Die Sage
vom Ursprung
Selbsthass und seine Folgen

von Volker Gallé

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Flucht aus Troja, Elsheimer, um 1600 ..


Zunächst einmal will ich sagen, über was ich nicht reden werde. Ich werde nicht davon reden, dass die deutsche Erinnerungskultur nach 1945 mit ihrem Focus auf dem Völkermord des deutschen NS-Staates, insbesondere an den Juden Europas, dass diese deutsche Erinnerungskultur Selbsthass sei und ein Ende haben müsse. Es handelt sich dabei nämlich nicht um Selbsthass, nicht nur weil diese notwendigerweise erschütterende Erinnerung oft nur ritualisiert daherkommt und die darunter liegende Seelenverfassung gar nicht zu Tage tritt, sondern vor allem weil es sich dabei um einen Dialog mit den Toten handelt, dessen Ende oder sagen wir besser dessen friedliches Ruhen nicht von den Lebenden, sondern von den Toten bestimmt wird, deren offene Fragen nach wie vor – ob man es will oder nicht – in Dingen und Seelen verhakt sind. Dass es dabei nicht um Kollektivschuld geht – schuldig kann nur eine handelnde Person sein, auch im Nicht-Handeln – versteht sich von selbst. Es geht um Erinnerung und Aufklärung, um das Wissen, was geschehen ist, um das Fühlen, was getan wurde und um das Verstehen, warum es geschehen ist. All das ist noch immer auf heftige Art und Wese lebendig.
Eher geht es schon um die deutsche Unsicherheit zu sagen, was eigentlich deutsch ist, die gern Leerstellen lässt und sich Identitäten borgt statt sich um eigene zu mühen und zu bemühen. Das legere, weltoffene Feiern der WM mit den Nationalfarben bedeutet da weder Entwarnung noch Rückfall; schließlich ist Fußball ja nur ein Spiel, und dazu gehören eben Begeisterung, Feier, aber auch Fairness, immer eine sportliche Leistung im Blick. Und Party macht zwar Spass, ist aber eine seit Jahrhunderten weltweit übliche Form der Freizeitgestaltung, mithin global. Das sind die Phänomene, die ich im Folgenden betrachten will auch: die deutsche Identität ist in diesem Zusammenhang eine besondere Variation allgemein menschlicher Phänomene, etwa in dem Sinne wie es Johann Gottfried Herder in
seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ gesehen hat: „Es ziehet sich demnach eine Kette der Kultur in sehr abspringenden krummen Linien durch alle gebildeten Nationen.In jeder derselben bezeichnet sie zu- und abnehmende Größen und hat Maxima allerlei Art. Manche von diesen schließen einander aus oder schränken einander ein, bis zuletzt dennoch ein Ebenmaß im Ganzen stattfindet.“

Um was geht es also?
Zunächst um die Suche nach dem Ursprung. „Woher kommen wir?“ ist neben „wer sind wir?“ und „wohin gehen wir?“ eine der drei philosophischen Grundfragen, man könnte sagen: es sind die drei Fragen nach dem Menschen, die der Wissenschaft und der Religion überhaupt zugrunde liegen. Das „Woher“ tritt dabei einmal als Frage nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip auf – im Vordergrund steht also der Grund einer Sache, nicht etwa ihr Zweck oder ihr Sinn, und zwar der erste Grund, der Ur-Grund, wie das Wort Ur-Sache ja selbst erzählt und damit eine Kette von Gründen in Richtung Vergangenheit eröffnet -, zum anderen betrifft das „Woher“ die Abstammung des Menschen, also sein Verhältnis zu seinen Ahnen, bis hin zur Schöpfung als erstem Grund. Dass dies für den Einzelnen von Bedeutung ist, hat beispielsweise das BVG im Rahmen der Debatte um die Babyklappe in einem Grundsatzurteil 1989 festgestellt und dabei das „allgemeine Persönlichkeitsrecht“ (Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs.1 GG) so definiert, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit u.a. die Kenntnis der eigenen Abstammung voraussetzt, weil soziale und biologische Herkunft im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für Indiviudalitätsfindung und Selbstverständnis einnehmen. Und was für die individuelle Identität gilt, gilt auch für kollektive Identitäten. In seinem Buch „Sehnsucht nach dem Ursprung“ (1989) beschreibt der Religionsphilosoph Mircea Eliade ebendiese Sehnsucht als universelle Konstante menschlicher Kulturen und in seinem Vortrag „Der starke Grund zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes“ (1998) stellt der Philosoph Peter Sloterdijk fest, dass in den drei Feldern von Arbeit, Sprache und Fortpflanzung „die primären ethnogonischen Prozesse stattfinden, aus denen alle historischen Kollektive hervorgegangen sind.“ (S.46)
Das Modell für Gesellschaft ist also die wie immer auch geartete Familie, und zwar in ihrem Rückbezug auf die Vorfahren, Ahnen. In Stammeskulturen und frühen Gesellschaften bis ins Mittelalter hat sowohl das Modell Familie Gesellschaft und Staat dominiert als auch die Frage „woher kommen wir?“, während seit der frühen Neuzeit in von Europa und der USA kulturell dominierten Gesellschaften immer mehr der Einzelne und die Frage nach dem „was bin ich?“ und dem „Wohin?“, wenn auch stärker säkular, in den Mittelpunkt gerückt sind. Das heisst nun nicht, dass die älteren Modelle keine Rolle mehr spielen würden, sie sind nur in den Hintergrund gedrängt, teilweise sogar mit Tabus belegt, wiewohl sie nach wir vor – vor allem im Alltagsgebrauch – wirkmächtig sind, durch ihre Tabuisierung teilweise sogar noch wirkmächtiger, auch destruktiver als früher, weil unbenannt und unerkannt.
Die Abstammungslinien der Familien, Sippen, Clans können nun patrilinear oder matrilinear ausgerichtet sein; in unserer Kultur dominiert die patrilineare Sukzession, und zwar mit Bezug auf einen Stammvater. Sie kennen das aus den antiken und biblischen Mythen, aber sie finden das auch überall in den Ortschroniken Rheinhessens und anderer Landschaften, wenn z.B. bei den Orten mit der Endung –heim, also fränkischen Gründungen aus dem 6./7.Jh. n.Chr., aus dem Ortsnamen ein urkundlich selten belegter adliger Ortsgründer destilliert wird, also Maucho in Mauchenheim usw. Dabei wird meist bereits völlig übersehen, dass der Ortsname in frühmittelalterlicher Zeit anders lautete. In Schöpfungsmythen wird die Rolle des Stammvaters meist von einem Kulturstifter übernommen, einem Heros, der – wie z.B. Prometheus - das Feuer gebracht hat. In Riten wird seine heilige Ursprungshandlung wiederholt und damit die Kraft des Ursprungs in die Gegenwart hinein übertragen, eine Sukzession des Heiligen sozusagen. In schriftlosen Kulturen übernehmen heilige Dinge und Riten, also Formen, diese Funktion der Überlieferung, in Schriftkulturen rückt das geschriebene Wort in diese Position, mit genau der gleichen Ausstattung an auratischer Wirkung. Hartmut Böhme schreibt in seinem Buch „Fetischismus und Kultur“ (2006): „Die Welt ist durchzogen von Kraftströmen, durch die alles wird, was es ist, und alles anders wird, als es ist. Teils formieren die Magier die Dinge, teils haben die Dinge selbst innere Kräfte, wodurch sie sich behaupten und in die Welt wirken, teils partizipieren sie an übergeordneten Kraftströmen, die durch sie hindurch gehen“ (S.233) Diese Lebendigkeit der Welt ist gemeint, wenn es im 6. Vers des Nibelungenliedes von den Burgunderkönigen heisst: „Ze Wormez bi dem Rine si wonten mit ir kraft.“ oder wenn wir heute vom Charisma einer Person sprechen, Starkult treiben oder in einer Sammelleidenschaft – auch in den großen Ausstellungen der Museen - Vergangenheit neu inszenieren. Die damit einhergehende Verheiligung von Dingen und Lebewesen ist einerseits unmittelbar erfahrbare Realität, zum anderen birgt sie wie das Heilige überhaupt die Gefahr der Gewalt durch Ausschließung von Kult, Ritus, Überlieferung, Abstammung etc. Und in der Tat gibt es eine kulturelle Tendenz, den Kulturheros/Stammvater und seine Sukzession mit einer auschließenden Dignität/Würde auzustatten; Fremde sind dann Barbaren, Nicht-Menschen, der Stolz aufs Eigene entsteht. Dieser Vorgang war und ist weit verbreitet, ist aber keineswegs eine zwangsläufige Begleiterscheinung von Vitalismus und Sukzession, wie es die aufklärerische Kritik gerne glauben machen möchte. Hartmut Böhme konstatiert zunächst einmal, „dass in der Moderne vormoderne Formen und Institutionen der Magie, des Mythos und Kultus, der Religion und der Festlichkeit aufgelöst werden, ohne dass die darin gebundenen Energien und Bedürfnisse zugleich aufgehoben wären – sie werden vielmehr freigesetzt und flottieren durch alle Systemebenen der modernen Gesesllchaften.“ (S.22) Die Perspektive des naturwissenschaftlichen Experiments und in ihrer Folge die Behauptung, vitalistische Konzepte seien antropomorphe Projektionen des Subjekts ist eben auch nur ein Auschnitt, bzw. eine mögliche Interpretation von Wirklichkeit und wird den Phänomenen keineswegs gerecht; zudem benutzen auch ihre Protagonisten wie z.B. Marx und Freud ihrerseits im Grunde mythische Welterklärungen, sei es bei der Beschreibung der Urgesellschaft oder bei der Konstruktion des Ödipuskomplexes.
Eine besondere Form kollektiver Identität, die uns heute beschäftigt, ist die Nation. Auch wenn das Mittelalter den Nationalstaat noch nicht kannte, der Sprache, Territorium und – zumindest in Deutschland – Abstammung miteinander verknüpfte, so gab es dennoch, die Antike fortführende Ursprungsmythen, welche die in der Spätantike und im frühen Mittelalter sich bildenden neuen Personenverbände legitimieren und an einen ersten Ursprung anknüpfen sollten. Jörn Garber schreibt in seinem Aufsatz „Trojaner – Römer –Franken – Deutsche. Nationale Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung“ (in: Klaus Garber, Nation und Literatur im Europa der frühen Neuzeit, Tübingen 1989, S. 108 ff.): „Das „natio“-Bewußtsein rekurriert oft auf lineare gentile Ableitungsformen von Geschichte und tilgt tatsächliche Stammesverschmelzungen und Stammesüberlagerungen. Dieser genealogisch konstruierte Vereinfachungsprozess von Geschichte geschieht mittels einer gentilen, „nationalen“ Abstammungshypothese, die lediglich die Selbstdeutung von Stammesgeschichte reflektiert und damit Auskunft über kollektive Willensbildungsprozesse gibt...Diese Selbstdeutung trägt oft die Züge des Fiktionalen...Die antike Geschichte wird auf die Gegenwart ausgerichtet, indem der Einbruch zwischen Antike und mittelalterlicher Herrschafts- und Volksgeschichte durch Abstammungsgenealogien mit fiktivem Kern geschlossen wird. Die Abstammungsgemeinschaft ist das zentrale Legitimationstheorem der mittelalterlichen Geschichtsschreibung...Wenn die Gründungsväter einer Stadt, einer Dynastie oder eines Volkes an die älteste Schicht der Urgeschichte angeschlossen werden können, dann werden konkurrierende politisch-rechtliche Ansprüche anderer Geschlechterverbände durch das Prinzip der Unübertrefflichkeit der Herkunft ausgeschlossen. „ (S. 111 und 116)
Ob Goten, Franken, Alemannen oder Burgunder – all das waren keine Völker im Sinne der Nationalstaatstheorie des 19. Jahrhunderts. Es handelte sich zunächst um Kriegerverbände, deren Anführer Soldaten aus ganz unterschiedlichen Kulturen rekrutierten; diese stellten sich teilweise den Römern als Söldner zur Verfügung. Sobald sich die Barbarenkönige aber, so Patrick Greary in seinem Buch „Europäische Völker im frühen Mittelalter“ (2002) „in den ehemaligen römischen Provinzen etabliert hatten, waren sie bestrebt, die kulturell disparaten Angehörigen ihrer Armeen in ein homogenes Volk zu transformieren, ihnen ein gemeinsames Gesetz zu geben und sie in einem gemeinsamen Identitätsgefühl zu einen.“ (S.124) Schließlich beerbten die Franken das römische Reich und damit auch dessen trojanischen Ursprungsmythos.
Seit Hesiod gibt es die Lehre von den Weltaltern, bzw. Weltreichen. Es sind vier: das goldene, paradiesisch mit Frieden, Jugend und ewigem Frühling, das silberne, das eherne und das eiserne. Mit Letzterem, der Zeit des römischen Imperium, endet die Geschichte im Verderben, ein Geschichtskonzept mit zunehmendem Rückschritt, das dem Konzept der Aufklärung mit zunehmendem Fortschritt, also dem Konzept auch unserer Zeit, diametral entgegensteht. Zwischen ehernem und eisernem Weltalter liegt die Zeit der Halbgötter, die am Kampf um Troja teilgenommen haben und durch Zeus Hilfe entkommen sind auf die „seligen Inseln“. Wer also an die Zeit Trojas anknüpft, so Jörn Garber, „hat Teil an der heroischen Zeit, bevor die Geschichte ihrem Verderben entgegeneilt.“ (S.121) Deswegen leitet sich der römische Ursprungsmythos von Troja ab und deswegen knüpft das Mittelalter an das römische Reich und seinen Ursprungsmythos unmittelbar an, also nicht nur um Herrschaft zu legitimieren, sondern vor allem um den Untergang der Welt aufzuhalten und die Phase des letzten Weltreiches zu verlängern. Die Lehre von den Weltreichen hat neben der römischen und christlichen Tradition auch die jüdische Apokalyptik beeinflusst und war damit in der Geisteswelt der Antike ominpräsent. Die Sage vom trojanischen Ursprung, Teil der mittelalterlichen Chroniken und damit der Geschichtsschreibung, wurde nicht nur von den Franken übernommen und für ihre Zwecke genealogisch modifiziert, sondern auch von anderen europäischen Völkern, so den Vandalen, Normannen, Dänen und Briten; hineingeflochten wurde der biblische Mythos vom Stammvater Noah und der Entstehung der Sprachen nach dem Turmbau von Babel. Der Reichsmythos wurde über die Karolinger gesichert, von Barbarossa durch die Heiligsprechung Karls des Großen in die Stauferzeit hinübergerettet und spaltet sich dann in den deutschen und den französischen Zweig der Karlssage. Die Reichsschwächung im späten Mittelalter drängt die Trojasage in den Hintergrund. Der deutsche Humanismus hat sich mit der Kritik aus Italien auseinanderzusetzen, die Goten, d.h. die germanischen Barbaren, seien für den Untergang Roms und damit der „litterae“, der schriftlichen Überlieferung der Welt verantwortlich. Dagegen wird ein positiver Germanenmythos entwickelt; nach dem Vorbild des Tacitus, der jetzt wiederentdeckt wird, überwältigen die freien und ursprünglichen Germanen die dekadente Zivilisation des späten Rom, die klassische Technik der Überbietung, wie sie bereits weiter oben geschildert wurde. Ulrich von Hutten hat Arminius erstmals zum Helden dieses Mythos gemacht. Beibehalten wurde die genealogische Ableitung, die Germanen häufig mit den Griechen gleichgesetzt. Hier liegt auch der Ursprung des deutschen Philhellenismus seit dem 18. Jahrhundert. Durch die Dominanz der Schriftkultur und ihrer Überlieferung sowie die Zerstörung oraler und bildlicher Traditionen der schriftlosen Kulturen durch die christliche Kirche konnte man den Germanenmythos nur aus dem Blickwinkel der griechischen und vor allem römischen Quellen konzipieren, also sozusagen aus zweiter Hand. Eine Rekonstruktion der zerstörten und verballhornten, bzw. ins Sprachlose gedrängten Reste der schriftlosen Kultur ist bis heute schwierig, u.a. weil ihr Theorie und Methoden weitgehend fehlen. Der bessere Teil des neuen humanistischen Germanenmythos ist zweifellos die Verknüpfung der germanischen Freiheit, also einer im paradiesischen Naturrecht lebenden Stammeskultur von edlen Wilden, wie sie später auch von der Aufklärung bei den Irokesen oder in der Südsee imaginiert wurde, mit dem griechischen, aber vor allem römischen Konzept der Republik, das sich vor allem in der deutschen Kommunebewegung fortsetzte und später in dne Ideen der Mainzer Republik und der Achtundvierziger. Dieser Anteil wird jedoch überdeckt durch das Festhalten am schwächelenden Reichsmythos und der Aufladung mit rebellischer Wut aus dem Milieu der Modernisierungsverlierer, insbesondere der Reichsritterschaft um von Sickingen und von Hutten. Das sind die Bausteine dessen, was Helmuth Plessner als „verspätete deutsche Nation“ oder Hans Magnus Enzensberger als Schreckenszenario radikaler Verlierer skizzieren. Parallel zum Germanenmythos behielt allerdings die Habsburger Dynastie den Trojamythos bis ins 16. Jahrhundert bei – eine zersplitterte Landschaft der Ursprungsmythen insbesondere im Deutschland der Neuzeit also.
Neben dem trojanisch-römischen Ursprungsmythos war auch der biblische Mythos prägend für die Definition kollektiver Identität im Mittelalter. Hier ging es vor allem um die Fragen der Ethnogenese und Sprachenvielfalt nach dem Turmbau zu Babel und der Rückbesinnung auf eine universelle Ursprache, die man weitgehend mit dem Hebräischen als der heiligen Sprache der Bibel gleichsetzte. Damit verbunden war die Dominanz der Buchreligion und damit der Wissenschaftstradition mit ihrem vorrangigen Bezug auf schriftliche Quellen und eine hermeneutische Methodik der Quellenauslegung. Auch hier gab es seit dem Sturm und Drang deutsche Gegenentwürfe, die der deutschen Sprache eine Nähe zur Ursprache – verbunden mit einer positiven Beurteilung schriftloser Kulturen – zuschrieben. In ihrem Buch „Arbeit am nationalen Gedächtnis“ (1993) verweist Aleida Assmann sogar auf das erstmals von Goethe angedachte Projekt eines deutschen Volksbuches, das wie die Bibel in der jüdischen Tradition deutsche Identität konstituieren sollte und schließlich 1905 in Wilhelm Schwaners wenig erfolgreichem Projekt einer auf völkische Inhalte geschrumpften „Germanen-Bibel“ eine Fortsetzung fand. Man orientierte sich also auch hier – wie beim Trojamythos - an kulturell dominanten Konzepten bekannter Kulturen und tauschte lediglich die Inhalte aus.

Auch wenn die Bausteine der Ursprungsmythen verschieden sind, sei es bei Marx oder bei Freud, bei Ulrich von Hutten oder Goethe, im Darwinismus oder im biologistischen Rassismus – und auf die inhaltlichen Bausteine kommt es natürlich ebenso an wie auf die Form -, so ist doch auf jeden Fall festzuhalten, dass die Sage vom Ursprung bis heute eine ungebrochen starke Wirkung auf Menschen hat und aus der Konstruktion kollektiver Identitäten nicht wegzudenken ist. Aleida Assmann hält fest: „Die Frage nach den Ursprüngen ließ sich nicht so einfach beseitigen, wie es die Aufklärer und Emanzipationswilligen gehofft hatten. Herkunftsdenken und Origo-Konstruktionen kehrten mit Vehemenz zurück. In dem Maße, wie die Werte der Herkunft und Abstammung wieder zur Geltung kamen, verlor die aufklärerische Bildungsidee an Zustimmung. Patriotismus kippte um in Nationalismus, das Autonomie-Ideal in kollektive Bildungsbereitschaft, Selbsterziehung in normatives Deutschtum.“ (S.88) Was historisch richtig beschrieben ist und auf dem Hintergrund einer Zeitenwende vom Jahrtausende alten Leitbild der Rückbindung zum Leitbild des Fortschritts auch mehr als nachvollziehbar erscheint, ist meiner Meinung nach aber im theoretischen Ansatz selbst allzu sehr der nicht dialektisch betrachteten Fortschrittsideologie verhaftet. Erst in neueren Versuche wie Hartmut Böhmes „Fetischismus und Kultur“ wird deutlich, dass die Moderne ohne eine eigene Theorie des Woher, also der Frage nach Herkunft und Schöpfung, und eine phänomenologische Bewußtseinsbildung der seelisch-geistigen Energien, die in Dingen und Personen stecken, propagandistischer Willkür ausgeliefert ist.
Das schlägt die Brücke zur Frage des Selbsthasses und seiner Folgen. Das Nicht-Wissen nämlich um schriftlose Überlieferung, ihre Formen, ihre Verballhornungen und ihre Verdrängungen kann den durch erzwungene Anpassung geschürten Selbsthass leicht in Überbietungsphantasien und Fremdenhass umschlagen lassen. Boris Groys hat in seinem Vorwort zu Theodor Lessings erstmals 1930 erschienenem Buch „Der jüdische Selbsthass“
versucht, als Parallele zu Lessings Konzept einen europäischen Selbsthass zu beschreiben und damit den tief sitzenden und auf den nüchternen Beobachter irreal wirkenden Antisemitismus zu erklären: „Natürlich war Europa sich in tiefster Seele stets bewusst, dass es seine Kultur aus zweiter Hand hatte, übernommen von einem anderen Volk. Daher rührt auch der hysterische Antisemitismus der Europäer, der wenig zu tun hat mit jener mäßigen Gereiztheit und Missgunst, die ein Volk einem anderen gewöhnlich entgegenbringt...Aus den Tiefen der europäischen Seele steigt der Antisemitismus stets dann auf, wenn diese Seele in sich selbst nicht den geistigen Ursprung jener Kultur findet, zu der sie sich bekennt und die sie nur deshalb ihr eigne nennt, weil sie keine andere Kultur hat...Die Europäer sind immer nostalgisch und in ihrer Nostalgie aggressiv, weil sie jene Heimat, nach der sie sich sehnen, nie hatten – diese Heimat gehört einem anderen Volk, gehört den Juden. Kehrt der kulturbewusste Europäer seinen Blick tief nach innen, so findet er dort einen anderen – den Juden. Außer dem Juden existiert in der Seele des Europäers nur das reine Nichts, die aggressive Ödnis – ein Erbe jener öden Wüsten Asiens, aus denen die Europäer wie aus dem Nichts, aus der historischen Bewusstlosigkeit kamen, um sich Fremdes anzueignen.“ (XVIII/XIX) Wie ich oben gezeigt habe, ist es nicht nur die jüdische Tradition, die substantieller Teil der europäischen und mithin der deutschen Kultur ist, sondern auch die antike Traditon. Nicht nur insofern formuliert Groys überspitzt. In der Form noch mehr als im Inhalt dominiert in unserer Kultur, wie Groys richtig spürt, die Tradition der Buchreligion mit ihren Tabus, auch im Säkularen. Aber natürlich gibt es auch die Überlieferung der eigentlich schriftlosen Kulturen, sei es in Quellen der Antike, sei es in der kollektiven Erinnerung der Familien, sei es in Bildern und Verhaltensweisen, sei es in durchaus globalen Strukturen wie denen des Personenverbands. Es ist daher weder sinnvoll, das deutsche wie das europäische Erbe per Leitbild auf jüdisch-christliche und evtl. noch antike Tradition zu beschränken, vielleicht sogar im missionarischen Eifer, noch ist es sinnvoll, überbietende Gegenentwürfe dazu zu konstruieren, schon gar nicht wenn man die Formen der Schriftkultur imitiert. Die deutsche Identität – als ein Teil der europäischen Identität – basiert auf einer Mischkultur, deren Elemente zunächst einmal phänomenologisch unvoreingenommen wahrgenommen werden können, seien sie schriftlichen oder anderen Überlieferungsformen verdankt. Die Leistung besteht gerade in der Fähigkeit zur Akkulturation, zur Neuschöpfung, zum bewussten Spiel und neuer Zielsetzung der Bausteine jeglicher Überlieferung. Deutschland als sprachlich-kulturelle und politische Gemeinschaft in der Mitte Europas hat diese Funktion der Vermittlung stets in besonderem Maße geleistet und war auch dann, wenn dies glückte, Beispiel und Anreger für andere Kulturen. Es gibt genügend Bilder und Vorbilder für diese Rolle in der deutschen Kulturgeschichte: die Idee der deutschen Freiheit im republikanischen Sinne, die Idee der pädagogischen Provinz in der deutschen Klassik, die Utopie von der Gynaikokratie, also der Herrschaft der Frauen, um nur einige zu nennen. Und insbesondere die Burgunder – durch das Nibelungenlied und seine Rezeption zum Teil deutscher Identität geworden - haben hier Beispielhaftes geleistet. In seinem Burgunderbuch (2004) schreibt Reinhold Kaiser, je nach Perspektive des Historikers werde die Geschichte der Burgunder als misslungene germanische Reichsgründung oder aber als gelungener Assimilationsprozess beschrieben. Gregor von Tours schrieb um 500. König Gundobad habe „unter den Burgundern mildere Gesetze aufgerichtet, dass die Römer nicht von ihnen unterdrückt würden.“ (nach Kaiser, S. 207). Ist also der Untergang der Burgunder in Wahrheit ein Bild gelungener Integration, aus dem in der Geschichte keine politischen, aber doch viele kulturelle Impulse erwuchsen, denkt man an Cluny, an Citeaux oder an die höfische Kultur des Spätmittelalters in Burgund, schließlich an die immer noch fesselnde Dramaturgie des Nibelungenlieds? Genau das haben diese Reiter aus den keinewegs öden und kulturlosen Steppen Asiens fertig gebracht: kulturelle Verschmelzungsprozesse, die im stets neuen Versuch Innovation möglich gemacht haben, eine allemal lohnende Alternative zu den aggressiven Leitbildern ausschließender und hierarchisierender Ursprungsmythen, seien sie geliehen oder als nationale Gegenentwürfe neu konstruiert.