SEX AND CRIME

Überlegungen zu den Handlungsmotiven
der Helden im Nibelungenlied


von Ellen Bender


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Nibelungenfestspiele Worms 2002, Foto: R. Uhrig ..



Sind die Helden des NL vorbildliche, ruhmwürdige Ritter? „helden lobebaeren“ (1,2)?

Oder sind es „Helden“, die ähnlich wie bei G.B. Shaw durch ihre Taten demaskiert werden?
Die, weil sie übermuotig und maßlos handeln, ihren Untergang selbst verschulden?

Die Helden:

Siegfried


Moritz Rinke interpretiert Siegfried als Großmaul, blauäugig, potent und dümmlich.

Was will Siegfried in Worms? Er ist der Conqueror. Er will eine Frau, nämlich Kriemhild sowie Land und Leute, nämlich Burgund und die „Burgonden“, erobern. Er trifft auf einen Familienclan und lässt die Muskeln spielen. Er zeigt seinen Machthunger und fordert König Gunther zum Zweikampf um Land und Herrschaft heraus (107-110). Beide Handlungsmotive, Liebe und Macht, werden bereits vor der Abreise in Xanten thematisiert: Siegfried will Kriemhild durch seine Taten verdienen (47). Siegfried ist aber nicht, wie die meisten Ritter der Artusromane, ein Held ohne Land, sondern ein mächtiger Königsohn.

Der Nibelungenschatz, der Tarnmantel (nicht: Tarnkappe) und die schützende Hornhaut (nach dem Bad im Drachenblut) aus dem Nibelungenland kennzeichnen Siegfrieds überragende Macht.

Sein grundloser Angriff auf legitim ererbte Herrschaft musste als Unrechtsakt und Friedensstörung gelten. Durch Gunthers Höflichkeitsgeste „Alles, was wir haben, steht in Ehren zu Eurer Verfügung“ (127) gelingt es, Siegfried in die höfischen Spielregeln zurückzuführen.

Kriemhild ist für Siegfried die Lichtgestalt, nämlich „sam der liehte mâne vor den sternen

stât“ oder „Nu gie diu minneclîche, alsô der morgenrôt tuot ûz den trüeben wolken“ (281; 283).

Bei der Brautwerbung des Xanteners lockt die weibliche, erotische Schönheit Kriemhilds und die mit der Eheschließung verbundene Macht über die Burgunden hier am Rhein.

Es handelt sich um eine gefährliche oder schwierige Brautwerbung, da der Held erst schwierige Aufgaben lösen muss, bevor er Kriemhild zur Frau erhält.

Siegfried erwirbt Kriemhild durch Dienstleistung.

Er leistet Minnedienst., also Liebesdienst, und zwar in Form von Taten, nämlich in Form des Sachsenkrieges.

Der Sachsenkrieg und die Erwerbung Brünhilds für Gunther sind Stationen eines verbogenen, nahezu perversen Minnedienstes Siegfrieds.

Siegfried erreicht sein Ziel, die Erwerbung Kriemhilds, durch den Betrug an Brünhild. Und zwar durch eine Standeslüge, nämlich durch Vortäuschen einer gesellschaftlichen Stellung, die nicht die Seine ist. Siegfried beschwört die anderen bei der Werbungsfahrt nach Island: „Wenn wir Brünhild später mit ihrem Hofstaat antreffen, dann behauptet alle einhellig, dass Gunther mein Lehnsherr und ich sein Lehnsmann sei. Dann können seine größten Hoffnungen in Erfüllung gehen.“ „ Allerdings“, fährt er zu Gunther gewandt fort, „diene ich nicht aus Zuneigung zu dir, sondern aus Liebe zu deiner Schwester. Mit Freuden diene ich darum, sie mir zur Gemahlin zu gewinnen.“

Durch dieses Vortäuschen eines Dienstverhältnisses erreicht Siegfried später sein Ziel. Er bekommt seine Kriemhild. - Aber um welchen Preis!

Die Frage der gesellschaftlichen Rangordnung steht im Mittelpunkt der Vorwürfe Brünhilds beim Frauenstreit und daher im Mittelpunkt der Motivationen für Siegfrieds Tod. Wir erinnern uns: Siegfried muss sterben, weil er sich durch den Betrug an Brünhild bei der Freierprobe und in der Brautnacht schuldig gemacht hat. Er gibt sich als Gunthers „eigen man“ aus, unternimmt es aber, anstelle des Burgundenkönigs, Brünhild zweimal zu besiegen.


Gunther


Gunthers Motiv des Handelns bei der Erwerbung Brünhilds ist seine Begierde; es ist nicht Liebe, es ist Verlangen, nämlich die sexuelle Macht über die Amazone Brünhild,

die den männlichen Selbstwert erhöht.

Ihre physische Kraft reizt ihn – wahrscheinlich, weil er selbst diese Kraft nicht besitzt.

Gunther sucht die starke Frau. Er braucht eine „Powerfrau“, um von seinen eigenen männlichen Unzulänglichkeiten und seinem Versagen als Mann und als König abzulenken.

In diesem Zusammenhang erinnert mich Gunther sehr an den ehemaligen amerikanischen

Präsidenten Bill Clinton. Clinton braucht Hillary, um von seinen Skandalen und moralischen Schwächen abzulenken.

Brünhild fasziniert Gunther, weil er sie nicht überwinden kann. Da kommt ihm der starke Siegfried als Werbungshelfer gerade recht. Brautwerbung als Kräftemessen zwischen

Bräutigam und Braut, zwischen Mann und Frau. Gunther sieht die Chance, die schöne starke Brünhild als Frau und Königin durch die konditionale Verknüpfung mit der Werbung Siegfrieds für sich zu gewinnen (Str. 333f.): „Wenn du für mich Brünhild erwirbst, gebe ich dir meine Schwester zur Frau“ sagt Gunther. Und Siegfried macht als Lohn für seinen Werbungsdienst den Gewinn Kriemhilds zur Bedingung: „Gibst du mir deine Schwester Kriemhild zur Frau, dann willige ich ein und will keinen weiteren Lohn für meine schwierige Aufgabe haben.“ Gunther sagt: „Siegfried, das verspreche ich dir mit Handschlag. Wenn die schöne Brünhild in mein Reich kommt, dann werde ich dir meine Schwester zur Frau geben.“ Hier werden die Frauen verschachert wie eine Handelsware!

Doch Gunther versagt. Er versagt bei der Freierprobe und in der Hochzeitsnacht.

Ist es - psychologisch gesehen - die Angst des Mannes vor der Frau und vor dem Versagen der

eigenen Potenz? Gunther fürchtet die Schande der Niederlage gegen eine Frau.

Er will den Sieg über die Frau. So fordert er Siegfrieds Potenz-Hilfe auch im intimsten Bereich der Brautnacht, um sich Brünhild sexuell gefügig zu machen (Str. 655).

Weiter zeigt sich Gunthers Versagen bei der formalrechtlichen Erledigung des Königinnenstreites. Es handelt sich um ein unzulängliches Schein-Verfahren. Siegfrieds und Gunthers Schuld bleibt verborgen. Gunther bezieht keine Stellung und verzichtet auf Siegfrieds Eid. Die Ehre Brünhilds ist durch Siegfrieds Weiterleben in Frage gestellt. Sie kann nur durch rächende Vergeltung wiederhergestellt werden. Und Hagen vollzieht die Tat.

Hagen


Hagen ist der politische Berater und engster Vertrauter der Burgundenkönige am Hof zu Worms, und er ist immer bestens informiert- ein Staatspolitiker, schlau und treu.

Das Bild Hagens wird durch seine Vasallität bestimmt. Er handelt in den meisten Situationen aus Gefolgschaftstreue zu den Burgunden.

Moritz Rinke meint, Hagen handelt aus Staatsräson – auch gegen seine Überzeugung.

Hagen sieht in Siegfried den Störenfried und Keim allen Unheils, weil durch ihn nur zu deutlich Gunthers Schwäche offenbar wird und nach dem Sachsenkrieg er gar als Erretter des Reiches gefeiert wird. Und hat er (Hagen) vielleicht, wie Wolfgang Hohlbein meint, selbst Hoffnungen auf Kriemhild, die schöne Burgundenprinzessin, die er, der enge Vertraute als Kind schaukelte und dann zur begehrenswerten Frau heranreifen sah?

Moritz Rinke meint, er tötet um der Ordnung willen.

Hagen als Mann der Tat ist der Siegfried-Mörder. Seine Tat, die Ermordung Siegfrieds, ist hinterhältig.

Seine Schuld wird in einem Gottesurteil offenbar. Als Hagen an die Bahre tritt, beginnen Siegfrieds Wunden zu bluten (1044).

Und er erneuert seine Täterrolle sogar durch den Hortraub. Er sieht in der Versöhnung zwischen Kriemhild und Gunther nach dreieinhalb Jahren ein Mittel, die geschwisterliche

Bindung wiederherzustellen, um Kriemhild dazu zu bewegen, den Hort nach Worms zu holen (1107).

Reichtum begründet Macht und dient der Herrschaftssicherung. Das Nibelungengold erscheint als besonderes Objekt von Hagens Machtstreben.

Er will damit den „Staat“, die Herrschaft der Burgunden sichern.

Die Motivation für Hagens Handeln sind der Vorteil für Gunthers Hof zu Worms und die Machterhaltung, d.h. die Erhaltung seiner Herrschaft im brüchigen Familienclan der Burgunden,

Hagen macht sich der superbia, der Überheblichkeit, der heroischen alten „übermüete“, schuldig. Dies zeigt sich vor allem bei der Tötung Siegfrieds, der weg muss, weil er Hagens Macht einschränkt, beim Hortraub (1107,3-4), bei der Ermordung des Fährmanns (Str. 1621f.) beim Übersetzen über die Donau und in der Schlusskatastrophe. Hier zeigt sich die Unmoral der Handelnden pur. Die Rache als Vergeltung der Schuld ist maßlos.

Alle Burgunden müssen sterben, und als Hagen der Hunnenkönigin mit Hohn bis zum Schluss trotzt, den Ort des versenkten Schatzes nicht verrät, wird auch er dafür radikal von ihr ermordet.

Spürt er, der Taktiker Hagen denn nicht, würde man mit Moritz Rinke fragen, dass er die Dinge nicht steuern kann, dass die Geschehnisse ihn, seinen König und ein ganzes Land in den Untergang reißen?

Hagen ist also auf gar keinen Fall ein Held. Ein rechter Held würde solche Untaten niemals begehen. Hagen ist eher ein Anti-Held. Und die Treue wird zwar als höchstes Ideal in den Raum gestellt, aber Hagen handelt z.B.in Untreue, als er das von Kriemhild in ihn gesetzte Vertrauen bricht. Er ersticht Siegfried, der ahnungslos am Brunnen Wasser trinkt.

Und ist es Treue, wenn er aus reinem Fatalismus seine Könige und die burgundischen Mannen an den Etzelhof in den Tod führt – obwohl er den „Satansbraten“ förmlich riecht!?


Die Helden des NL sind „viri“ der Tat, definieren sich durch ihre Handlungen und Taten.

Geld und Macht sind wichtig. Und ebenso die sexuelle Inbesitznahme. Der Mann reibt sich am Gegenbild der Frau wie Gunther an Brünhild. – Und sie sind maßlos bis zur Mordlust.

Siegfried, Gunther, Hagen sind Männer ohne Skrupel, ohne Gewissen.

Lüge und Betrug bestimmen ihr Handeln.

Die Lüge dient der Durchsetzung der eigenen Interessen, der Selbstbehauptung und dem Machterhalt.


Und wie steht es mit den Handlungsmotiven der
„Heldinnen“ Kriemhild und Brünhild?

Liebe – Macht – Vernichtungssucht sind auch hier die bestimmenden Handlungsmotive, wie in den soap-operas der Familienclane „Dallas“ und „Denver“.


Brünhild.


Jenseits des Meeres lebt in Island auf der Burg Isenstein Königin Brünhild. Sie ist schön und stark wie eine Göttin- und nach außen hin kalt wie Eis. Freier, die um sie werben, müssen sie in drei Wettkämpfen, im Speerwerfen, Steinwerfen und Weitspringen, besiegen. Wenn ihnen das nicht gelingt, verlieren sie ihr Leben. Das ist schon außergewöhnlich, dass Werber und Braut gegeneinander antreten, Mann und Frau miteinander kämpfen. So hat Brünhild, die amazonenhafte Königin aus dem Norden am Rande der damals bekannten Welt, eine Reihe von Freiern verschlissen, als der König der Burgunden von ihr hört und sie zur Frau haben will.

Außergewöhnlich ist, dass die Schönheit Brünhilds mit der sonst männlichen Eigenschaft kraft verbunden wird (326,3: „diu was unmâzen scoene, vil michel was ir kraft“ – oder „Den stein den warf si verre...“).

Ursula Schulze meint, dass Brünhilds Virginität der Ursprung ihrer Kraft sei. Sie verliere ihre Kraft durch den Liebesakt. Besiegt werde die Frau mit Hilfe von Magie und Betrug. Denken wir nur an den Tarnmantel Siegfrieds!

Die dämonisch-magische Seite Siegfrieds besitzt in Brünhild, der Königin von Island, ein weibliches Pendant.

Es gehört zu den konstitutiven Handlungskonstellationen des NL, dass Siegfried die von Brünhild geforderten Konditionen besitzt – er ist der Stärkste -, aber im Figurenquartett des Epos Brünhild Gunther zugeordnet wird. Die auf der mythischen Ebene erfolgte Zuordnung

von Siegfried und Brünhild, - auch in der um 1400 überlieferten Völsungasaga sind die kriegerische Schildjungfrau Brynhild und Sigurd ein Paar - wird mit tödlichen Folgen durch die Zuordnung Siegfried-Kriemhild ausgetauscht.

Im Zuge der Werbung erfolgt eine fatale Verwirrung der natürlichen und ständischen Ordnung durch das Täuschungsmanöver, das Siegfried und die drei Burgunden Gunther, Hagen und Dankwart, vor Brünhild inszenieren (341 ff.). So entsteht die widersinnige Situation, dass sich Siegfried für Brünhild als Mann qualifiziert, um Kriemhild zur Frau zu gewinnen. Es ist dies ein fataler Werbungsbetrug der Männer. Und aus dem, was uns wie ein Possenspiel der Wormser vorkommt, wird bald blutiger Ernst.

Denn Brünhild ist die mehrfach Betrogene: von Siegfried betrogen, von Gunther betrogen und um ihre Rolle als erste Dame im Staat betrogen. Der Frauenstreit endet mit der Demütigung der burgundischen Königin. Ihre königliche êre wird verletzt. Die Verletzung, die Brünhild erfahren hat, zeigt tödliche Folgen: Die Ermordung Siegfrieds wird durch Brünhild veranlasst. Der letzte Akt: Genugtuung Brünhilds als Königin: „Brünhild mit übermüete saz“(1100,1) und „Es ist der übermüeten hie bî Rîne vil“ (1034,1) im Kontrast zur leidenden Kriemhild.

Und Kriemhild?


Auch sie ist eine „Powerfrau“, und zwar um der großen leidenschaftlichen Liebe willen und auch sie erfährt wie Brünhild Machtverlust, nämlich durch Siegfrieds Tod und durch den Hortraub. Auf Kriemhild und Brünhild treffen beide Attribute zu: Sie sind Liebende-Leidende und Diabolische - diabolisch in ihrer Vergeltungssucht!

Werfen wir einen Blick auf die Teufelin mit ihrer unbarmherzigen Vergeltungspolitik und Mordsucht im 2. Teil der Dichtung, auf die dunkle Seite Kriemhilds.

Durch Siegfrieds Tod wird Kriemhild in Leid gestürzt und erstarrt. Die Ermordung des Gatten bedeutet aber zugleich ein ihr zugefügtes Unrecht. Weil das Unrecht nicht getilgt wird, der Hof Gunthers in seiner Pflicht zur Gerechtigkeit versagt, den Siegfried-Mörder nicht bestraft, muss sie, Kriemhild, die leidenschaftlich Liebende, Vergeltung üben, den ruchlosen Mörder Hagen vernichten. Die Bindung an Siegfried ist der Motor für Kriemhilds Rache, der Grund für ihre anhaltende Feindschaft zu Hagen und die Grundlage für die neu eingegangenen Beziehungen zu Etzel und Rüedeger.

Kriemhild hat den Hort als Morgengabe erhalten, wie erst in der Zeit ihrer Witwenschaft erzählend nachgetragen wird (1116). Kriemhild füllt damit in Worms Kammern und Türme (und vielleicht auch den Dom?) (1125,3). Dennoch wiegt der Reichtum den Tod Siegfrieds für sie nicht auf. In Str. 1126 wird deutlich, dass materieller Besitz für Kriemhild niemals so viel Bedeutung hat wie ihre Liebe zu Siegfried und sie deshalb auch nicht für ihren Verlust entschädigen kann.

Dann wird ihr der Hort von Hagen weggenommen. Str. 1141: „Weiteres Leid wurde ihr zugefügt: Nach der Ermordung Siegfrieds nahmen sie ihr auch den Hort. Da ruhte ihre Klage nie mehr im Leben bis zu ihrem Tod.“.

Der Hortbesitz ist Zeichen für unermessliche Macht, der Verlust ist Ausdruck der Beleidigung und Entmachtung. Kriemhilds Leid resultiert aus Siegfrieds Tod, verlorener Macht und der Unmöglichkeit, beides wiederherzustellen. Kriemhild ist immer nur auf sich gestellt. Der eigene Bruder hilft ihr nicht. Erst nach Rüedegers Schutzversprechen sieht sie in der Ehe mit dem mächtigen Hunnenkönig Etzel die Möglichkeit, ihre Rache durchzusetzen. Mit der Rückforderung des Hortes bei der Ankunft der Burgunden am Etzelhof und in der Schlussszene eskaliert die tödliche Konfrontation zwischen Kriemhild und Hagen.

Rinke und Wedel sehen in Kriemhild ein wenig Ulrike Meinhof, erst Idealistin, dann Terroristin. Das sehe ich nicht so.

Kriemhild erinnert mich mehr an die großen Frauengestalten der griechischen Antike, v.a. der Aischylos- und Sophokles-Tragödien mit den rachedurstigen und mordenden, aber auch liebenden Frauen Klytaimnestra und Elektra der „Orestie“.


Es wird hier eine Welt gezeigt, in der die christlichen Ideale nichts gelten, ja wo für christliche Gesinnung kein Raum ist. Die Tugenden, die den Herrscher auszeichnen sollen, werden nicht gelebt. Der Herrscher, nämlich Gunther, ist ein Schwächling und hat keine Vorbildfunktion. Das Fehlverhalten der Königinnen, wie z.B. der grôze nît (Str. 846) wird als Ursache menschlichen Elends aufgezeigt („von zweier vrouwen bâgen wart vil manic helt verlorn“) (Str. 876,4) oder der übermuot Siegfrieds bei seinem ersten Auftreten in Worms und als er, der „Übermütige“, Kriemhild Ring und Gürtel Brünhilds gibt und seine Überkräfte nicht für sittlich gute Taten, sondern für List und Betrug (an Brünhild) einsetzt - oder die superbia Hagens, der Siegfried hinterrücks ermordet – und schließlich die mörderische Politik der Hunnenkönigin Kriemhild bis zum Untergang.

Das Böse, der große Mord führt zur Vernichtung. Man vergleiche hier aktuell die feige, hinterhältige Tat der Terroristen in New York und Washington, die Tausende unschuldiger Menschen im World Trade Center vernichtete.

Das NL zeigt am Ende den gewaltsamen Tod aller „Helden“, die durch die verschiedensten Übeltaten Schuld auf sich geladen haben. Und der Untergang wird von Anfang an

personifiziert, d.h. als das Fehlverhalten einzelner in den Blickpunkt gerückt: „si sturben sît jaemerlîche von zweier edelen frouwen nît.“(6,4) oder „durch sîn eines sterpen starp vil

maniger muoter kind“ oder „(Kriemhild) ward ein scoene wîp; darumbe muosen degene vil verliesen den lîp“ etc.

Der Umschlag von liebe in leit, die Determination allen Geschehens zum Untergang (NL Str. 2378) ist Grundstruktur des Weltlaufs. Diese pessimistische Weltsicht erscheint in Analogie zur „Weltchronik“ Ottos von Freising (gest. 1158). Otto von Freising kennt auch die Burgundenkönigin Brunichilde des 6. Jahrhunderts. Otto erzählt von dem schrecklichen Ende dieser Königin, die König Chlotar, an die Schwänze wilder Pferde gebunden, habe zerreißen lassen als warnendes Beispiel dafür, dass „wir Unmenschlichkeit verabscheuen sollen“ (Chronica V.7)- Steht dann der Burgundenuntergang als Beispiel für die „civitas diaboli“?- oder in Analogie zum 1. Reichston Walters von der Vogelweide (ca. 1198) „ich saz ûf einem steine“, der sich in aller Eindringlichkeit fragt, wie man auf dieser Welt zu leben habe, in einer Welt, in der „Verrat im Hinterhalt lauert, Gewalttat auf die Straße zieht, Friede und Recht todwund sind...“ („untriuwe ist in der sâze, gewalt vert ûf der strâze, fride unde reht sint sêre wunt.“(V. 21-23).

Der Dichter der nôt-Fassung des NL hat die Destruktion des höfischen Glanzes nicht durch einen christlichen Ausblick, nicht durch die Hoffnung auf eine andere Welt aufgefangen. Da der Untergang von Anfang an determiniert ist, fehlt den Menschen des NL die Zukunftsgespanntheit auf ein positives Ziel, sei es im Diesseits oder im Jenseits.

Diese Situation ist derart unerträglich, dass die Nachdichtung Klage erst einmal das Erzählte psychologisch verarbeiten musste. – Und das tun wir auch heute noch....