Lesung
Dramatische Szenen
im Nibelungenlied



von Ellen Bender und Petra Riha

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Ellen Bender und Petra Riha; Foto: Dagmar Goerisch..



Lesung des Nibelungenliedes nach der Handschrift C
Nacherzählung und Kommentar

Dr. Ellen Bender und Petra Riha lesen ausgewählte, fortlaufende Abschnitte aus dem Nibelungenlied in der neuhochdeutscher Übertragung von Ursula Schulze mit Kommentar.
In kleinen Leseproben zitieren sie den Text in der mittelalterlichen Sprache, in der die Dichtung aufgezeichnet ist und die auch den heutigen Leser zu fesseln vermag.

I. Lesung der dramatischen Szenen
„Werbung auf Isenstein“ und „Doppelhochzeit in Worms“

7. Aventiure
Die 7. Aventiure der Hs C hat den Werbungsbetrug auf Isenstein zum Inhalt hat: „Wie Gunther ze Islande mit sînen gesellen chom“. Die Werbungsfahrt Gunthers führt über das Meer nach Norden in eine fremde Welt, wo Brünhild als Königin herrscht. Isenstein heißt ihre Burg. Schönheit und Kraft zeichnen Brünhild aus. Ein magischer Kraftgürtel, und zwar aus Seide von Ninive, wie wir später in den Brautnächten mit Gunther erfahren, schenkt Brünhild die Stärke von zwölf Männern. Dieser mythischen Dimension steht Siegfried nahe. Er muss selbst magische Mittel, nämlich die Tarnkappe einsetzen, um Brünhild zu überwinden. Bei der Werbung auf Isenstein gelingt der Betrug der Männer durch das von Siegfried eröffnete Spiel. Er gibt sich als Gunthers man aus und besiegt Brünhild unsichtbar an Gunthers Stelle im Triathlon-Wettkampf, während Gunther lediglich die Bewegungen ausführt. Brünhild übergibt die Herrschaft über ihr Land an den vermeintlichen Sieger Gunther. Als sie ihre Streitkräfte versammelt, entsteht noch einmal eine bedrohliche Situation.

8. Aventiure
Siegfried, der helt von Nibelunge lant, zieht in der 8. Aventiure in sein Reich und lässt heimlich ein tausend Krieger umfassendes Ritterheer zu Gunthers Schutz ausheben. Unerkannt ringt er den Burgwächter-Riesen nieder, dann Alberich, seinen Kämmerer. Der Verlauf des Unternehmens erscheint als Demonstration von Siegfrieds Macht und Herrschaft in einer mythischen Anderwelt: Berge, Höhlen, Riesen, Zwerge und ein unerschöpflicher Schatz kennzeichnen sie. Gunther hält weiterhin am Vasallitätstrug fest, indem er Siegfrieds Kämpfer aus dem Nibelungenland als seine Leute bezeichnet. Auf der Fahrt nach Worms verweigert Brünhild den von Gunther erhofften Beischlaf. Ihre Virginität ist es, die Brünhild nach der politischen Entmachtung bleibt, um die Wahrheit aufzudecken. Diese Kraft ist noch nicht gebrochen.

9. Aventiure
Nach neun Tagen Fahrt (9. Aventiure) schlägt Hagen seinem König vor, einen Boten vorauszuschicken, um die bevorstehende Ankunft König Gunthers und seiner Braut in Worms zu melden. Siegfried übernimmt den Botendienst, denn er ermöglicht ihm die Begegnung mit Kriemhild. Die Erfüllung des Auftrages ist ein letzter Akt seines Minnedienstes. Er kann auch als unstandesgemäße Erniedrigung verstanden werden, die negative Folgen haben muss. Zum Empfang Gunthers und seiner Braut Brünhild sind die Damen aus Burgund in Zobel und Hermelin gekleidet.

10. Aventiure
Die 10. Aventiure des Nibelungenliedes feiert die Doppelhochzeit der beiden Paare Gunther- Brünhild und Siegfried - Kriemhild in Worms. Bei der Begrüßung begegnen sich die beiden Frauen mit großer Freundlichkeit. Siegfried fordert den versprochenen Lohn für seinen Werbungsdienst für Gunther und erhält Kriemhild zugesprochen, die ihrerseits gern einwilligt. Brünhild reagiert heftig, als sich das Brautpaar Siegfried und Kriemhild an der Tafel niedersetzt. Sie sieht in Siegfried einen man Gunthers, der dessen Schwester niemals hätte heiraten dürfen. Ihre Betroffenheit begründet sie mit Kriemhilds unstandesgemäßer Heirat, zumal die Vermählung der Schwägerin mit einem rangniedrigeren Vasall auch ihre eigene êre kränkte. Gunthers Beteuerung, Siegfried sei ein besitzreicher König, genügt ihr nicht. Brünhild reizt Gunther weiterhin verbal, als sie Siegfried einen eigenholt (625,3), einen „Leibeigenen“, nennt und Kriemhild Siegfrieds wine, „Liebchen“ (627,4). Durch diese Provokation möchte sie Klarheit gewinnen, denn entweder ist Kriemhild mit einem Rangniederen vermählt worden oder man hat die Königin auf Isenstein betrogen. In der Nacht folgt eine Kraftprobe zwischen Mann und Frau im Brautbett. Brünhild verhindert den Beischlaf. Gunther unterliegt Brünhilds übermäßiger Stärke. Er muss die Nacht an einen Nagel gehängt an der Wand verbringen. Wieder leistet Siegfried Hilfe für Gunther. Er bändigt Brünhild in der folgenden Nacht im Ringkampf mit Hilfe der Tarnkappe, und Gunther vollzieht selbst den Geschlechtsakt. Der Erzähler erhebt die Schlacht im Ehebett zu einem dramatischen Kampf um Leben und Tod. Dem heutigen Leser, vielleicht auch dem zeitgenössischen Publikum, bleibt das Lachen im Hals stecken. wenn man bedenkt, wie die sich dem sexuellen Akt verweigernde Frau von Siegfried und Gunther mit Gewalt bezwungen wird. Siegfried wie Gunther verstehen den „Geschlechterkampf“ als physische Unterwerfung der Frau, bei dem es gilt, in Brünhild jede Frau, die sich dem Mann widersetzt, zu besiegen. Die Defloration bewirkt, dass Brünhild ihre außerordentlichen jungfäuliche Kraft verliert. Nach der Bezwingung versagt sie sich der ehelichen Liebe nicht länger. Doch die Fragen, die zu ihrer sexuellen Verweigerung geführt hatten, sind nicht geklärt.

11. Aventiure
In der 11. Aventiure „Wie Siegfried seine Frau in sein Reich führte und wie sie dort Hochzeit feierten“ zieht Siegfried mit Kriemhild in sein eigenes Reich. Beim Abschied aus Worms sichern ihm alle drei Brüder Kriemhilds ihre lebenslange Treue zu. Einen Erbteil Kriemhilds am burgundischen Landbesitz lehnt Siegfried ab Nach einem prachtvollen Empfang in Xanten übernimmt der junge König die Herrschaft von seinem Vater. Es vergehen zwölf Jahre. In dieser Zeit wird in Xanten und Worms je ein Königssohn geboren. Jeder erhält den Namen seines Oheims: Siegfried heißt das Kind in Worms, Gunther heißt es in Xanten.


II. Lesung der dramatischen Szenen
„Frauenstreit“ und „Ermordung Siegfrieds“.

12. Aventiure
Brünhild bewegt die Frage, warum Siegfried als Eigenmann keinen Zins zahlt. Ihre Zweifel über Siegfrieds Standesidentität und Vasallenpflicht sind in Hs C deutlicher ausgesprochen als in den Hss. A und B. In der 12. Aventiure trägt sie Gunther den Wunsch vor, dass sie ihre Schwägerin und ihren Schager gerne sehen möchte. Hinterlistig verschweigt sie die wahren Gründe. Nach anfänglichem Zögern willigt Gunther ein und schickt eine Einladung zu den Verwandten nach Xanten. Siegfried, Kriemhild und Siegmund sind bereit zu kommen.

13. Aventiure
Die 13. Aventiure erzählt von Siegfrieds und Kriemhilds Reise und von ihrer Ankunft in Worms. Prachtvoll ist ihr Empfang. Noch spiegeln der gemeinsame Kirchgang und das Nebeneinandersitzen an der Festtafel Harmonie vor. Doch indem Brünhild über Siegfrieds Eigenmannstatus nachdenkt und Kriemhilds Aussehen beobachtet, deutet sich Spannung an.
Brünhild will ermitteln, warum ein Eigenmann keine Dienste leistet. Der Epiker macht für Brünhilds Vorgehen den Teufel als Anstifter verantwortlich und nimmt das Ergebnis vorweg: Die Festfreude verwandelt sich in Leid.

14. Aventiure
Das Zerwürfnis der Königinnen „wie die küniginne mit ander zerwurfen“ in der 14. Aventiure ist der Brennpunkt des 1. Teils des Nibelungenliedes. Die Auseinandersetzung zwischen den Frauen beginnt im Rahmen eines Turniers. Kriemhild bewundert die überragenden Qualitäten ihres Mannes und verbindet damit einen übergreifenden Herrschaftsanspruch. Brünhild weist einen Herrschaftsanspruch Siegfrieds zurück und besteht auf Gunthers Vorrang. Darüber hinaus bezeichnet sie Siegfried - unter Berufung auf die Werbung in Isenstein - als Eigenmann. Auf Isenstein habe sich Siegfried selbst als man des Königs vorgestellt. Kriemhild ersucht die Schwägerin irritiert, so nicht zu reden. Ihre Brüder hätten sie doch nicht zur wine, d.h. zur Geliebten, eines Eigenmannes degradiert. Brünhild beharrt jedoch auf der Einforderung vasallitischer Dienste. Der Zorn der Königinnen steigert sich zu einem unumkehrbaren Zerwürfnis. Kriemhild bezichtigt Brünhild nun in einer ersten Beleidigung der übermüete. Die C-Handschrift, die Kriemhild bekannterweise in Schutz nimmt, spart diese Beleidigung aus. Das Wortgefecht der Königinnen eskaliert in großen Emotionen. Brünhild fordert eine öffentliche Auseinandersetzung über den Rang der Frauen. Kriemhild geht sofort zum Gegenangriff über. Sie will ihren überragenden Adel demonstrieren. Vor dem Münster soll die Demonstration der Ränge stattfinden.
Den Ort vor dem Dom zu wählen, verleiht dem Schauspiel das Gewicht des Rechts. Kriemhild möchte zeigen, dass sie frei und von Adel ist. Brünhild weist sie vor dem Dom zurecht. Eine „unfreie Dienerin“, sagt sie, dürfe nicht vor der Königin gehen. Kriemhild schleudert ihr einen unwahren, aber vernichtenden Trumpf entgegen: Der königliche Körper sei geschändet: Kriemhild beschimpft Brünhild als „kebse“, d.h. als Konkubine Siegfrieds. Sie behauptet, Siegfried habe vor Gunther mit Brünhild geschlafen. Dann rauscht sie triumphierend an der weinenden Königin vorbei ins Münster. Nach dem Gottesdienst verlangt Brünhild sichtbare Beweise für Kriemhilds Anschuldigungen. Kriemhild zeigt die vermeintlichen Beweisstücke, Ring und Gürtel, die ihr Siegfried nach dem Beischlaf gegeben habe. Kraft dieser Gegenstände werden lediglich Halbwahrheiten angedeutet, die aber wirksam genug sind, die Wormser Königin öffentlich zu entehren.
Die Eskalation steigert sich zur unversöhnlichen Beleidigung. Hier fasziniert die psychische Dimension der Auseinandersetzung mit ihrer öffentlichen Konsequenz: Eine Königin, die mit einem eigen man geschlafen hat, hatte nach Ansicht der Zeit ihre Ehre verloren. Brünhild ist die öffentlich Entehrte. Mit ihr sind Hof und Reich geschändet. Die geschändete Königin fordert Siegfrieds Tod. Brünhild ruft Gunther zur Wiederherstellung ihrer Ehre. Die Entehrung fordert den öffentlichen Rechtsprozess. Der König lässt Siegfried kommen. Er wird mit dem Vorwurf der Ehreschändung konfrontiert. Mit erhobener Hand will Siegfried einen Reinigungseid leisten. Ehe er aber etwas beeidigt, spricht Gunther ihn frei. Während der Konflikt zwischen den Königen mit diesem Rechtsakt beigelegt scheint, bleibt das Zerwürfnis der Frauen bestehen. Die tief verletzte Brünhild fordert die Reaktion des Hofes heraus. Hagen beschließt Siegfrieds Tod. Die Frauenstreit-Aventiure endet mit dem Mordrat. Der Rat ist gespalten. Namentlich Giselher spricht sich gegen die Tötung aus. Gunther erinnert an Siegfrieds treue Dienste. Doch Hagens List und das Argument des Machtgewinns für Gunther durch Siegfrieds Tod überzeugen den König.

15. Aventiure
In der 15. Aventiure beginnt die Mordintrige. Zunächst geht es vor allem um die Ermittlung der Verwundbarkeit von Siegfrieds Körper. Wie der antike Achill gehört Siegfried zu den unverwundbaren Helden. Dennoch haben beide Helden eine verletzbare Stelle. Achill kann an der Ferse, Siegfried zwischen den Schultern tödlich getroffen werden. Hagen will die Stelle bei Kriemhild erfragen. Er entlockt ihr das Geheimnis mit Hilfe einer List. Dänen und Sachsen würden einen Kriegszug gegen Burgund vorbereiten. Aus falscher Fürsorge markiert Kriemhild die verwundbare Stelle Siegfrieds mit einem Zeichen auf dem Gewand. Indem sie ihn schützen will, liefert sie ihn seinem Mörder aus.

16. Aventiure
Die 16. Aventiure handelt von Siegfrieds Ermordung: „Wie Sivrit ermort wart“. Nachdem Hagen Siegfrieds verletzbare Stelle erkundet hat, wird die fingierte Fehde abgesagt. Stattdessen bricht man zu einer Jagd in den Odenwald auf, an der Siegfried selbstverständlich teilnimmt. Kriemhild, jetzt schuldbewusst und von unheilvollen Träumen beunruhigt, vermag ihn nicht von der Teilnahme abzuhalten. Zunächst bewährt er sich als der beste aller Jäger. Er tötet die verschiedensten, z.T. exotischen Tiere. Bei dem anschließend im Wald reichlich servierten Essen gibt es keine Getränke. Der Durst soll an einer Quelle gestillt werden. Siegfried, Gunther und Hagen eilen dorthin. An der Quelle lässt Siegfried Gunther den Vortritt. Danach trinkt Siegfried, und Hagen wirft von hinten den Speer in die verwundbare Stelle. Der Todeswurf trifft Siegfried völlig ahnungslos. Vom Tod gezeichnet, verflucht er das Geschlecht der Burgunden. Vor den herbeieilenden Rittern stellt der sterbende Held Gunther und Hagen bloß, richtet aber dennoch seine letzten Worte an den König, bevor er in den Blumen verblutet. Er gibt Gunther die Schutzgewalt über Kriemhild zurück.

17. Aventiure
Nachdem Siegfried wie ein gejagtes Tier im Wald ermordet worden ist, wird er in der 17. Aventiure an den Hof zurückgeführt. Die Mörder legen ihn vor die Kemenate Kriemhilds, so dass er von ihr am Morgen entdeckt, von ihr und dem Vater Siegmund betrauert und schließlich bestattet werden kann. Die Bahrprobe stellt den Mörder bloß: Die Wunden an Siegfrieds Leichnam beginnen zu bluten, als Hagen herantritt. Doch wehrt die Witwe sofortige Racheaktionen Siegmunds in Einschätzung der Machtverhältnisse ab. Kriemhilds tiefe Trauer bestätigt ihre außergewöhnliche Liebe zu Siegfried, die über den Tod hinausgeht und ihr zukünftiges Handeln begründet.

18. Aventiure
Die von Siegfried geknüpfte Verbindung der Häuser Xanten und Worms wird endgültig aufgehoben. In der 18. Aventiure zieht König Siegmund in sein Land zurück. Kriemhild bleibt in Worms bei den Blutsverwandten trotz des ihr zugefügten Leides. Ihre Entscheidung ist durch die Sagentradition bedingt und durch mittelalterliche Rechtsverhältnisse gerechtfertigt. Indem die trauernde Kriemhild nicht aus Worms fortzieht, lebt sie in der Nähe der verantwortlichen Verräter. Die Abschlussstrophe der Aventiure konfrontiert noch einmal Brünhilds Unversöhnlichkeit mit Kriemhilds Trauer; zugleich weist sie auf die Rache voraus, die auch Brünhild in ungeheures Leid stürzen wird.