Märchenhafte Motive
der Nibelungensage



Ein Vortrag von Eichfelder

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Die Walküre, J. T. Fantin-Latour, 1877 ..



Im Nibelungenlied begegnen wir diversen märchenhaften und mythischen Motiven, wie z.B. dem Drachenkampf, Begegnungen mit Riesen, Zwergen und weissagenden Meerweibern, aber auch zauberhaften Dingen wie der Hornhaut Siegfrieds oder der Tarnkappe.

Der Dichter des Liedes wahrt dennoch eine nicht zu leugnende Distanz zu dem Phantastischen … und reduziert den größten Teil dieser Elemente (wie z.B. den Drachenkampf, die Hürnung und den Horterwerb) auf wenige Zeilen zur Beschreibung Siegfrieds beim Einzug in Worms. Darüber hinaus verwendet er die märchenhaften Züge nur dann, wenn sie für den Verlauf der Handlung zwingend erforderlich sind (wie z.B. die Tarnkappe bei der Brautwerbung und in der Hochzeitsnacht).
Der überwiegende Teil der Märchenmotive im Nibelungenlied knüpft an die Vorgeschichte Siegfrieds, seine Jugendtaten, die Lehre beim Schmied, der Drachenkampf und schließlich die Erweckung der sich im Zauberschlaf befindlichen Jungfrau; eben jene Stationen des sagenhaften Helden, die im Nibelungenlied nur sehr knapp oder gar nicht behandelt werden.
Weitaus ergiebiger sind diesbezüglich andere Nibelungenüberlieferungen, insbesondere sind hier die Edda, die Völsungensaga, die Thidreksaga und das – allerdings erst aus dem Spätmittelalter stammende – Lied des Hürnen Seyfrid zu nennen.
Mit Ausnahme des zuletzt genannten Seyfridliedes entstammen diese Sagas, auf deren Inhalte ich noch zu sprechen kommen werde, der Zeit zwischen 1000 und 1300 n. Chr., d.h. sie sind maximal 1000 Jahre alt.
Um Ihnen die Zeit-Dimension märchenhafter Erzählungen zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen eine Episode aus dem Batamärchen umreißen, es wurde etwa um 1200 v. Chr. in Ägypten aufgezeichnet. Es ist das in unserem Zusammenhang älteste Märchen und lässt sich bis zu den Hethitern zurückverfolgen, einer der frühen indoeuropäischen Hochkulturen Kleinasiens:

Die Geschichte handelt von einem Helden, der einem Drachen begegnet, welcher ein wunderschönes junges Mädchen bewacht, der Held tötet den Drachen und heiratet das Mädchen.
Eine andere Variante des Märchens berichtet, dass das schöne Mädchen über die Maßen stark ist und den Held in einen verzauberten Wald lockt, wo er gegen verschiedene Ungeheuer kämpfen muss und schließlich auch gegen sie. Nachdem er die starke Jungfrau besiegt hat, wird sie seine Gemahlin.

Dieses 3200 Jahre alte Märchen erinnert schon sehr stark an manche Züge der Nibelungensage, die ich Ihnen im Folgenden knapp umreißen möchte, um sie den überlieferten Märchen vergleichend gegenüberzustellen:

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Die Völsungensaga beginnt mit der Geburt Sigurds (dem Siegfried der nordischen Sage). Der gerade geborene Held wird einem Fluss überlassen und von einer Hindin, also einer Hirschkuh aufgenommen, die ihn säugt. Nach einem Jahr findet der Schmied das Kind und nimmt es an Sohnes statt an. Die Lehre beim Schmied ist (mit Ausnahme des Nibelungenliedes) in quasi allen Nibelungen-Überlieferungen dokumentiert. Deutliche Parallelen hierzu finden sich auch u.a. in den Märchen vom Typ „Der starke Hans“ und dem russischen Märchen „Der Bärensohn“.

Der Schmied nimmt Sigurd auf
Illustration von Rackham, 1912


In Varianten dieser Märchen begegnen wir selbst solchen Details, wie der säugenden Hindin oder dem Zerschlagen des Amboss beim Schmied, einem Motiv, welches in unmittelbaren Zusammenhang mit der Siegfriedsage steht.
Nach der Initiation beim Schmied, so berichtet die Sage weiter, folgt der Kampf mit dem Drachen. Der Drachenkampf findet sich in sehr vielen Märchen wieder, oftmals ist der Drache ganz genauso wie in der Nibelungensage ein verwandelter Mann (z.B. bei dem Märchen vom König Lindwurm).
Die klassische und auch schon recht alte Form des Drachenkampfmärchens beschreibt den Kampf des Helden mit dem Drachen zwecks Gewinnung einer Jungfrau und / oder eines Schatzes, so wie wir dies auch schon aus dem eingangs erwähnten Batamärchen kennen oder aus der verhältnismäßig jungen Georglegende.
In den Märchen taucht oftmals ein Betrüger auf, der dem Drachen das Haupt abschlägt und sich selbst als Drachenbezwinger ausgibt, um die Jungfrau bzw. die Prinzessin zu freien. Doch der Betrüger wird i.d.R. dadurch entlarvt, dass das Drachenhaupt keine Zunge mehr besitzt, denn diese hat der eigentliche Held schon zuvor abgeschnitten und kann sie nun als Beweis seiner Tat vorlegen und lässt so dem Märchen seinem Happy End entgegengehen und bekommt selbst die Prinzessin zur Frau.
Dieser im Märchen sehr weit verbreitete Zug kommt in der Nibelungensage nicht vor. Dafür kennen wir kaum märchenhafte Erzählungen, in denen der Drachentöter das Blut des Drachens trinkt (so wie in der Sage) oder sich damit einschmiert bzw. darin badet (so wie im Lied).
Der Erwerb einer Hornhaut durch das Bad im Drachenblut scheint sogar eine Innovation des Nibelungenliedes zu sein, denn in der ursprünglichen Sage kennen wir nur das Motiv vom Trinken des Drachenblutes bzw. Essen des Drachenherzens, welches zum Verstehen der Vogelsprache führt.
Der Glaube daran, dass Vögel sehr weise sind und teilweise auch die Geschicke der Menschen vorhersagen können, ist aus vielen altertümlichen Erzählungen bekannt.
Im Märchen „Die weiße Schlange“ von den Brüdern Grimm versteht beispielsweise der, welcher von dem Fleisch der Schlange isst, die Sprache der Tiere, nebenbei geht es in diesem Märchen auch um einen verloren gegangenen Ring und natürlich um eine Brautwerbung.
Und hiermit kommen wir zu dem nächsten Schritt in der sagen- bzw. märchenhaften Erzählung vom Drachentöter, nämlich der Erlösung der Jungfrau.

Nachdem Siegfried/Sigurd den Drachen getötet hat, kommt er in Kontakt mit dessen Blut und versteht daraufhin die Vogelsprache. Die Vögel raten dem Helden zunächst den (verräterischen) Schmied zu erschlagen, um sodann eine wunderschöne Jungfrau aus ihrem Zauberschlaf zu erlösen.
Sigurd findet schließlich die schlafende Walküre (Brynhild/Sigdrifa) auf dem von einem Feuerring (der so genannten Waberlohe) eingeschlossenen Hindinfelsen. Der Göttervater Odin hatte die Walküre mit dem Schlafdorn gestochen und zu ihrem Schutz die Waberlohe um ihre Schlafstätte angelegt. Einzig unser Held ist in der Lage den Feuerring zu durchschreiten und die schlafende Schöne zu erwecken.
Sie versprechen sich die Ehe, tauschen Ring und Kelch und zeugen (zumindest nach der Völsungensaga) auch eine Tochter. Danach verlässt Sigurd Brynhild und kommt an den Hof der Niflungen dort trinkt er einen Zaubertrank, der ihn Brynhild vergessen lässt. (Erst an dieser Stelle knüpft das Nibelungenlied an)
Dieser Erweckungssage möchte ich nun zwei Märchentypen gegenüberstellen:
Zum einen das Märchen vom Glasberg:

Der Held kommt in ein Königreich, wo nur derjenige die Hand der Prinzessin gewinnt, der diese auf einem Glasberg erreichen kann, um ihren Ring zu empfangen oder um sie zu küssen. Nachdem einzig unser Held erfolgreich war, entweicht er unerkannt. woraufhin die Prinzessin ihn im ganzen Land sucht. Schließlich finden sie sich wieder. Die Prinzessin heiratet ihn, und der Held gewinnt das Königreich.
In einer mittelalterlichen dänischen Ballade sitzt Brynild auf diesem Glasberg, auf den sie ihr Vater gesetzt hat, und „Sigward“ ist ihr Erlöser.
Hier fällt es natürlich sehr schwer zu sagen, ob diese Geschichten sich aus einer gemeinsamen indoeuropäischen Wurzel entwickelt haben oder einfach nur aufeinander basieren, sowie dies z.B. für die dänische Ballade mit Sicherheit angenommen werden darf.
Ähnlich dürfte es sich bei dem Märchen „Brünhild“ verhalten. Dieses Märchen finden wir im europäischen Teil der Sowjetunion, insbesondere um den Raum von Kiew sowie mit einzelnen Varianten in den baltischen Ländern, in Böhmen, der Slowakei und Ungarn. Das Märchen, das auch die Brunhildesage genannt wird, ist ein Schwestermärchen der Siegfriedsage und dürfte wohl unmittelbar von dieser abgeleitet sein.



Dornröschen

Wenden wir nun den Blick auf ein Märchen, das nicht von dem Held sondern in erster Linie von der schlafenden Schönen berichtet. Es ist eines der bekanntesten deutschen Volksmärchen und wurde mehr als jedes andere bereits mit dem Nibelungenstoff verglichen, das Märchen von Dornröschen:

Dornröschen
(Märchenbuch-Illustration, Sammlung Scholz)

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Bei Dornröschens Geburt werden 12 von 13 Feen des Königreiches eingeladen (denn der König besaß nur 12 goldene Teller); die uneingeladene 13.te Fee erscheint dennoch und verflucht Dornröschen. In ihrem 15.ten Lebensjahr geht der Fluch in Erfüllung:
Dornröschen sticht sich an einer Spindel, woraufhin sie und das ganze Schloss in einen langen Schlaf verfallen. Nur die Dornenhecke wächst und schließt das Schloss hermetisch ab.
Nach hundert Jahren kommt ein Prinz, als er herannaht weichen die Dornen zur Seite und er kann mühelos eintreten, für jeden anderen war dies bis dahin ein tödliches Unterfangen.
Der Prinz erlöst das schlafende Dornröschen mit einem Kuss, und anschließend feiern sie Hochzeit.

Selbst wenn wir in diesem Märchentypus keinen Drachenkampf kennen, erinnert uns die Erweckungsgeschichte sehr stark an die nordische Nibelungenüberlieferung.
So deutlich die Parallelen des Märchens zur Sage sind, so problematisch ist aber dennoch die Gleichung Brunhild - Dornröschen, denn es ist nicht geklärt, inwieweit die Brüder Grimm das Dornröschen Märchen bewusst an die nordische Tradition angeglichen haben.
Weder der Name Dornröschen noch die tragende Rolle der Feen findet sich nicht in dem ursprünglichem Manuskript der Brüder Grimm. Darüber hinaus haben sie den zweiten Teil des Dornröschen-Märchens, die Geschichte der bösen Schwiegermutter, welche ihre Enkelkinder fressen will, abgespalten und separat überliefert. Den verbliebenen Text bearbeitete speziell Wilhelm Grimm zusätzlich für die nachfolgenden Buchausgaben. Die schlichten, unbeholfenen Sätze des 1810 aufgezeichneten Märchens verdichten sich nach und nach zu einem ausgefeilten literarischen Stil.

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Trotz alldem haben die Grimms – und das sollte man ihnen zu Gute halten – das Märchen in seinen Grundzügen korrekt überliefert. Es wäre nur verfehlt jedes einzelne Wort auf die Goldwaage zu legen (wie z.B. die Anzahl der Feen, die einzelnen ihrer Wünsche oder die schlafenden Fliegen an der Wand).
Glücklicherweise gibt es noch andere, vor allen Dingen ältere Versionen des Märchentyps "schlafende Schönheit", die sich dem Dornröschen Märchen vergleichend gegenüberstellen lassen.

Jakob und Wilhelm Grimm
(Photographische Gesellschaft Berlin)


Aus dem 14. Jh. stammt der altfranzösische Prosaroman Perceforest.

Es ist die Geschichte der schönen Cellandine. Zur Feier ihrer Geburt werden drei Göttinnen geladen, eine der Göttinnen, erzürnt über das auf ihrem Platz fehlende Messer, bestimmt im Zorn, dass sich Cellandine beim ersten Spinnen eine Flachsfaser in den Finger zieht, worauf sie in einen tiefen Zauberschlaf fällt.
Als die Weissagung sich an der herangewachsenen Jungfrau erfüllt, dringt der Ritter Troylus auf dem Rücken eines Vogels in die verschlossene Burg und findet die schlafende Schöne. Er tauscht den Ring mit ihr, aber es gelingt ihm weder die Jungfrau zu erwecken noch ihrer Schönheit zu widerstehen, also schläft er mit ihr und entfliegt sodann auf die gleiche Weise, wie er gekommen war.
Nach neun Monaten gebiert Cellandine einen Knaben, dieser ergreift sogleich ihren kleinen Finger und saugt die Flachsfaser heraus woraufhin die Mutter erwacht. Als der König dann ein Turnier ausschreibt, erscheint Troylus, besiegt alle andern Ritter, gibt sich der schönen Cellandine zu erkennen und entflieht mit ihr. Auch hier folgt die Geschichte der bösen Schwiegermutter, welche ihr Enkelkind fressen will.

Bereits Mitte des 13. Jh., also im Zeithorizont des Nibelungenlieds, wird in Albrecht von Scharfenbergs "Merlin et Seifrid de Ardemont" der Berg, auf dem die königliche Mundirosa weilt, von einem Dornenhag geschützt, Seifrid befreit die Jungfrau ähnlich wie im Seyfridlied, indem er mit Hilfe eines Zwergen einen Riesen erlegt. Mit dieser Erzählung liegt uns eine sehr frühe Mischform des Dornröschen Märchens und der Siegfriedsagen vor.

"Die schlafende Schöne im Walde"
Die Dornen erscheinen neben anderem Gestrüpp auch bei Charles Perraults "Die schlafende Schöne im Walde" (1696), einem direkten französischen Vorläufer des Dornröschen-Märchen.

Diese barocke Form besitzt nur sieben Feen, und sechs goldene Teller, auch hier haben wir den Fluch, der sich mittels einer Spindel erfüllt und nach 100 Jahren durch den rechten Königssohn aufgelöst wird, indem er sich vor der schlafenden Schönen nur hinknien muss. Diese Version des Märchens ist wesentlich ausgeschmückter und dennoch in den maßgebenden Teilen deckungsgleich, bis hin zur bösen Schwiegermutter.

Charles Perrault
Gemälde (Anonymus) um 1671

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Ebenfalls aus barocker Zeit stammt eine italienische Dornröschen-Version von Basiles "Sole, Luna e Talia" (1637), es mutet etwas moderner an und betont den erotischen Aspekt des Märchens:

Statt der Feen erscheinen Wahrsager und verkünden, das neugeborene Kind werde sich an einer Flachsfaser zu Tode stechen. Nachdem sich die Prophezeiung erfüllt hat, lässt der König Talia in einem Schloss verschließen. Eines Tags flog der Jagdfalke eines anderen Königs in das Fenster jenes Schlosses und weil der Vogel nicht zurückzulocken war, drang der fremde König in das Schloss ein und fand die schlafende Schöne, trug sie aufs Lager und genoss ihre Liebe ohne sie zu erwecken.
Nach neun Monaten gebiert sie Zwillinge…. Der weitere Verlauf folgt in den Grundzügen dem Märchen von „Der schlafenden Schönen“

Ähnliche Darstellungen finden sich in einem katalanischen Gedicht, … in einem kroatischen Märchen, … einer weißrussischen Erzählung und in einem Märchen aus Galizien sowie im griechischen Märchen von der verzauberten Königstochter. Weitere Varianten stammen aus Portugal, Malta, der Bretagne, der Tschechoslowakei und sogar aus dem arabischen Raum. Das Motiv der schlafenden Schönen ist in märchenhaften Erzählungen weit über Europa verbreitet worden, und es ist demzufolge sehr schwierig einen Ursprung oder eine genaue Chronologie zu erstellen.
Dennoch möchte ich eine Interpretation wagen:


Die Interpretation

Aufgrund der weiten Verbreitung und der zahlreichen Spielformen dieses Märchens dürfen wir ein sehr hohes Alter voraussetzen, dennoch wäre es falsch die Erweckungssage aus dem Märchen ableiten zu wollen oder umgekehrt, nämlich das Märchen aus der Sage heraus entstanden zu erklären.

Meiner Meinung nach handelt es sich um Erinnerungen bzw. Reminiszenzen an einen alten, möglicherweise frühen indoeuropäischen Mythos.

Zu den Einzelmotiven des Märchens von der schlafenden Schönheit:

Die Feen

Das Märchen beginnt häufig mit den weissagenden Feen bei der Geburt des Kindes. Ursprünglich dürften es nicht mehr als drei gewesen sein, denn hinter diesen Feen verbirgt sich eine Frauentrinität, die unter den verschiedensten Namen bekannt ist. Es sind die germanischen drei Nornen, die römischen drei Parzen, die gallo-romanischen drei Matronen, die griechischen drei Moiren, die slawischen drei Wilen, die iberische „Tria Fata“ (was soviel bedeutet, wie drei Feen) oder die drei Beeten aus unserer Region. Eine dieser drei Frauen ist stets die schwarze Alte und sie ist es, die den Tod bringt und also auch die Verwünschung.


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Die Spindel
Das Symbol der drei Schicksal spinnenden Frauen ist die Spindel. Dass ihr Stich jemanden in einen Zauberschlaf versenkt, lässt sich in sehr vielen Erzählungen nachweisen und ist vermutlich älter als die germanische Version, nach der Odin die Walküre/Brynhild mit einem Schlafdorn sticht. Für den Obergott der Germanen wäre eine Spindel aber sicher unangemessen gewesen.

Die Schicksal spinnenden drei Nornen
Zeichnung von Rackham, 1911


Die Waberlohe / die Rosenhecke
Zum Schutz der schlafenden Brynhild legt Odin eine Waberlohe an. Dieser Flammenring stellt (auch innerhalb der Sagengeschichte) eine isländische Neuerung dar. Feuer und Rosen (bzw. Dornen) gelten im symbolkundlichen Bereich durchaus als konvertierbar.
Eine nahe liegende Erklärung findet sich im Begriff des Rosengartens, der streng genommen weder etwas mit einem Feuerring noch mit Rosen zu tun hat, sondern in erster Linie ein sehr altes Synonym für Begräbnisstätten ist.
An solchen Orten ist es nichts außergewöhnliches sehr lange zu "ruhen" und noch weniger außergewöhnlich ist der Glaube daran, dort wieder erweckt zu werden.
Ein deutliches Kennzeichen des Rosengartens bzw. alter wie neuer Gräberfelder ist die hermetische Abschottung von der profanen Welt der Lebenden, mittels einer Dornenhecke, einer hohen Friedhofsmauer oder, wie bei Kriemhilds Rosengarten, durch einen seidenen Faden, der keinesfalls durchbrochen werden darf.

Die Vögel
Die Vögel führen nach nordischer Überlieferung den Drachentöter Sigurd zur schlafenden Brynhild. Dieses Motiv findet sich nicht mehr in der Version der Brüder Grimm, wohl aber im altfranzösischen Prosaroman Perceforest, einem der ältesten Märchen vom Typ Dornröschen, hier dringt der Held Troylus auf dem Rücken eines Vogels in die verschlossene Burg. Auch in der italienischen Version Basiles zeigt ein Falke dem König den Weg zu der schlafenden Schönen.
Das Vogelmotiv ist schwierig zu deuten, möglicherweise handelt es sich um Weisungen aus dem Jenseits, denn die Seelen Verstorbener dachte man sich in frühen Kulturstufen vielfach vogelgestaltig.

Das Durchdringen der Abgrenzung
Eines der entscheidenden und immer wiederkehrenden Motive beschreibt die Unmöglichkeit für den Nicht-Auserwählten die Abgrenzung, sei es eine Dornenhecke oder die Waberlohe, zu durchdringen.
Nur vor dem „rechten“ Helden weichen die Flammen oder die Dornen zurück, weil zum einen die Zeit der Erlösung gekommen war und zum anderen einzig der Held dafür prädestiniert war.
In der Nibelungensage zeichnet sich ein Initiationsritus im Vorfeld der Erweckung ab. Für die Helden der Dornröschenmärchen muss dies offen bleiben, darf aber im Hinblick auf verwandte Erzählungen, wie z.B. dem Glasberg- und Batamärchen vermutet werden.

Die Erweckung / die Erlösung
Hinter dem Motiv der Erweckungssage wurde schon sehr häufig die Erinnerung an eine so genannte "Heilige Hochzeit" (griech. Hierós Gámos) vermutet, die rituelle Hochzeit zwischen dem Himmelsgott und der Erdmutter (bzw. deren irdischen Vertretern).
Bei den Germanen ist die "Heilige Hochzeit" in den bronzezeitlichen Felszeichnungen bestens belegt, lässt sich aber auch in den uns erhaltenen Mythen wiederholt nachweisen.
Die Brynhild der Sigurdsage ist nicht nur eine Repräsentantin der altgermanischen Fruchtbarkeitsgöttin Freyja, sondern gehört als Walküre auch zu ihrem unmittelbaren Gefolge.
Im Rahmen eines Wachstum- oder Fruchtbarkeitskultes wird die Priesterin zur Personifikation sowohl der Göttin als auch des Landes. Nach den Wintermonaten, in denen die Erde ruht, muss sie im Frühjahr von einem besonders dazu ausersehenen Heros rituell erweckt und neu befruchtet werden, um die Fruchtbarkeit des kommenden Jahres sicherzustellen.
Diese Aussage lässt sich vielmehr durch aufgezeichnetes oder z.T. noch lebendiges Brauchtum, in Verbindung mit den entsprechenden Mythen untermauern, … als über die verschiedenen Versionen eines Märchens herleiten.

Sicherlich lässt sich das Dornröschen-Märchen zu Recht auf vielerlei Ebenen auch anders interpretieren, gewiss aber kann man eine geschwisterliche Verbindung zur Nibelungensage und den zu Grunde liegenden, vermutlich indoeuropäischen Mythen kaum leugnen.