Lesung
Kriemhilds Spielregeln
für den Untergang


Dramatische Szenen im Nibelungenlied



von Ellen Bender und Petra Riha

Ellen Bender und Petra Riha - Foto: Gernot Kirch..



Lesung des Nibelungenliedes nach der Handschrift C
Nacherzählung und Kommentar

Dr. Ellen Bender und Petra Riha von der Nibelungenliedgesellschaft lesen ausgewählte, fortlaufende Abschnitte aus dem Nibelungenlied in der neuhochdeutschen Übertragung von Ursula Schulze mit Kommentar.

28. Âventiure
Die Lesung im letzten Jahr beendeten wir mit der Ankunft der Burgunden bei Etzel in der 28. Âventiure. Könige und Ritter beziehen ihr Quartier im Saal der Etzelburg. Die Knappen werden – einem Plan Kriemhilds zufolge - abseits in den Gesinderäumen untergebracht. Zu einer ersten Konfrontation kommt es bei der Begrüßung der Burgunden. Kriemhild gibt die Spielregeln vor. Sie fordert von Hagen den Hort als Gastgeschenk (Aktion). Der Raub des Schatzes und Siegfrieds Ermordung sind allerdings unrevidierbar. 
Kriemhilds Forderung, die Waffen abzugeben, lehnt Hagen ab (Gegenaktion).

„Provokation des Untergangs“
Aktion und Gegenaktion in den Âventiuren 29 – 34
Lesung der dramatischen Szenen der Konfrontation zwischen Kriemhild und Hagen:

29. Âventiure - Hagen und Volker sitzen vor Kriemhilds Saal
In der 29. Âventiure der Handschrift C „Aventiure wie Hagene und Volker vor Chriemhilden sal sazen“ geht die Auseinandersetzung der exponierten Gegenspieler in die nächste Runde. Hagen und Volker, ein unzertrennliches Kämpferpaar, setzen sich auf eine Bank Kriemhilds Saal gegenüber. Sogleich plant die Königin einen Anschlag. Mit der Krone auf dem Haupt nähert sie sich mit einer bewaffneten Schar. Der Aktion folgt die Gegenaktion: Hagen und Volker verweigern die Ehrerbietung und bleiben sitzen. Sie erheben sich nicht vor der Königin - eine ungeheuerliche Provokation!  Hagen verletzt hier bewusst die selbstverständliche Geste der Höflichkeit gegenüber einer Dame, weil solche Ehrerbietung als Zeichen von Furcht ausgelegt werden könnte. Hagen weiß, dass er nichts mehr zu verlieren hat, es sei denn die Ehre. Demonstrativ legt er das Schwert, das einst Siegfried gehörte, auf seine Knie. Er hatte es nach dem Mord als Beute behalten. Er will dem offenen Hass Kriemhilds trotzen und sie verletzen. Treffend betitelt Hs B diese Âventiure: „Wie Kriemhilt Hagenen verweiz („Vorwürfe machte“)(= Aktion) unt wie er niht gên ir ûf stuont“ (= Gegenaktion). Der Versuch, den Kriemhild unternimmt, Hagen töten zu lassen, zuerst mit 60, dann mit 300 Kämpfern, scheitert an der Furcht. Die hunnischen Gefolgsmänner fürchten um ihr Leben. Hagen und Volker gelten als unbesiegbar. So endet Kriemhilds erster Vergeltungsversuch mit ihrer Demütigung. Im Königspalast werden die Burgunden dann großzügig und freundlich von Etzel empfangen. ER weiß nicht, was gespielt wird.

30. Âventiure - „Die Nachtwache“
Die 30. Âventiure erzählt von der ersten Nacht, die die Burgunden auf der Etzelburg verbringen. Reisemüde begeben sie sich zur Ruhe. Volker und Hagen übernehmen die Nachtwache vor dem Saal, um einen Überfall zu verhindern. Für die einschlafenden Burgunden spielt Volker auf seiner Fiedel. Dann muss er das Musikinstrument mit dem Schwert vertauschen, denn im Dunkeln tauchen von Kriemhild entsandte Kämpfer auf. Sie haben den Auftrag, Hagen zu töten. Doch als sie die beiden Wächter wahrnehmen, kehren sie voller Furcht um. So scheitert auch dieser Versuch Kriemhilds, Hagen töten zu lassen. Da ihre Kämpfer nichts erreicht haben, ändert sie ihren Plan. Sie sieht nun keinen Anschlag mehr gegen Hagen vor. Vielmehr will sie Hagen zu einer Tat provozieren, -  so grauenvoll, dass sogar der mächtige König Etzel selbst den Kampf gegen die Nibelungen befehlen würde.

31. Âventiure - „Der Kirchgang“
Volker und Hagen, die ihre Waffen nicht ablegen, provozieren die Hunnen und Kriemhild: Sie machen der Königin beim Kirchgang vor dem Münster keinen Platz; sie tragen die Waffen in der Kirche. Das Ritterspiel droht in ein Scharmützel auszuarten. Dietrich von Bern lehnt es ab, Kriemhilds Racheabsichten zu unterstützen.Volker erschlägt einen aufgeputzt heranreitenden Hunnen; die Angehörigen drängen auf Vergeltung. In dieser 31. Âventiure verdichten sich die Vorausdeutungen auf den Ausbruch von Gewalt. Etzel greift noch immer schlichtend ein. Seine Überlegung, den Sohn Ortlieb zur Erziehung nach Worms zu schicken, wird von Hagen zurückgewiesen. Er sagt, der junge König sei vom Tode gezeichnet (Str. 1969).

Anmerkung zu Strophe 1963: Die Hs C hat diese Strophe ganz umgeformt und geglättet.

Denn in der Hs B, Strophe 1912, lässt Kriemhild den Sohn Etzels an die Tafel bringen:
Dô der strît niht anders kunde sîn erhaben
(Kriemhilt ir leit daz alte in ir herzen was begraben),
dô hiez si tragen ze tische den Etzelen sun.
wie kunde ein wîp durch râche immer vreislîcher tuon?
“Als der Kampf nicht anders begonnen werden konnte
- in Kriemhilds Herz war der alte Schmerz tief eingegraben -,
da ließ sie den Sohn Etzels an die Tafel bringen.

„Wie hätte eine Frau, nur um Rache zu üben, schrecklicher handeln können?“ (B, 1912,1-4)
In der älteren Dichtung hat Kriemhild ihren Sohn tatsächlich ihrer Rache geopfert. Der höfische Dichter des NL wagte eine solche Tat einer Frau nicht mehr zuzutrauen. Der Tod Ortliebs ist für den Nibelungendichter konsequente Folge des Knappenmordes. Trotzdem hat Hs B diese kraftvolle Strophe nicht missen wollen. Hingegen spricht die Hs C vom Hass Hagens. In Strophe 1964 heißt es denn auch:
„Vier Männer Etzels kamen und brachten Ortlieb, den jungen
König, zum Tisch der Fürsten, wo auch Hagen saß. Durch
dessen tödlichen Hass musste das Kind später sterben.“

32. Âventiure - „Knappenmord“
Die 32. Âventiure zeigt wieder Kriemhild in Aktion. Sie stiftet jetzt Etzels Bruder Blödel zum Knappenmord an. Sie verspricht ihm eine schöne Witwe, Gold, Burgen und eine Grenzmark, wenn er alle Knappen der Burgunden in ihrer Unterkunft erschlägt. Blödel gibt seinen Überfall als Vergeltung für Hagens Mord an Siegfried aus. Dankwart, Hagens Bruder, dem die Knappen anbefohlen sind, tötet ihn. Dankwart entkommt dem Anschlag, bei dem alle burgundischen Knappen und Männer Blödels sterben und kämpft sich zum Königspalast durch. Blutüberströmt erreicht er die Festtafel.

33. Âventiure - „Tötung Ortliebs“
Die 33. Âventiure bringt die Gegenaktion Hagens auf Kriemhilds Anschlag. Hagen reagiert nun gemäß Kriemhilds Plan. Aus Rache für die ermordeten Knappen schlägt er ihrem Sohn Ortlieb den Kopf ab und fordert damit den Hunnenkönig heraus. Er muss wissen, dass er durch seine Tat sein eigenes Todesurteil unterschreibt. Denn Etzel mit seiner Übermacht wird ihm alles verzeihen, nur das nicht.
Anmerkung zu 2013,3: „nu trinchen wir die minne unde gelten skuniges win“ ist eines der packendsten Trutzworte Hagens. „minne trinchen“ ist ein germanischer Brauch und meint den „Trunk zum Gedächtnis eines Toten“. Helmut Brackert übersetzt: „zum Gedächtnis Siegfrieds trinken“. „skuniges win“, der „Wein des Königs“ steht metaphorisch für das Blut Ortliebs: „und bringen das Blut Ortliebs zum Opfer dar“.
Warum tötet Hagen Ortlieb?
John von Düffel, Wedels rechte Hand bei den Nibelungenfestspielen, meint: „Hagens Kindsmord kann nur eines bedeuten: die Wiederholung und Steigerung der Ermordung Siegfrieds, der grausame Höhepunkt dessen, was er Kriemhild angetan hat. Damit setzt er den Mechanismus von Schuld und Rache wieder in Gang, der ihn zur Hauptperson von Kriemhilds Hass macht. Die Polaritäten der zerstörerischen Paarung zwischen ihm und Kriemhild treten wieder in Kraft, machen Kriemhild endgültig zur Rachefurie.“

34. Âventiure - „Saalkampf“
Im Nu entbrennt im Festsaal der Kampf zwischen Burgunden und Hunnen. Ein ungehemmtes Morden beginnt in der 34. Âventiure („Wie Iring gegen Hagen kämpfte und wie dieser dann Erfolg hatte“). Nur der Hunnenkönig Etzel greift nicht zum Schwert. Begründet wird Etzels Verhalten nicht – genauso wenig wie die Tatsache, dass die Burgunden Dietrich von Bern Neutralität zubilligen. Dietrich gebietet mit mächtiger Stimme den Kämpfenden Einhalt. Er bittet um freien Abzug. Gunther stimmt zu. Dietrich zieht sich mit seinen Gefolgsleuten zurück, er führt Kriemhild und König Etzel aus dem Saal, in dem alle Hunnen umkommen. Von 2.000 Toten ist die Rede; sie werden anschließend auf Giselhers Rat aus dem Saal geworfen. Etzel beobachtet von draußen das Geschehen und wird daraufhin von Volker und Hagen verspottet, weil er nicht kämpft.
Es stellt sich die Frage: Warum kämpft Etzel nicht? Er ist der ruhende Pol inmitten von agierenden Kämpfern. Etzels historisches Vorbild ist der Hunnenkönig Attila (ca. 395-453), der 453 in der Hochzeitnacht mit der germanischen Königstochter Hildico starb. Sein Reich ging kurz darauf unter. Attila lebte als legendäre Figur in den Sagen weiter, in der Gestalt des Atli in Heldenliedern der Liederedda im skandinavischen Raum oder im Sagenkreis um Dietrich von Bern im südosteuropäischen Raum, in der Waltherdichtung und in der Gestalt des Etzel im Nibelungenlied. Die Thidrekssaga des 13. Jahrhunderts nennt Attila bösartig und hortgierig, als er den Brüdern seiner Frau den Königsschatz abjagen will. Das NL sieht ihn anders als die nordische Überlieferung. Das milde Etzelbild ist in der südosteuropäischen Dietrichdichtung geschaffen worden und hat in die Nibelungendichtung erst Eingang gefunden, als Dietrich darin aufgenommen wurde. Etzel ist der zweite Gatte Kriemhilds, Herrscher über ein volkreiches Großreich: freigebig, gütig, höfisch-tolerant. Der gewaltige Hunnenkönig zeigt sich passiv, ist kein Mann des Schwertes. Er will den Konflikt an seinem Hof nicht mit Waffengewalt lösen. Die Rache am Siegfriedmörder ist nicht seine, sondern Kriemhilds Angelegenheit. Erst durch die Ermordung seines Sohnes Ortlieb wird Etzel ungewollt in den Konflikt involviert und leidet.
Da also Etzel nicht in die Kämpfe eingreift, will Markgraf Iring von Dänemark, der an Etzels Hof weilt – auf Kriemhilds Aufforderung hin – allein gegen Hagen antreten. Iring von Dänemark vermag aber Hagen nicht zu überwinden und wendet sich nacheinander erfolglos Volker, Gunther und Gernot zu. Giselher versetzt ihm einen solchen Schlag, dass er die Besinnung verliert. Wieder bei Bewusstsein gelingt es ihm, Hagen eine Wunde zuzufügen und zu entkommen. Von Hagen herausgefordert und von Kriemhild angestachelt, tritt Iring ein zweites Mal gegen den Tronjer an und wird diesmal schwer verwundet. Hagen schleudert ihm einen Speer hinterher, der in seinem Kopf steckenbleibt. Mit dem Speer weicht er zu seinen Verwandten zurück und stirbt. Die Dänen und Thüringer dringen zur Vergeltung in den Saal ein, werden aber alle erschlagen. Ströme von Blut fließen. Alle Dänen und Thüringer sind tot.

Der finale Mord“

35. Âventiure - „Aventiure wie drie kunige mit Etzele und mit ir swester umbe die suone reiten“.
Anmerkung zu Strophe 2142:

Zeinen sunewenden
daz diu kuniginne
an ir naehsten magen
da von der kunec Ezele
der groze mort geschach,
ir hercenleit errach
und sus an manigem man.
vil manigen siechen gewan.

„mort“ ist hier nicht bloß „Tod“ wie das französische „mort“, vielmehr gebraucht es der Dichter in der altgermanischen Bedeutung von „Mord als heimlichem, absichtlichem Totschlag“. Es ist ein eindeutiges Urteil des Erzählers.
Ein neues Hunnenheer greift an. Die Kämpfe dauern bis an die Nacht. Die ermatteten Burgunden erkennen, dass der Kampf aussichtslos ist. Sie suchen Frieden und wollen verhandeln. Doch der Hunnenkönig ist zu keinem Zugeständnis bereit. An dieser Stelle kommt die berühmte „Nibelungentreue“ zum Tragen! Kriemhild verlangt die Auslieferung Hagens. Das wäre die einzige Chance für das Überleben ihrer Brüder gewesen. Doch die burgundischen Könige weisen aus Treue zu Hagen die Auslieferung zurück. Kriemhild lässt daraufhin den Saal umzingeln und anzünden.

Das brenna-Motiv begegnet schon im Altisländischen und heißt „Mordbrand“. Im altnordischen Alten Atlilied setzt Gudrun die Halle in Brand, um sich an Atli für die Ermordung ihrer Brüder zu rächen. Den Saalbrand, der in der älteren Sagenform das gewaltige Schlussbild war, hat das NL weiter nach vorne gezogen.
Lesung aus dem Heldenlied der Edda Strophe 41-44 (Übersetzung von Felix Genzmer):

„Sorglos war Atli,
nicht hatte er Waffen,
Besser war das Spiel,
innig umarmten

Blut gab mit dem Schwerte
mit helgieriger Hand;
trieb sie vors Tor;
mit heißem Brande:

Dem Feuer gab sie alle,
den Bau der Budlunge:
die Schatzkammern rauchten,
sanken entseelt

Die Mär hat ein Ende;
in der Brünne ihr gleich,
Drei Königen
Todesschicksal,
er hatte sinnlos getrunken;
nicht wehrte er Gudrun.
wenn beide sich oft
vor den Edlingen!

sie dem Bett zu trinken
die Hunde löste sie,
die Trunkenen weckte sie
so rächte sie die Brüder.

die innen waren,
Die Balken stürzten,
die Schildmaide innen
in sengende Lohe.

keine Maid tut je
die Brüder zu rächen:
verkündete sie
eh die Tapfre starb.“

Anmerkung:
Hel ist in der germanischen Mythologie das Totenreich oder der Name der Göttin des Totenreiches; Budlunge ist ein hunnisches Königsgeschlecht. Budli ist der Vater Atlis; Brünne ist ein Kettengeflecht aus Eisenringen, das im Kampf zum Schutz getragen wird.
Auf Hagens Anraten löschen die Eingeschlossenen den quälenden Durst mit dem Blut der Getöteten. Dabei wird erneut die Wein-Blut-Metaphorik eingesetzt (Strophe 2172). Die Stärkung durch das Blut der Toten ermöglicht das Überleben in dem Inferno.

36. Âventiure - „Aventiure wie Rüedeger erslagen wart“.
Rüedeger von Bechelaren kommt auf den Schauplatz. Rüedegers Trauer angesichts der schweren Kämpfe wird als Feigheit ausgelegt. Der Markgaf erschlägt einen Hunnen, der ihn herabsetzt. Diese Aventiure zeigt den inneren Konflikt eines Vasallen, der unvereinbare rechtliche Bindungen eingegangen ist: Denn Rüedeger ist Lehnsmann Etzels und als solcher zur Unterstützung seines Herrn im Kampf verpflichtet. Außerdem hat er Kriemhild einen Eid zu unbedingter Hilfeleistung geschworen. Kriemhild und Etzel fordern jetzt die Einhaltung der Treueversprechen und erzwingen durch Kniefall Rüedegers Eingreifen in den Kampf. Andererseits hat Rüedeger durch die Verheiratung seiner Tochter mit Giselher ein verwandtschaftliches Band mit den Burgunden geknüpft. Durch die Gastgeschenke und durch das „geleite“ zu Etzel hat er ihnen Schutz und Frieden zugesichert. Wenn er seine Verpflichtungen durch eine Parteinahme gegenüber der einen oder anderen Seite verletzt, sieht er sein Seelenheil gefährdet. Rüedeger entscheidet sich schließlich nach schwerem Seelenkampf (Strophen 2211 f.) für die Treue zu seinem Lehnsherrn und tritt gegen die burgundischen Freunde und Verwandten an. Verständnis für Rüedegers Situation zeigt der sonst so grimmige Hagen. Er erbittet und erhält von Rüedeger statt seines zerhauenen dessen neuen Schild. Die Schildgabe Rüedegers unterstreicht seine innere Göße. Daraufhin bleiben Hagen und Volker dem Kampf fern und ziehen sich in Neutralität zurück. Gernot und Rüedeger töten sich gegenseitig; Gernot kämpft mit dem Schwert, das ihm Rüedeger in Bechelaren geschenkt hatte. Alle Mannen Rüedegers fallen. Das Wehklagen und Weinen auf allen Seiten drückt die innere Erschütterung aus, aber auch die Unfähigkeit, den Konflikt zu begrenzen und eine Alternative durchzusetzen. Nach Rüedeger wird Dietrich von Bern, der die Burgunden vor Kriemhilds Rache gewarnt hatte und Neutralität wahren wollte, in das Geschehen hineingezogen, doch zunächst noch nicht als Kämpfer.

37. Âventiure
Dietrich hört die gewaltige Klage. Sein Waffenmeister Hildebrand soll erkunden, ob die Nachricht von Rüedegers Tod zutrifft. Mit einer Schar von Begleitern fordert Meister Hildebrand, dass die Burgunden Rüedegers Leiche herausgeben, damit sie begraben werden kann. Die Weigerung führt zum Kampf, und zwar gegen den ausdrücklichen Willen Dietrichs in seiner Abwesenheit. Tödlicher Schlag und Gegenschlag folgen aufeinander. Giselher und Wolfhart, Hildebrands Neffe, erschlagen sich gegenseitig. Hildebrand tötet Volker. Hildebrand entkommt Hagens Vergeltung mit einer Wunde, während alle anderen Amelunge tot zurückbleiben. Im Palas sind nur mehr König Gunther und Hagen am Leben.
Wer ist Dietrich von Bern?
      In der Nibelungenklage als eine Art Fortsetzung und Kommentar zum NL wird berichtet, wie man unter unendlichen Klagen der Überlebenden die Toten auffindet und bestattet und wie die Kunde von der Katastrophe in der Welt verbreitet wird. Aus der Klagerede, die Dietrich auf Rüedeger hält, erfahren wir, dass Rüedeger sich Dietrichs angenommen hatte, als dieser vor seinen Feinden sein Land verlassen musste und dass er und Etzels erste Gemahlin Helche ihn aufgenommen hatten. Beim Hunnenkönig hat er mit seinen Helden Asyl gefunden. Nach dem Burgundenuntergang will Dietrich nicht länger am Etzelhof bleiben: do wolde ouch wider in sîn lant her Dietrîch von Berne. Mit dem alten Hildebrand reitet er los. Von der Heimkehr wird weiter nichts erzählt..
     
Die Dietrichsage gehört neben der Nibelungensage zum bedeutendsten Komplex der heroischen Dichtung germanischer Herkunft. In Dietrich von Bern lebt die Erinnerung an den Ostgotenkönig Theoderich den Großen fort (um 450-526). Die Verbindung der Sagenkomplexe im Hochmittelalter zeigt, dass man die Nibelungensage nun wesentlich von der Dietrichsage her zu verstehen suchte. Nach der Grundfabel wird Dietrich aus seinem oberitalienischen Erbreich mit der Residenz Bern/Verona vertrieben; er flieht mit seinen Helden und zieht ins Exil zum Hunnenkönig Attila/Etzel. Nach 30 Jahren kann er zurückkehren. Die Sagenüberlieferung hat aus dem historischen Ostgotenkönig Theoderich der Völkerwanderungszeit die literarische Gestalt Dietrich von Bern werden lassen. Aus dem erfolgreichen Eroberer wurde ein vom Schicksal gestrafter Exulant.

Dietrich bricht in Klage aus, als ihm Hildebrand die Nachricht vom Tod seiner Helden überbringt. Es fällt das Wort vom armen Dietrich (2379,4), und Dietrich fragt, wer ihm nun helfen solle, in der Amelunge lant zurückzukehren (2381,4). Er ist der „arme Dietrich“ – weil er vertrieben und wurde und nun alle Amelungen tot sind (Str. 2379f.).
Dietrich von Bern ist Herr der Amelungen. Er empfindet ihren Tod als seine Schuld.
Als Leitfigur eines anderen Sagenkreises hat Dietrich von Bern eine herausgehobene Funktion am Schluss. Er ist im Kampf der Männer der letzte Sieger, aber er kann den Tötungsmechanismus nicht aufhalten.

38. Âventiure - „Aventiure wie der herre Dietrich Gunthern und Hagenen betwanch“.
Dietrichs Bemühen, den letzten Waffengang zu vermeiden, bleibt erfolglos. Gewaffnet begibt er sich zu Gunther und Hagen und bietet ihnen an, sie vor der Rache der Hunnen zu schützen, wenn sie sich ihm ergäben. Hagen lehnt empört ab. Gunther und Hagen sind nicht bereit, sich als Geiseln auszuliefern. Dietrich hat keine andere Wahl als zu kämpfen. Er bezwingt nacheinander Hagen und Gunther, aber er tötet sie nicht. Er ist der einzige im NL, der siegt – ohne zu töten. Mit der Bitte um Schonung übergibt er sie gefesselt an Kriemhild. Weinend geht er davon. 
In einer letzten Konfrontation mit Hagen erreicht Kriemhilds Rache ihr Ziel. Während Gunther im Kerker liegt, nimmt sich Kriemhild Hagen vor. Gefesselt steht er ihr gegenüber; er trägt Siegfrieds Schwert Balmung bei sich. Kriemhild fordert den Hort zurück. Hagen soll zurückgeben, was er ihr genommen hat: Siegfried und den Schatz. Beides ist nicht leistbar, beides sind Zeichen für nicht wiedergutzumachendes Leid. Die Hortverweigerung liefert den letzten Vorwand zur Tötung Gunthers. Kriemhild lässt Gunther enthaupten und tritt mit dem abgeschlagenen Haupt vor Hagen. Und Hagen spielt seinen letzten Trumpf aus: „Jetzt weiß nur ich und Gott, wo der Hort ruht. Dir, Teufelin, wird er immer verborgen bleiben“(2431,3-4). Kriemhild zieht Siegfrieds Schwert aus der Scheide und enthauptet Hagen eigenhändig. „Diese ungeheure Tat einer Frau darf im mittelalterlichen Normhorizont nicht ungestraft bleiben“(Ursula Schulze). Waffenmeister Hildebrand sühnt die Tat und zerstückelt die Rächerin. Etzel und Dietrich sehen schmerzerfüllt zu, sie selbst haben in dem großen Gemetzel niemanden getötet. Das ganze Land beklagt den furchtbaren Untergang und trauert um die Toten.  
Anmerkung zu Strophe 2403. Hier spielt der Dichter auf die Waltherdichtung an, und zwar auf Hagens Rolle in der Auseinandersetzung um Walther von Spanien (Hs B 2344,1-3): „Was werft ihr mir vor“, sagt Hildebrand, als ihm Hagen Feigheit vorwirft, „wer war es denn, der auf einem Schild vor dem Wasgenstein saß, als ihm Walther von Spanien so viele Freunde erschlug?“
Im Waltharius des 9./10. Jahrhunderts wird erzählt, dass Hagen gemeinsam mit Walther von Spanien als Geiseln an Etzels Hof aufwuchsen, und zwar als Geiseln für den Rheinfranken Gunther. Hagen kann sich nach Worms absetzen, als Gunther die Erbfolge im Frankenland antritt, während Walther mit Hildegunde entflieht, wobei er einen Goldschatz entwendet. Habgierig überfällt König Gunther gemeinsam mit Hagen und elf Gefährten Walther von Spanien. Walther verteidigt in der Felsenge am Wasgenstein (in den Vogesen) Braut und Hort. Hagen hält sich aus Freundschaft zu Walther von Spanien zunächst auf dem Wasgenstein dem Kampf fern. Er rät König Gunther zu versöhnlicher Haltung, da er Walthers Kampfleistung kennt. Er will nicht kämpfen. Das Sitzen auf dem Schild ist die symbolische Geste dafür.
Interessant ist, dass von dieser symbolischen Schildgebärde Hagens, die der Dichter des NL nennt, der Waltharius nichts weiß.

Und jetzt der gewaltige Schluss in der mittelhochdeutschen Sprache der Hs B, Strophen 2376-2379:

„Hildebrant mit zorne
er sluoc der küneginne
jâ tet ir diu sorge
was mohte si gehelfen,
Dô was gelegen aller
ze stücken was gehouwen
Dietrîch und Etzel
si klagten inneclîche
Diu vil michel êre
die liute heten alle
mit leide was verendet
als ie diu liebe leide
Ine kann iu niht bescheiden,
wan ritter unde vrouwen
dar zuo die edeln knehte
hie hât daz maere ein ende:    
zuo Kriemhilde spranc,
einen swaeren swertes swanc.
von Hildebrande wê.
daz si sô groezlîchen schrê?
dâ der veigen lîp.
dô daz edele wîp.
weinen dô began,
beide mâge unde man.
was dâ gelegen tôt.
jâmer unde nôt.
des küniges hôhgezît,
z’aller jungeste gît.  
waz sider dâ geschach:
weinen man dâ sach,
ir lieben friunde tôt.
daz ist der Nibelunge nôt.“

Die Handschriften A und B schließen: „daz ist der Nibelunge nôt“. Das ist der „Untergang der Nibelunge“. So sollte der Titel wohl lauten.
Die Bearbeitung C schließt: „daz ist der Nibelunge liet“. Daher der heutige Name des Gedichts. Das ist eine Haltung der Distanz, mit der das Ganze als literarisches Produkt, als liet, bezeichnet wird.

Wer ist Kriemhild?
Das Nibelungenlied thematisiert die ungeheuerliche Tat einer Frau, die alle Normen sprengt. 
Im alten nordischen Atlilied fällt Attila im Bett der Rache einer Frau zum Opfer, deren Brüder er umgebracht hat.
Im Nibelungenlied um 1200 hingegen findet Kriemhilds Rache für den Gatten an ihren Brüdern statt. Weil der burgundische Königshof das Unrecht nicht bestraft, muss sie, Kriemhild, Vergeltung üben. In ihrer Hybris, ihrem übermuot, wird sie schließlich die vâlandinne, die Teufelin, die alle in den Untergang reißt, die selbst tötet – und getötet wird.
Die Nachdichtung „Klage“, etwa um 1230 entstanden, nimmt Partei für Kriemhild und versucht, ihr Handeln aus Treue gegenüber Siegfried zu entschuldigen.
Das Spätmittelalter sucht die Nibelungensage wesentlich von der Dietrichsage her zu verstehen – wie die Nibelungenhandschrift a aus dem 15. Jahrhundert zeigt; diese setzt eine entsprechende Prosaeinleitung, die sich auf Dietrich bezieht, der Dichtung voran. (Weiteres Beispiel: Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms.)
Kriemhilds Wandel von der zartfühlenden Liebenden zum blutdürstenden Racheengel blieb auch für die neuzeitliche Stoffrezeption ein Problem.
J.H. Füßli, der Anfang des 19. Jahrhunderts den Nibelungenstoff von den dominanten Frauen her antikisierend bearbeitete, zeigt Kriemhild in mehreren Zeichungen als laszive Minneherrin, die sich Siegfried auch körperlich gefügig macht. Wie Judith bei Hebbel (oder wie Medusa) präsentiert sie Hagen das abgeschlagene Haupt Gunthers (NL Hs C, Strophe 2429)
In den Nibelungen-Inszenierungen von Moritz Rinke und Dieter Wedel wird Kriemhild als Rächerin und Kindsmörderin wie die Medea der griechischen Tragödie gedeutet, oder sie wird als Widerstandskämpferin gegen die herrschenden politischen Verhältnisse interpretiert.
Beim jungen Regisseur Andreas Wiedermann der Plattlinger Festspiele zeigt sie gar Skrupel und stürzt sich selbst ins Schwert.
Wir dürfen gespannt sein, mit welchem Nibelungen-Schluss uns Dieter Wedel 2013 überraschen wird.