalitätskonflikt im Nibelungenlied prädestiniert diese Figur zum Spiegel zeitgenössischer Konfliktfantasien in Österreich. In Pöchlarn fiel die Anregung aus Wien auf fruchtbaren Boden. Die politische Landschaft in der niederösterreichischen Stadt wurde durch die beiden großen Blöcke der Christlich-Sozialen (Karl Lueger) und der Alldeutschen (Schönerers Deutschnationale) – beide übrigens antisemitisch – dominiert. „Zur Koordinierung und Organisation der zukünftigen Aufgaben wurde im Februar 1903 der „Nibelungen-Denkmal- und Volksschauspiel-Verein Bechelaren“ gegründet, eine Vereinigung „deutschgesinnter Männer in Wien“, wie Johann Zapf im Vorwort zu seiner kurzgefassten Prosaübertragung des Nibelungenlieds festhält“ (Zatloukal). 1906 wurde mit Unterstützung des niederösterreichischen Landesausschusses ein Preis in Höhe von 5.000 Kronen für ein Stück ausgesetzt. Aus 38 Einsendungen wurde das Stück „Das Fest der Treue“ von Gustav Eugen Diehl prämiert. Diehl, 1883 in Wien geboren, lebte in München und gab ab 1905 die illustrierte Wiener Halbmonatsschrift „Erdgeist“ heraus. Parallel dazu gab es einen Denkmalentwurf des Bildhauers Wilhelm Seib (1854-1924), der in der gesamten Donaumonarchie zahlreiche historistische Arbeiten geschaffen hat, so auch am Parlamentsgebäude und an der Hofburg in Wien. Beide Pläne kamen aus finanziellen Gründen nicht zur Ausführung, das Schauspiel vor allem, weil es in einer eigens dafür zu errichtenden Festspielburg mit einem Spielplatz von 28 Meter Breite und 38 Meter Tiefe inszeniert werden sollte. Zum Sonnenwendfest 1907 konnte lediglich im Schlosspark das Sonnenwendspiel „Baldur“, ebenfalls von Diehl, aufgeführt werden. Nachdem es auch 1908, im 60. Regierungsjahr Franz Josefs I., nicht gelungen war eine Aufführung zu finanzieren, löste sich der Verein 1910 auf. Die Ideen in Pöchlarn erinnern an die durch Wagner inspirierten Ideen, die 1889 in Worms zum Bau des Spiel- und Festhauses führten und danach auch am Rhein die ersten Versuche von Nibelungenfestspielen motivierten. 1929 plante man in Pöchlarn einen Festhausbau, der allerdings ebenfalls aus finanziellen Gründen nicht umgesetzt wurde. 1934-39 wurde das Singspiel „Die Nibelungen in Bechelaren“ im Rahmen von Sonnenwendfeiern aufgeführt. 1940 diskutierte man in den Nibelungenstädten Enns, Pöchlarn, Melk, Mautern, Traismauer, Tulln und Wien nochmals die Denkmalidee, ohne sie – wahrscheinlich kriegsbedingt – umsetzen zu können. Das Nibelungendenkmal in Pöchlarn wurde schließlich – auch in Kooperation mit Alzey, Worms und Xanten – 1987 eingeweiht. Bereits in den 20er Jahren bezeichnete sich Pöchlarn als Nibelungenstadt. Und schon am 5.12.1913 hatte der Gemeinderat von Pöchlarn die Benennung des Donauabschnitts zwischen Grein und Melk als „Nibelungengau“ beschlossen. Grein liegt ca. 30 km westlich von Pöchlarn im Strudengau, Melk ca. 10 km östlich von Pöchlarn in der Wachau. Und damit an der Grenze zwischen Ober- und Niederösterreich. Der Name Nibelungengau hat sich bis heute gehalten, u.a. in der Bezeichnung der Tourismusregion Wachau-Nibelungengau mit Sitz in Krems. In den anderen österreichischen Nibelungenstädten sind vergleichbare Entwicklungen wie in Pöchlarn noch zu erforschen, bzw. zu recherchieren.

Der „Anschluss“ Österreichs und die Nibelungenrezeption


Als deutsche Wehrmachts-, SS- und Polizeieinheiten am 12.3.1938 in Österreich einmarschierten, floh Carl Zuckmayer, der seit 1926 überwiegend in Henndorf bei Salzburg lebte, in die Schweiz. In einem Brief erinnert er sich: „Und ich Esel wollte nicht weg, konnte nicht glauben, dass man jemanden, der nichts getan hat als so gut er es versteht der deutschen Sprache zu dienen, der im Jahr 14 Kriegsfreiwilliger war und vier Jahre in der Front gestanden hat, tatsächlich verfolgen werde, nur weil er nicht ganz auf den gerade vorgeschriebenen Leisten passt. Gott-sei-Dank habe ich eine Frau, die gescheiter ist als ich...sie musste mich erst dazu zwingen, Österreich zu verlassen, weil ich zunächst das Weggehen von einem so geliebten Stück boden und von haus und Hof überhaupt als eine Art Aufgeben betrachtete und mir einbildete, ich könne, dort bleibend, etwas verteidigen. Das war aber vollkommen illusorisch, denn zur unumschränkten Macht kamen nicht die paar verhältnismäßige anständigen und ganz braven Grossdeutschen unter den Nazis, die ich zum Teil kannte und die mir durchaus wohlgesinnt waren, sondern der schlimmste Mob und eine zynisch-skrupellose Polizeitruppe...Tatsächlich konnte ich nach 6 Tagen Naziherrschaft nur noch mit...knapper Not entkommen, sollte nach Dachau.“ (Katalog, S. 259/260) Zuckmayer hatte trotz einer klaren Widerstandsposition zu den Nazis nicht nur geglaubt, wegen seiner Verdienste im ersten Weltkrieg verschont zu werden, sondern auch – wie das 1934 entstandene Schauspiel „Schelm von Bergen“ zeigt auf den ständestaatlich begründeten „Austrofaschismus“ von Dollfuß und Schuschnigg als Schutz vor und kleineres Übel zum Nationalsozialismus gesetzt. Selbst innerhalb der NSDAP suchte er offenbar noch Kontakt zu grossdeutschen Kreisen innerhalb dieser Partei. Das zeigt, dass der mittelalterliche Reichsbegriff im deutschsprachigen Raum ein über die politisch Lager hinweg wirksames Bild geblieben war. Dieses ließ sich geopolitisch gut im Bild von einem durch Rhein und Donau gebildeten Wegekreuz fassen und durch Rückbezug auf das Nibelungenlied erzählen, illustrieren und handlungsanleitend propagieren.
Im Vorwort zur 1941 erschiennen Broschüre „Amtsfahrt ins Nibelungenland“ schreibt der von 1934 bis 1945 amtierende nationalsozialistische Wormser Oberbürgermeister Heinrich Bartholomäus ganz im Parteijargon: „Als wir im Mai 1939 zum Besuch der Nibelungenstädte in die Ostmark aufbrachen, ahnten wir schon, dass eine große Zeit der Bewährung für das Reich kommen würde. Der Herbst des gleichen Jahres brachte den Krieg. Das Jahr 1940 hat die ewige Drohung am Rhein in glorreichen Siegen beseitigt. Während dieser Gruß geschrieben wird, vollendet sich der Sieg an der Donau. Der Frühling 1941 hat die Drohung im Südosten des Reiches überwunden. In harter Entschlossenheit reift die siegreiche Entscheidung heran, zu der der Führer unser Volk aufgerufen hat.“ Am Beginn seines Kurzberichts zur „Amtsfahrt“ liefert Stadtarchivar Dr. Friedrich Maria Illert die passende Erzählung zur nationalsozialistischen Geopolitik: „In Geschichte und Heldenlied ist die schicksalhafte Verbundenheit des Westmark des Reiches mit der Ostmark dem Gedächtnis aller Generationen überliefert. Durch die Jahrtausende antwortet das Nibelungenland am Rhein dem Nibelungenland an der Donau. Uraltes Wissen formte sich neu in der Gegenwart, wo im Brand des Weltkrieges künstliche Trennungen und Grenzen sich aufzulösen begannen, und die Gemeinschaft des großen Reiches sich ankündigte.“ (Kurzer Bericht, S. 3)
Die blumige, stärker literarische Sprache beruht auf alten Erzählmustern der Reichsvision, wie sie in der nachnapoleonischen Zeit zunehmend mit dem Nibelungenlied verbunden und insbesondere von katholischer Seite in Deutschland als Brücke zum Nationalprotestantismus kleindeutscher Prägung gepflegt wurden, immer mit einem Blick für eine grossdeutsche, bzw. süddeutsche oder gar abendländische Erweiterungsoption. Die Nibelungenerzählung dient zur Verklammerung der Identitäten an Rhein und Donau im gemeinsamen Begriff des Nibelungenlandes, das damit aus zwei im Handumdrehen eins macht. Grenzen werden erzählend überwunden, weil das Erzählen die Geschichte als natürlich beansprucht und jüngere politische Regelungen als künstlich denunziert.
Der kurze Bericht, der im Stadtarchiv Worms einem Fotoalbum beiliegt, ist ansonsten eher sachlich gehalten, dokumentiert die Fahrtroute, Namen der Beteiligten etc. und verweist auf einen in Planung befindlichen „literarischen Reisebericht“, der dann 1941 als Broschüre für 1 Reichsmark unter dem Titel „Amtsfahrt ins Nibelungenland“ erschienen ist. Dort wird Worms als Wegekreuz und damit als Knotenpunkt europäischer Geschichte inszeniert: „Schon vor Jahrtausenden hatten die wandernden Völker eine Straße zwischen dem Rhein und der Donau gefunden. Sie kamen aus dem Osten auf natürlichen Wegen von der Donau her zum weiten ebenen Stromgebiet des Rheines und suchten den Hügel an seinem Ufer, der den Übergang leicht machte. Sie kamen auch von Westen zu dem gleichen Sonnenhügel, der die Stadt Worms trägt und so nah an das Wasser heranreicht, dass man dicht am Strome siedeln und am ehesten ihn überschreiten konnte.“ (Amtsfahrt, S.7) Es sind die Straßen zu Wasser und zu Land, die das „Reich“ verbinden, so die „Reichsstraße zwischen Linz und Wien, die den Donaubogen von Nibelungengau und Wachau abschneidet (Amtsfahrt, S. 30) und die „Reichsautobahn“ – gemeint ist die im September 1933 von Hitler mit einem Spatenstich eröffnete und 1935 in Betrieb genommene Strecke Frankfurt-Darmstadt-Mannheim-Heidelberg. Obwohl der Autobahnbau bereits in der Weimarer Republik begonnen wurde, so die kommunal finanzierte Strecke Köln-Bonn wurden die Autobahnbauten unter NS-Regie zu einem Mythos, der bis heute weitererzählt wird, und zwar unter dem wohl eher propagandistischen als realen Motiv einer öffentlichen Baumaßnahme zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Illert schreibt von der Abfahrt am 18. Mai 1939 in Worms: „Wir fuhren durch die morgendlich stillen, in ihrem Königstraum versunkenen Straßen der Stadt zur Nibelungenbrücke über den Rhein und zwischen den Rosengärten die uralte Nibelungenstraße entlang durch die tiefen Riedwälder, das alte Jagdrevier der Wormser Könige, und kamen kurz vor der Lorscher Königshalle auf die Reichsautobahn...Jahrtausende standen gleichsam am Weg, Königsfahnen flatterten unsichtbar und winkten im aufbrechenden Tag. Gepriesen sei das herrliche Straßenband, das die Sehnsucht der wandernden Völker der Vorzeit und aller fahrenden Menschen erfüllte und uns nun in ruhiger Fahrt durch die Ebenen und über die Hügel führte.“ (Amtsfahrt, S.9) Bereits in der Einleitung heißt es parallelisierend: „Hier stand Gunters Burg. Von hier aus zog Kriemhilde den Rhein und wird frohen Mutes hinter den Wäldern und Bergen die kleine Donau erspäht haben, die immer wachsend und zum majestätischen Strom aufschwellend sie nach Osten ins Land der Hunnen führte. Von dort aus waren auf der gleichen Straße die Helden von Bechelaren gezogen...So belebt sich diese alte Ostweststraße des Abendlandes hin und her mit wandernden Völkern...Der geheimnisvolle Name der Nibelungen liegt über der Landschaft im Westen und Osten und über ihrer großen Straße. Wie ein Schicksalsbogen umspannte das heldische Lied die beiden Marken des Reiches und begreift in dem Abrollen seines Geschehens die älteste und ewige Erfahrung unseres Volkes. Die alte Liebe brannte noch, als der Führer das Donauland ins Reich zurückführte und die schmerzliche Trennung aufhob, die den Ostwestraum auseinander hielt.“ (Amtsfahrt, S.7/8) Das ist der Illertsche Königstraum von Worms als Residenz auf einem Hügel und an einem Wegekreuz, das vornehmlich ostwestlich bewandert wird. Die Reichsautobahn als Fortsetzung der nibelungischen Wegeführung schafft damit auch eine gewisse Abstammungslinie Hitlers zu Karl dem Großen (Lorsch) und Gunter (Worms). Gleichzeitig vernetzen sich Worms am Rhein und die österreichische Geburtsheimat Hitlers an der Donau. Es deutet sich eine Origo-Erzählung an, wie sie im Mittelalter üblich war, um Herrschaft zu legitimieren. Es ist aber auch ein Kuckucksei, das Illert den Nazis ins Nest zu legen versucht: Worms als noch unsichtbare, geheimnisvolle Hauptstadt des neuen Königsreiches, des neuen Abendlands. Bis heute ist die Frage unbeantwortet, ob das kluge Berechnung war, um Wormser Interessen hoffähig zu machen, oder eher ein anbiedernder Brückenbau, um am neuen System teilzuhaben. Möglicherweise geht beides ineinander über. Vor 1945 schaltet sich Illert selbst gleich, nach 1945 gelingt ihm – wie vielen anderen Wissenschaftlern – eine Neudefinition der älteren Begriffe: Das Reich wird zum Reich der Sage und Märchen, das Abendland zu Europa, die Autobahn bleibt die Autobahn.

Ost-West-Kontakte und Wormser Nibelungenaktivitäten


Im Kurzbericht von Illert heißt es, aus der burgenländischen Landeshauptstadt Eisenstadt sei beim Abzug der Franzosen 1930 ein Gruß „von der Grenze des Ungarnlandes aus deutschem herzen nach Worms“ gesandt worden. Das war der erste heute bekannte Kontakt des damals entstehenden nibelungischen Netzwerkes. Der durchaus politische Gruß zurück erfolgte im März 1938: „Als der Führer endlich die Sehnsucht der Ostmark erfüllte und sie heimführte ins Reich, war es Worms, das seine Glück erfüllten Grüße an die Nibelungenstädte des alten Oestereich sandte und begeisterte Antwort von dort erhielt.“ (Kurzer Bericht, S.3) Die zweiten Nibelungenfestspiele, die vom 26.6. bis 4.7.1938 in Worms stattfanden und die Goebbels zur ständigen Einrichtung zu machen versprochen hatte, waren dann Anlass für Oberbürgermeister Bartholomäus, die österreichischen Nibelungenstädte zu den Festspielen einzuladen, wie er in der Sitzung des Stadtrates vom 17.6.1938 mitteilte. Außerdem habe er die Nibelungenstädte Xanten, Alzey und Lorsch eingeladen, heißt es weiter im Protokoll. Man erwarte die Gäste am Vorabend der Premiere (25.6.1938) zu einem Treffen. Am Sonntagmorgen solle dann eine Stadtführung erfolgen und abends nach dem Festspielbesuch ein empfang durch Gauleiter Jakob Sprenger im Cornelianum. Laut Kurzbericht von Illert fanden sich Vertreter von Eisenstadt, Hainburg, Pöchlarn und Traismauer in Worms ein. Die Wormser „Amtsfahrt ins Nibelungenland“ war also ein Gegenbesuch und erfolgte vom 18. bis 26. Mai 1939. Es ist zu vermuten, dass diese Kontakte eingebettet waren in das Netzwerk der NSDAP-Funktionsträger. So war der pfälzische Gauleiter Josef Bürckel von 1938 bis 1940 „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich“, danach bis 1944 „Reichsstatthalter der Westmarkt“ und „Chef der Zivilverwaltung“ in Lothringen. Der in Nieder-Flörsheim geborene Jurist Philipp Wilhelm Jung – ab 1931 NSDAP-Kreisleiter in Worms und 1933-35 hessischer Ministerpräsident, danach auf Hinwirken Bürckels Regierungspräsident in Saarbrücken – war von 1940 bis 1943 Bürgermeister von Wien.

Die „Amtsfahrt ins Nibelungenland“ 1939


„Am 18. Mai 1939 morgens früh um sieben Uhr traf sich die kleine Gesandtschaft zur Abfahrt: der Oberbürgermeister, der Beigeordnete, der Stadtarchivar, Hans, der lustige Spaßvogel, der nun Reisemarschall war, und der Fahrer.“ Amtsfahrt, S. 9) Teilnehmer waren also OB Heinrich Bartholomäus, der Beigeordnete Polizeidirektor Eichel, Stadtarchivar Dr. Illert, Reiseführer Hans Schambach und der Fahrer namens Schmitt.
Die Route führte am 18. Mai nach einem Mittagessen zur Übernachtung nach München, am nächsten Tag (19.5.) nach Salzburg mit einem Empfang im Rathaus und einem Besuch des Festspielhauses und danach nach Linz, wo man übernachtete. Am 20.5. präsentierte die Linzer Stadtspitze die von Hitler geplanten Um- und Ausbauten in der Stadt. Nach einem kleinen Abstecher nach Leonding, wo das Grab von Hitlers Eltern bis zu seiner Auflassung im März 2012 ein gern besuchter Ort der rechtsextremen Szene war, fuhr man nach Enns an der Grenze von Ober- zu Niederösterreich. Von dort fuhr man gegen Abend nach Wien und schnitt damit den Donaubogen mit den niederösterreichischen Nibelungenstädten ab, weil man zunächst zur ungarischen Grenze fahren wollte. In Wien wurde übernachtet und am 21.5. machte man sich auf den Weg nach Eisenstadt, der Landeshauptstadt des Burgenlandes, wo man übernachtete. Am 22.5. fuhr man nach Hainburg und besuchte auch das Dorf Rust in der Nähe des Neusiedler Sees. In Hainburg wurde übernachtet. Am 23.5. fuhr die Gruppe über Wien in die niederösterreichische Nibelungenstadt Tulln an der Donau und von dort aus nach Traismauer, wo man übernachtete. Am 24.5. ging es dann an der Donau entlang über Mautern und Melk nach Pöchlarn. Dort wurde übernachtet. Am 25.5. besuchte man als letzte Station in Österreich Eferding und kehrte nach einer Übernachtung am darauffolgenden Tag nach Worms zurück.
Fast überall wurde die Delegation, die als Gastgeschenke Farblithografien vom Wormser Marktplatz und Ausgaben des Nibelungenliedes mit sich führte, sowohl von der Stadtspitze als auch von örtlichen NS-Funktionären empfangen. Empfänge, Stadtrundgänge, Museumsbesuche, Essen und weinfröhliche Abende waren die Hauptpunkte des Programms. Über nibelungische Orte und touristische Kooperationen wurde offenbar selten gesprochen, wenn man Illert glauben kann, der an einigen Stellen passende Zitate aus dem Nibelungenlied in seinen Text einstreute. Es ging wohl eher um die politische Dimension und ein Kennenlernen im Zuge der „Wiedervereinigung“. Die Broschüre ist übrigens illustriert mit Federzeichnungen des Wormser Künstlers Richard Stumm, der an der Fahrt selbst allerdings nicht teilgenommen hatte.
Mit Blick auf Salzburg reichert Illert das nibelungische Wegekreuz mit Wormser Erinnerungsschätzen an: „Wir aber gingen durch die Stadt um einer fernen Erinnerung willen, die eine seltsame Heimatlichkeit hier aufweckte: vor vielen Jahrhunderten war Rupertus Bischof von Worms auf der Oststraße zu den Baivaren gezogen und hatte hier aus den Trümmern des römischen Imperium das Erzstift Salzburg gegründet und den Anfang für das berauschende Wesen bereitet, das uns jetzt umgab. Hier verlor sich schon die Reise in phantastische Weiten, auf der verwehte heimatliche Stimmen uns ansprachen.“ (Amtsfahrt, S.11/12) Was die Landschaft ebenfalls „berauschend“ machte, war offenbar „die hereinbrechende Luft des Südens.“ (Amtsfahrt, S.12), eine Mischung aus Föhn, mitteleuropäischer Italiensehnsucht und Okkupation der römisch-imperialen Reichstradition. Auf der Hohensalzburg steigt die Gruppe nach einem Blick in die Weite „in die Kerker, wo in der Leidenschaft der inneren Kämpfe vor fünf Jahren die Nationalsozialisten gefangne lagen: riesige Grüfte, die, wie der freundliche einarmige Burgführer erzählte, von Ratten wimmelten. Hier lagen die Gefangenen, deren Misshandlung bis zur Stadt hinunterdrang und den Fürstbischof zu einschreitender Hilfe veranlasste..“ (Amtsfahrt, S. 16/17) Die österreichische NSDAP kam vor 1933 auf bis zu 25 Prozent der Stimmen bei Gemeinderatswahlen. NS-Anhänger waren für eine Terrorwelle mit vier Todesopfern im Juni 1933 verantwortlich, die zum Verbot der Partei durch die Regierung führte. Konkreter Anlass war ein Anschlag mit Handgranaten in Krems. Auch in den Folgejahren kam es zu Putschversuchen seitens der NSDAP, zu Terroranschlägen und zu bewaffneten Auseinandersetzungen, so z.B. in Linz 1934. Die SS-Standarte 89 ermordete Dollfuß bei einem Putschversuch in Wien. Die Leidensgeschichte der Nationalsozialisten in Österreich vor 1938 muß also etwas differenzierter gesehen werden als es Illert hier berichtet.
In Linz ging es in erster Linie um die von Hitler geplante Stadtmodernisierung. Hier entwickelt Illert ein eher expressionistisch-futuristisches Pathos, das neben dem nationalromantischen Pathos und völkisch-rassistischen Elementen eines der drei Denkfiguren auch der nationalsozialistischen Ideologe darstellt: Wir sahen den Umbruch, „der sich hier vollzieht, weil hier in den enggebauten Stadtvierteln der Platz für die kühne Neugestaltung von Linz geschaffen werden muß. Wo die künftige Hauptstraße über die Donau führen wird – das Schild an der Baustätte trug in großen Lettern den vertrauten Namen „Nibelungenbrücke“ – gleicht die Stadt einem einzigen Trümmerhaufen, dessen Schuttmassen aus diesem Abbruchsvorhaben großen Ausmaßes stammen. Dampfkranen recken ihre Arme mit den Schaufelkästen auf und verladen die zusammengestürzten Mauern. Fassaden stehen noch, hinter denen keine Zimmer mehr liegen, hohle Attrapen, die in ein paar Tagen oder Stunden niederfallen werden und Platz machen dem Neuen, das der Führer in seiner Lieblingsstadt plant.“ (Amtsfahrt, S. 21/22) Dann begründet Illert, warum man zunächst über Enns nach Eisenstadt fährt und dann von Ost nach West zurück: „Leichter musste es sein, die schicksalsvoll beredte Straße in der Richtung von Osten nach Westen zu ziehen und eine Fahrt zu rüsten, die strahlende Heimkehr von der Donau zum Rhein verhieß und alle dunklen Erinnerungen ins helle glück wandte, so wie nach 1000 Jahren der Nibelunge Not sich ins Glück zu wenden anschickt.“ (Amtsfahrt, S.27) Offenbar war es Illert – wie übrigens vielen Parteimitgliedern und der NSDAP nahestehenden Wissenschaftlern – durchaus bewusst, dass sich das Nibelungenlied mit seinem Untergangsszenario schlecht als Nationalepos und noch schlechter als Vorbild für einen gelingenden Zukunftsentwurf eignete, wie er noch 1941 benötigt wurde. An der ungarischen Grenze ordnet Illert erneut die Beziehungen von Ost und West, Donau und Rhein. Da, wo die Donau nach Osten fließt, liegt „Etzels Reich“, „nach Westen aber...die unendliche Ebene der Donau, ein Bild, vertraut aus der westlichen Heimat, wo des Rheines Ebene zwischen den Bergen der Haardt und des Odenwaldes genau so groß und erhaben und stromdurchzogen vor uns liegt.“ (Amtsfahrt, S.44) Der Blick nach Osten ist mit einem Gewitter verbunden, das folgendes Bild auslöst: „In Trümmern von Hütten hausten auf den Bergen Zigeunerfamilien. Ein Steppenbild lag vor uns, im Regendunst endlos weit erscheinend und ließ uns Etzels Land ahnen. Votivsteine standen in den neblig-dampfenden Feldern wie verschleierte Gespenster am Wege, den mahnenden Wasserfrauen vergleichbar, die einst Hagen und die Burgunder warnten, während immer neue Blitze aufzuckten.“ (Amtsfahrt, S. 36) Aus dem Osten kommt Gefahr, im Osten liegt Gefahr. Ganz anders im Westen, die Donau wird sozusagen rheinisch eingemeindet, jedenfalls soweit sie österreichisch ist: „In einem wunderbar weiten und umfassenden Blick begreift man von dieser Höhe aus das Schicksal, das sich an Ströme und Berge kettet und die Völker in bestimmte Bahnen zwingt, die über weite Räume sich ausdehnen und im Osten widerhallen lassen, was im Westen geschah.“ (Amtsfahrt, S.44)
An den meisten Orten wurde die Delegation nicht nur von der Stadtspitze empfangen, sondern auch von den örtlichen Vertretern der NSDAP, so in Eisenstadt vom Kreisleiter und vom Kreiswirtschaftsführer (Kurzbericht, S.7), in Tulln und Mautern vom Ortsgruppenleiter, in Melk vom Kreisleiter und von einem Obersturmführer. In Eferding traf man mit August Kubizek einen „Jugendfreund des Führers“ (Kurzbericht, S. 12), der Briefe, Skizzen und Zeichnungen Hitlers präsentierte. Die Wachau wird zudem durch junge Frauen in Tracht vertreten, während im Burgenland mehr der Besuch von Museen das politische Programm ergänzt. Illert arbeitet in seiner literarischen Reiseschilderung vor allem am emotionalen Gleichklang der Wiedervereinigung. So heißt es vom Besuch in Mautern: „Das war mehr als ein Empfang fremder Gäste. Da flogen die Herzen einander zu vor so viel Freude und es mag ein seltsames Bild gewesen sein, als die Amtspersonen strahlenden Auges Arm in Arm mit den Jungen Wachauerinnen durch das sonnige Städtchen zogen. Als hätten tausend Jahre auf uns gewartet, war hier eine Bruderschaft im weiten Raum des Reiches zwischen West und Ost geschlossen.“ (Amtsfahrt, S. 56/57) Nur am Rande sei bemerkt, dass das Bild der Bruderschaft eine ganz eigene Betrachtung unter dem Aspekt des Männerbündlerischen von der Jugendbewegung um 1900 bis in den Nationalsozialismus hinein verdient hat und dass dies deshalb so augenfällig ist, weil die Bruderschaft zwischen Männern sich offenbar gründet über die körperliche Vermittlung der jungen Frauen, die dann allerdings keine inhaltliche Rolle mehr spielen: sie sind eben nur stumme und hübsch anzusehende Repräsentantinnen der Landschaftskultur.
Im Kurzbericht wird noch darauf hingewiesen, dass es noch in1939 einen Gegenbesuch aus Österreich gab, an dem Vertreter aus Eferding, Eisenstadt, Hainburg und Salzburg teilnahmen, vermutlich erneut zu den Nibelungenfestspielen, die 1939 zum dritten und letzten Mal zur NS-Zeit stattfanden. Laut Kurzbericht sollen weitere Besuche aber noch stattgefundne haben. Diese werden aber nicht genauer terminiert und beschrieben. Ein Kontakt aus Pöchlarn ist allerdings noch von 1942 bekannt: „Ab dem 7.2.1942 bemühte sich Bürgermeister Haas Farbvorlagen mit Motiven aus dem Nibelungenlied für die malende Altbürgermeisterin Wrann zu beschaffen, um mit den nach diesen Motiven gemalten Bildern den Ratsaal ausstatten zu können. Nach mehreren vergeblichen Versuchen bei verschiedenen Stellen, solches Material zu erhalten, schickte der Direktor der Städtischen Kulturinstitute Worms Dr. F.M.Illert 8 großflächige, künstlerisch wenig ansprechende Farbdrucke eines gewissen E. Mann dem Pöchlarner Bürgermeister zu.“ (Zatloukal)

Katholische Reichsvisionen als Brücke zum Nationalsozialismus


Der österreichische Kulturhistoriker Friedrich Heer schrieb 1949 in seinem Buch „Der Aufgang Europas. Eine Studie zu den Zusammenhängen zwischen politischer Religiösität, Frömmigkeitsstil und dem Werden Europas im 12. Jahrhundert“ mit Blick auf die mittelalterliche Reichsidee seit Karl dem Großen: „In seinem berühmten Sachsengesetz von wohl 785 werden jene Mittel genannt, die im folgenden Jahrtausend in den Kämpfen des fürstlichen Absolutismus, in Reformation und Gegenreformation, im 16., 17. 18. Jahrhundert, verschleiert im 19., brutal offen im 20. Jahrhundert, immer wieder angewandt werden, um das ein Reich zu bauen...Der Totalstaatsversuch Hitlers lässt sich nur von reichischen Bezügen her verstehen...Karl der Große ist der Erzvater des europäischen Totalstaats.“ (nach Faber, S. 29) 1969 hat Klaus Breuning in seinem Buch „Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929–1934) die Reichsidee als Brücke des Rechtskatholizismus zur konservativen Revolution herausgearbeitet. Richard Faber hat 1981 in seinem Buch „Roma aeterna“ gezeigt, dass die „Prussozentrik“ der konservativen Revolution, wie sie bei Armin Mohler 1950 beschrieben worden war, also sozusagen das Reich als politischer Mythos des kleindeutschen, preußisch dominierten Nationalprotestantismus, durch die Romanozentrik des Rechtskatholizismus ergänzt werden muß. Letzterer war großdeutsch, süddeutsch, rheinisch geprägt. Anselm Doering-Manteuffel fasst in seinem Aufsatz „Suchbewegungen der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik“ 2007 zusammen: „Das „Reich“: Dieses Motiv stellt das verbindende Element zwischen Protestantismus und Katholizismus dar, denn die „Theologie des Reiches“ wurde von einzelnen katholischen Autoren in klarer Bezugnahme zu protestantischen Theologen entwickelt...Im Katholizismus ging es darum, zwischen dem „Reich Gottes“ und dem „Reich des Volkes“, des deutschen Volkes, eine Verbindung zu schaffen. Damit erfolgte die theologische Überhöhung einer irdischen, politisch-völkischen Reichsvision zu einer übernatürlichen, heils-bedingten und heilschaffenden Größe.“ (Kraft/ Große Kracht, S. 195) Besonders deutlich wird diese Position in Person und Werk des Staatsrechtlers Carl Schmitt.
Auch der konservative Katholik Illert fand so Anschluss an Theorie und Praxis des nationalsozialistischen Staates. Seine Sprache machte es möglich, sich nach 1933 gleichzuschalten und nach 1945 unter Ausschluß der NS-Vokabeln weiter zu formulieren wie zuvor. Das Gerüst seiner Ideen blieb seit den 20er Jahren gleich. Er suchte Worms durch historische Erzählung in den Focus überregionalen Interesses zu rücken. Geblieben sind davon heute vor allem die Legende von der „ältestens Stadt Deutschlands“ und das Bild vom „Kreuzungspunkt der Weltstraßen“. (Bönnen S. 48) Für die Nibelungenwoche 1928 formulierte Illert, dass man damit „etwas schaffen müsse, was geeignet sei die Größe der Ereignisse in Worms, die Menschheitsbedeutung hätten, nicht nur in das Gedächtnis der Wormser, sondern in das weitester Kreise unseres Vaterlandes zurückzurufen“. (Bönnen, S. 45). Vor seinen Plänen zu Nibelungenfestspielen entwickelte er bereits 1934 die Idee, im Jahr 1936 aus Anlass des 1500. Jahrestag des Untergangs des Burgunderreichs (436) eine „Weltfeier der Völker germanischen Blutes“ (Bönnen S. 50) in Worms zu feiern. In einer programmatischen Rede anlässlich einer Kundgebung von Altertumsverein und Stadt am 12.4.1934 hatte er bereits den Anschluss an die NS-Ideologie herbeigeredet: „So behüteten wir das heilige Feuer der Heimat und rangen in der Tiefe unserer Seele mit dem Schicksal und dem Sinn dieser Stadt und glaubten an unser Volk...Die Rettung. Bis die braunen Heere Adolf Hitlers zum Einsatz kamen – ihre hellen Lieder, aus tausend jungen Kehlen gesungen, ihre hundert fliegenden Fahnen verkündeten Deutschland, nichts als Deutschland . Da kam ein Morgen, wie er vorher nicht gekommen war. Da waren wir nicht mehr allein, sondern das ganze Volk, wie durch ein Wunder geeint und verbunden zu einer gläubigen Nation, das ganze Volk war da und bereit, wie ein Mann einzustehen für die Heimat, nein selbst Heimat zu sein im Blut und im Geist...Wir waren Rufer seit Jahrzehnten...jetzt rufen wir in unsere Stadt: Wach auf, du große Stadt der Väter, wach auf du heilige Stadt des Reiches, wacht auf Wormser!...Das Ziel ist: Worms zu erfüllen mit der Erfahrung und dem Lebenswillen der Jahrtausende, unsere Gegenwart einzureihen in das große Werden der Stadt...Worms in seiner städtischen Kultur so zu stärken und zu entfalten, dass es wieder der gottgegebene Mittelpunkt seiner Landschaft sein kann...Als lebendige Stadt wollen wir uns einreihen in die Front der Erneuerung unseres Vaterlandes...und das große Vermächtnis unserer Stadt heimführen ins Reich.“ (Bönnen, S. 49/50) Reich wurde dabei im Rechtskatholizismus wie in der völkischen Ideologie als Großraum verstanden, der national, genauer gesagt deutsch dominiert ist. Nach 1945 trat der Reichsbegriff zurück und sein semantisches Feld wurde integriert in den Begriff Abendland mit seiner Opposition zum Morgenland, zum Orient, zum Osten und in den Europabegriff, der zunehmend sogar römisch-imperiale Konzepte integrieren konnte, die im Völkischen in den Hintergrund getreten waren. Eine genau Untersuchung zu Illerts Weltanschauung und Tätigkeit steht noch aus. Das gilt ebenso für seinen etwas jüngeren, nationalprotestantischen Zeitgenossen Walter Hotz. Und damit für die Einordnung der Wormser Kulturpolitik nach zwischen 1945 und 1968, zunächst einmal.

Und heute?


Als Brücke zur Frage, welcher Deutungsmuster sich die städtische Kultur heute bedient, soll zunächst ein Blick auf Carl Zuckmayer geworfen werden, der sich in seiner Henndorfer Zeit ja durchaus sowohl mit großdeutschen Zeitgenossen als auch mit Ständeutopien des Austrofaschismus anzufreunden versuchte, sozusagen als kleineres Übel und größere Perspektive über die Zeit. Auch in der Emigration hat Zuckmayer die deutsche Identität gegenüber ihren radikalen Kritikern wie etwa Erika Mann zu retten versucht und hat sich dabei ganz bestimmter Bilder und Erzählungen typisch südwestdeutscher Provenienz bedient. Es waren alles Bilder individueller Freiheit, republikanischer Orientierung und einer Mischung von Religionen und Kulturen, die er in räumliche Verbindung mit Flusslandschaften bringt. So schreibt er in seiner Autobiografie: „Es sind die Ströme, die die Länder tragen und die Erde im Gleichgewicht halten, da sie die Meere miteinander verbinden und die Kommunikation der Weltteile herstellen. Im Stromland ist es, im Schwemmland..., wo die Völker sich ansiedeln, wo ihre Städte und Märkte, Tempel und Kirchen erstehn, wo ihre Handelswege und ihre Sprachen sich begegnen. Im Strome sein, heißt, in der Fülle des Lebens stehn.“ (Zuckmayer, Als wär’s, S. 110/111) Verbunden mit dem Lob der Mischung, die anders als das Reine das Beste hervorbringt, wie es Zuckmayer in „Des Teufels General“ auf den Punkt bringt, ist das ein Hochgesang auf das Fließen, das sich Öffnende, das Verschmelzen, das sich Begegnen, das Verstehen, und zwar als Hochgesang auf das Leben. Solche Bilder findet man z.B. auch im berühmten Rheinbuch des französischen Historikers Lucien Febvre. Oder beim elsässischen Literaturwissenschaftler Robert Minder. Hier überwiegt auch das förderale, regionale Element des Denkens gegenüber dem zentralistischer Metropolen. Als typisch deutsch wird neben der Mischung, der konsensualen Ordnung der Interessen und eben dem Förderalismus mit Blick auf Aufklärer wie Montesquieu der Freiheitsbegriff apostrophiert. All das muß man beachten, wenn man die „alten maeren“ neu erzählt. Man erzählt nicht im luftleeren Raum. Nicht nur die Erzählungen und Bilder der Eltern und Großeltern sind präsent - oft ohne es zu wissen -, sondern auch ältere Identitätsmuster von Stadt und Landschaft wie auch Grundbedürfnisse nach sozialer Orientierung in den jeweiligen Lebensaltern. Und daher ist es auch keineswegs akademisch – im negativen Sinn -, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Es ist - ganz im Gegenteil – höchst aktuell und wirksam in Gegenwart und Zukunft, mithin bewusstseinsbildend. Ohne das Denken wird man erlebt, mit den Denken kann man erst wirklich erleben.


Literatur


Klaus Zatloukal, Pöchlarn und die Nibelungen, Pöchlarn 1991 (ohne Seitenzahlen)
Gunther Nickel/Ulrike Weiß, Carl Zuckmayer 1896-1977 „Ich wollte nur theater machen“, Marbacher Katalog 49, Marbach 1996
Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, Frankfurt 1969
Friedrich Maria Illert, Amtsfahrt ins Nibelungenland, Worms 1941
Freidrich Maria Illert, Kurzer Bericht, StaWo Abt. 208 Nr. 2
Gerold Bönnen, Nibelungenstadt, Nibelungenjahr, Nibelungenfestspiele, in : Ein Lied von Gestern?, 2.Auflage Worms 2009, S. 37 - 82
Richard Faber, Lateinischer Faschismus, Berlin 2011
Anselm Doering-Manteuffel, Suchbewegungen der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik, in: F.W.Graf/K. Große Kracht, Religion und Gesellschaft, Köln 2007
Ratsprotokolle StaWo 5/6358 (SR 1.4.37 – 31.3.39)