HELDEN,
MACHT
UND MYTHOS


Über das Nibelungenlied und Hebbels
Verständnis der Dichtung.

von Ellen Bender


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Friedrich Hebbel, Kupferstich, um 1855 ..



Von „helden lobebaeren“ (1,2) will das NIBELUNGENLIED berichten.

Was sind das für ruhmwürdige Ritter, die heroisch in den Untergang gehen!?

Sind es „Helden“, die, weil sie „übermuotig“ und maßlos handeln, ihren Untergang selbst verschulden?

Oder sind es Helden, die scheitern müssen, weil sie, in den Strudel der Machtkämpfe hineingerissen, sich ihrer Ohnmacht bewusst werden und in aufrechter Haltung sich ihrem Schicksal ergeben?

Und: Wäre der Untergang vermeidbar gewesen?

Die Helden leben in einer historischen und geographischen Wirklichkeit. Sie sind „Burgonden“. Sie leben in Worms, dem Mittelpunkt des sagenhaften Burgunderreiches von 406-436 und dem Mittelpunkt des Stauferreiches z.Zt. Barbarossas und Heinrichs VI. von etwa 1160-1200. Die Burgundenkönige und der mächtige Hunnenkönig Etzel-Attila sind wirkliche Herrscher des 5. Jahrhunderts. Das sozial-politische Umfeld ist jedoch das des mittelalterlichen Lehensstaates der Stauferzeit, der Atmosphäre um 1200. Neben der Königsburg steht der Dom. Zur Hochzeit gehört die kirchliche Einsegnung ebenso wie zu Siegfrieds Schwertleite. Es gibt Anspielungen auf die zeitgenössische Mode (Kleidung), Literatur (Wolfram; Waltherdichtung) und Gesellschaft (höfische Feste, wie z.B. das Mainzer Hoffest oder die Hochzeit Friedrichs I. mit Beatrix von Burgund). Der Nibelungendichter kleidet die Helden in das Gewand seiner Gegenwart, aber er sieht sie nicht in der Gegenwart, sondern in der Geschichte. Was er erzählt, ist ihm aus „alten maeren“ zugekommen. Er dichtet einen historischen Stoff vom Untergang der Burgunden.

Und wie steht HEBBEL seiner Quelle, dem NIBELUNGENLIED, gegenüber?

HEBBEL identifiziert sich mit dem alten Gedicht. Er gestaltet die Figuren, indem er sie psychologisiert. Und seine pathetische Sprache stilisiert die Personen der Handlung.

Er setzt das Epos in ein dreiteiliges Drama um. Er deutet Siegfried und Brunhilde aus der Vorgeschichte und Mythologie, und er stellt die Nibelungenwelt in seine mythische Geschichtskonzeption.

Aber: Ist es möglich, den Figuren des NIBELUNGENLIEDS Psychologie zu geben, ohne sie dabei im Kern zu verändern – und: Ist es möglich, das NIBELUNGENLIED, eine aus mittelalterlichen Gegebenheiten entsprungene, dichterische Gestaltung eines heroischen Stoffes, aus den modernen psychologischen Forderungen des 19. Jahrhunderts neu zu formen?

Versuchen wir einen Vergleich.

Die Helden

Siegfried – Gunther – Hagen

im NIBELUNGENLIED und in HEBBELS Nibelungen.

Siegfried


Im NIBELUNGENLIED kommt Siegfried nach Worms, um die Herrschaft über das Burgundenreich zu erlangen und um die burgundische Königstochter Kriemhild zu werben.

Macht und Liebe sind die Motive von Siegfrieds Handeln.

Siegfried will Kriemhild durch seine Taten verdienen (47). Bei der Ankunft in Worms tritt er dann zwar nicht mit einem Kriegsheer, aber doch als Aggressor auf, der um Land und Herrschaft kämpfen will (107-110).

Der Nibelungenschatz, das Nibelungenschwert Balmung, der Tarnmantel und die schützende Hornhaut aus dem Nibelungenland kennzeichnen Siegfrieds überragende Macht.

Gunther und Hagen sind von der Unermesslichkeit des Nibelungenschatzes beeindruckt.

Umgekehrt reizt Siegfried die Macht der Burgunden.

Siegfrieds grundloser Angriff auf legitim ererbte Herrschaft musste als Unrechtsakt und Friedensstörung gelten. Durch Gunthers Höflichkeitsgeste „Alles, was wir haben, steht in Ehren zu Eurer Verfügung“ (127) gelingt es, Siegfried in die höfischen Spielregeln zurückzuführen.

Bei der Brautwerbung Siegfrieds lockt die Macht der Burgunden hier am Rhein und die weibliche Schönheit Kriemhilds.

Siegfried erreicht sein Ziel, die Erwerbung Kriemhilds, durch den Betrug an Brünhild. Und

Siegfried muss sterben, weil er sich durch den Betrug an Brünhild bei der Freierprobe und in der Brautnacht schuldig gemacht hat. Er gibt sich als Gunthers „eigen man“ aus, unternimmt es aber, anstelle des Burgundenkönigs, Brünhild zweimal zu besiegen.

HEBBEL nun psychologisiert das Motiv für Siegfrieds Tod. Siegfried und Brunhilde sind bei HEBBEL auf einer mythischen Ebene einander zugeordnet. Siegfried sah Brunhilde in früherer Zeit, aber er erwählte sie nicht zur Frau. Es ist die verschmähte Liebe, für die sich Brunhilde rächen will:

„Und rächen werd’ ich mich!


Verschmäht! Weib, Weib, wenn du in seinen Armen


Auch eine Nacht gelacht hast über mich,


So sollst du viele Jahre dafür weinen“



(„Siegfrieds Tod“, 3. Akt, 8. Szene).

Und weiter:

Ich ward nicht bloß verschmäht,


Ich ward verschenkt, ich ward wohl gar verhandelt!“



(„Siegfrieds Tod“, 3. Akt, 11. Szene).


Gunther


Gunthers Motiv des Handelns bei der Erwerbung Brünhilds ist sein Begehren: die sexuelle Macht über die Amazone Brünhild, die den männlichen Selbstwert erhöht.

Ihre physische Kraft reizt ihn – wahrscheinlich, weil er selbst diese Kraft nicht besitzt.

Gunther sucht die starke Frau. Er braucht eine „Powerfrau“, um von seinen eigenen männlichen Unzulänglichkeiten und seinem Versagen als Mann und als König abzulenken.

Brünhild fasziniert Gunther, weil er sie nicht überwinden kann. Da kommt ihm der starke Siegfried als Werbungshelfer gerade recht. Brautwerbung als Kräftemessen zwischen Mann und Frau. Im NIBELUNGENLIED sieht Gunther die Chance, die schöne starke Brünhild als

Frau und Königin durch die konditionale Verknüpfung mit der Werbung Siegfrieds für sich zu

gewinnen (Str. 333f.): „Wenn du für mich Brünhild erwirbst, gebe ich dir meine Schwester zur Frau“ sagt Gunther.

Und Gunther versagt. Er versagt bei der Freierprobe und in der Hochzeitsnacht.

Ist es - psychologisch gesehen - die Angst des Mannes vor der Frau und vor dem Versagen

der eigenen Potenz? Gunther fürchtet die Schande der Niederlage gegen eine Frau. Die Ehre

des Burgundenhauses erfordert, dass Gunthers Unterlegenheit unter Brünhild nicht offenbar wird. Und darum muss Siegfried in den Betrug an Brünhild einwilligen, der dann alles weitere Unheil heraufbeschwört.

Gunthers Fehlverhalten zeigt sich auch bei der formalrechtlichen Erledigung des Königinnenstreites. Hier handelt es sich um ein unzulängliches Schein-Verfahren. Siegfrieds und Gunthers Schuld bleibt verborgen. Gunther bezieht keine Stellung und verzichtet auf die Abnahme von Siegfrieds Eid. Die Ehre Brünhilds ist durch Siegfrieds Weiterleben in Frage gestellt. Sie kann nur durch rächende Vergeltung wiederhergestellt werden. Und Hagen vollzieht die Tat.

HEBBEL hat die Rolle, des burgundischen Königs, der versagt, konsequent ausgebaut.

Gunther versagt vor den Kampfbedingungen Brunhildes, die er erwerben will, er versagt in der Hochzeitsnacht und er versagt, als es gilt, seinen Schwager und Helfer Siegfried vor Hagens Mordlust zu schützen. In der verhängnisvollen Beratung nach dem Königinnenstreit steht Hagens Mordwille gegen den Widerstand der jüngeren Brüder. Gunther hat nur ein paar belanglose Stichworte, zur Sache schweigt er – nicht aus Entschlossenheit, sondern aus Schwäche. Gunther sträubt sich, seine Zustimmung zum Mord zu geben – „er soll nicht sterben“ („Siegfrieds Tod“,V. 1894) -, aber er duldet es, dass Hagen darüber hinweggeht und sich anschickt, Kriemhild das Geheimnis von Siegfrieds verwundbarer Stelle zu entlocken. Und weiter so: Noch auf dem Mordplatz verharrt er gegenüber Hagens drängenden Reden in der Einsilbigkeit des Unentschlossenen: „Noch befahl ich’s nicht“ (V. 2286) und „es ist noch Zeit“ (V. 2319). Er befiehlt nicht, denn die Möglichkeit des Befehlens ist ihm längst genommen; er lässt geschehen. Er hat kein Wort zu dem sterbenden Siegfried. Und diese Einsilbigkeit, hinter der sich Unsicherheit verbirgt, bleibt bis zuletzt, bis zur Bahrprobe und Kriemhilds Gerichtsforderung.

Das ändert sich im 2. Teil, wie im NIBELUNGENLIED so auch bei HEBBEL. Zwar bleibt Gunther hinter Hagen im Schatten, aber seine Haltung ist jetzt aufrecht. Als Rüdeger zu Beginn von „Kriemhilds Rache“ Etzels Werbung vorträgt, führt Gunther als König die Unterhaltung und weist Hagen seine Stellung als Vasall zu. Und plötzlich kann der schweigsame Gunther des 1. Teils reden, wenn er auch später bei HEBBEL hinter Hagen wieder zurücktritt.

Die Gestalt Giselhers ist übermütig und jünglingshaft schwärmerisch. Er ist der einzige, der der Stimme des Herzens und des Gewissens folgt und bis zuletzt an menschliche Güte glaubt. Noch in der letzten Szene, in der Giselher unmittelbar vor seinem Ende auftritt („Kriemhilds Rache“ V. 10) wird beides vernehmbar. Und Kriemhild sagt nach seinem Tod „Nun wohl, so ist es aus“. Erst jetzt „ist es aus“ mit jeder Möglichkeit menschlichen Einlenkens und Verzeihens.

Die Helden im NIBELUNGENLIED sind Männer der Tat, definieren sich durch ihre Handlungen und Taten.

Geld und Macht sind wichtig. Und ebenso der Eros. Der Mann reibt sich am Gegenbild der

Frau wie Gunther an Brünhild. – Und sie sind maßlos.

HEBBEL schreibt in „Mein Wort über das Drama“: „In der Maßlosigkeit liegt die Schuld“.

Er beschreibt die Schuld weiter darin, dass sie alles menschliche Handeln begleitet und sagt:

„Das Maß kann man im Guten wie im Bösen überschreiten.“ Gerade dies ist die Situation der

Helden im NIBELUNGENLIED. Sie handeln aus den in ihrer Welt geltenden höchsten

Sittenforderungen, nämlich aus „Ehre, Treue und Recht“. Aber indem beide Parteien in ihrer Treue ins Maßlose gehen, fügen sie der anderen Leid zu und machen sich schuldig.

Unter HEBBELS Gestalten steht Siegfried allein. Siegfried erscheint als ein Märchenheld aus mythischer Vorzeit, als göttliches Naturkind, ein Riese an Kraft, als der strahlende Fremdling aus dem Abenteuerland. Ein solcher Siegfried kann auf der Bühne nur ein Opernheld sein.

Seine Taten sind Abenteuer, die ihm zustoßen. Davon ist auch die Werbungshilfe für Gunther nicht ausgenommen. Er siegt und gewinnt so achtlos, wie er liegen lässt und verschenkt. So gewinnt er Brunhilde und verschenkt sie an Gunther, weil sie ihm nicht gefällt und geht seines Weges. So hat er den unermesslichen Hort gewonnen und verschenkt ihn bei der Verlobung an Kriemhild (V. 1244ff.). So zeichnet ihn Hagen (V. 4478ff.) mit der Wut des Mannes, der sich alles mühsam erarbeiten (vgl. „arebeit“ im NL) musste.

Siegfried ist ganz der naive, ahnungslose Held, der aus dem Impuls des Augenblicks handelt - man beachte z.B. wie er als lustiger Jäger auf die vorgetäuschte Jagd zieht (unter Karin Beiers Regie erklingt das Lied „Ein Jäger aus Kurpfalz“)-, Hagen hingegen ganz der planende, auf sein Ziel gerichtete Rechner. Und dieses Ziel ist Siegfrieds Tod. Darauf zielt der vorgespielte Sachsenkrieg und die List im Gespräch mit Kriemhild, die er veranlasst, ein Zeichen auf Siegfrieds Gewand zu sticken. Geht es ihm um Rache für das Unrecht an Brunhilde? Was ihm Brunhilde wirklich gilt, enthüllt die 9. Szene, in der Hagen von der schicksalhaften Liebe der letzten Riesin und des letzten Riesen spricht (V. 2165):

„Ein Zauber ist’s,


Durch den sie ihr Geschlecht erhalten will,


und der die letzte Riesin ohne Lust,


Wie ohne Wahl, zum letzten Riesen treibt.“



(„Siegfrieds Tod“, 4. Akt, 9. Szene)

Hagen glaubt die Riesen, für die er Siegfried und Brunhilde hält, durch sein Eingreifen außer Gefecht setzen zu können, um so die alte Ordnung am burgundischen Königshof wieder herzustellen.

Hagens Tat erwächst aus dem Hass des Menschen gegenüber dem Machtmenschen. Und Siegfried erkennt beim Sterben den entscheidenden Punkt. „Das tat dein Neid“ (V. 2439).

Die Macht Siegfrieds fordert Hagens Neid heraus. Dieser Hagen, der die Lösung im Tod der beiden „Riesen“ sieht, dem leiblichen Siegfrieds und dem seelischen Brunhildes, ist nicht der Hagen des NIBELUNGENLIEDS. Er ist der Verfechter der Menschheit gegen jenes „andere, mythische Geschlecht“, das aus der Verbindung der letzten Riesen entsprossen, die Menschheit mit Untergang bedrohen würde. HEBBEL schreibt in seinem Brief an Hettner, dass der Raub von Brunhildes Gürtel und der daraus entstehende „plumpe Weiberzank“ nicht hinreichend sind, „um den Untergang einer Welt daran zu knüpfen“. Er meint den Untergang einer ganzen Welt und damit den Untergang der Menschheit. Nicht nur wie im NIBELUNGENLIED den Untergang der Burgunden.

Die Motive in HEBBELS Nibelungen, enttäuschte Liebe, Hass, Neid, Machtstreben, Rachsucht, sind Antriebsmomente der Handlung, vor allem Macht.


Macht.


Das rote Gold, der Nibelungenschatz, ist der Ursprung und das bestimmende Moment aller Vernichtungskämpfe in HEBBELS Drama, auch am Etzelhof.

Siegfried selbst berichtet in Ahnungslosigkeit: „Mich trieb die Lust am Kampf so weit hinunter“, erzählt er. Dieser Trieb der Lust am Kampf führt ihn tatsächlich weit hinunter, zum Kampf um den Hort, zum Kampf um Macht. „Und ich traf dort gleich den ersten Tag bei einer Höhle zwei junge Recken, die sich grimmig stritten. Es waren Brüder, König Nibelungs Söhne, die ihren Vater kaum begraben hatten – erschlagen auch, wie ich nachher vernahm – und schon ums Erbe zankten. Ganze Haufen von Edelsteinen lagen aufgetürmt um sie herum,

dazwischen alte Kronen, seltsam gewundne Hörner und vor allem der Balmung, aus der Höhle aber blitzte das rote Gold hervor.“ („Der gehörnte Siegfried“, 4. Szene).

Die Ambivalenz Siegfrieds besteht nun darin, dass er, das Götterkind in HEBBELS Weltsicht, das die Welt erneuern sollte, etwas ganz anderes hervorbringt, nämlich die moderne Welt mit ihrem Kampf ums Gold: Das rote Gold, von dem gesagt wird, dass es sich automatisch von selbst vermehrt.

„Und der Hort


Ist reich genug, und käm’ die ganze Welt.


Ja, er vermehrt sich selbst, es ist ein Ring


Dabei, der immer neues Gold erzeugt,“


(„Kriemhilds Rache“, 4. Akt, 3. Szene).

Bezogen auf die moderne Welt ist das Kapital in einem permanent sich steigernden Wachstumsprozess begriffen. Und: Geld regiert die Welt. Wer Geld hat, hat die Macht, ob in der Wirtschaft oder am atomaren Schaltpult. Der Tarnmantel symbolisiert die Tatsache, dass die erfolgreichsten Interessenskämpfe die getarnten sind. Und die Hornhaut ist Bild der modernen Tendenz, den Tod aus dem Bewusstsein zu vertreiben. Hagen sagt von Siegfried: „Er hat den Tod ja abgekauft und so den Mord geadelt.“ („Siegfrieds Tod“, 5. Akt, 1. Szene).

Er meint damit, dass Siegfried die Nibelungenkönige getötet hat, um den Schatz zu bekommen. Für Geld also!

Überhaupt Hagen


HEBBEL lässt Hagen von sich sagen, dass er ein „Elfenkind“ sei und daher das doppelte Gesicht habe („Kriemhilds Rache, 4. Akt, 22. Szene, V. 4943 ff.). Es scheint, dass HEBBEL die nordische Thidreskssaga (wie auch die Völsungasaga) gekannt hat. Denn in der Saga ist Hagen ein von einem Alben gezeugter Halbbruder der Könige. Und dort ist auch von einem Zwist im mordbefleckten, fluchbeladenen Königshaus die Rede. „Im Hause Groll und Zwiespalt“ („Kriemhilds Rache“, 1. Akt, 2. Szene, V. 2838).

Im NIBELUNGENLIED wird das Bild Hagens durch seine Vasallität bestimmt. Er handelt in den meisten Situationen aus Gefolgschaftstreue zu den Burgunden. Seine Treue zum Königshaus geht ins Maßlose, macht ihn zum hinterlistigen Mörder.

Hagen ist der politische Berater der Burgundenkönige. Hagen als Mann der Tat ist der Siegfried-Mörder. Seine Tat, die Ermordung Siegfrieds, sieht er als staatspolitische Aufgabe; aber sie ist ruchlos und hinterhältig.

Seine Schuld wird in einem Gottesurteil offenbar. Als Hagen an die Bahre tritt, beginnen Siegfrieds Wunden zu bluten (1044).

Und er erneuert seine Täterrolle sogar. Er sieht in der Versöhnung zwischen Kriemhild und Gunther nach dreieinhalb Jahren ein Mittel, die geschwisterliche

Bindung wieder herzustellen, um Kriemhild dazu zu bewegen, den Hort nach Worms zu holen (1107). – Damit er ihr dann den Hort wieder wegzunehmen kann.

Reichtum begründet Macht und dient der Herrschaftssicherung. Der Hort erscheint als besonderes Objekt von Hagens Machtstreben. Das Nibelungengold ist Ziel seiner Gier.

Die auf Hagens Machtargument (1128; 1130) betriebene Versöhnung Gunthers mit Kriemhild während ihrer Witwenzeit (1114ff.) ist nur Mittel zum Zweck, nämlich zur Hortgewinnung.

Der Hortraub geschieht gegen Gunthers Willen, aber er schreitet auch nicht dagegen ein.

Die Motivation für Hagens Handeln sind der Vorteil für Gunthers Hof und die Erhaltung seiner Herrschaft in Worms, sei es bei dem Mord an Siegfried, beim Hortraub (1107,3-4), bei

der Warnung vor Kriemhilds Ehe mit Etzel oder bei der Warnung vor der Reise an den

Hunnenhof.

Die Hagenfigur demonstriert die Fragwürdigkeit des heroischen Krieger-Ethos. Für den trotzig aufbegehrenden Hagen gilt allein die bedingungslose Vergeltungssucht um der eigenen

„êre“ willen. Und sein hohnlachender Zorn bei der Ermordung des Fährmanns (Str. 1621f.) erweist sich als reine „übermütige“ Mordlust.

Hagen macht sich der superbia, der heroischen „alten übermüete“ schuldig. Dies zeigt sich vor allem bei der Tötung Siegfrieds, beim Hortraub und in der Schlusskatastrophe. Die Rache als Vergeltung der Schuld ist maßlos.

Mit Hagen hatte das NIBELUNGENLIED einen einheitlichen, auf wenige starke Handlungsmotive gestellten Charakter vorgeprägt. Er ist von Anfang an fertig. Denn wenn er zum einen als hinterlistiger Mörder und zum anderen als „guter Held“, als treuer Dienstmann seiner Könige und als „der Nibelunge trôst“ erscheint, so ist das kein Unterschied des Charakters, sondern der Wertung.

Auch für Hagens Hass gegen Siegfried fand HEBBEL wenigstens den Ansatz im NIBELUNGENLIED. Er liegt in dem uralten „Machtmotiv“, der Eifersucht der burgundischen Helden gegen den übermächtig werdenden Einfluss des Fremdlings. Im NIBELUNGENLIED bricht er vor allem zwei Mal unverhüllt durch, bei der Mordberatung (Str. 870) und im Jubel Hagens angesichts des sterbenden Helden, „wol mich , deich sîner hêrschaft hân ze râte getân“ (993,4), etwa:“ Wie bin ich glücklich, dass ich seiner Herrschaft ein Ende gemacht habe“.

HEBBEL hat diese Konzeption Hagens nur noch stärker und konsequenter durchgeführt; Hagen ist überall der unbestrittene Protagonist. Der sieggewohnte Hagen verzeiht Siegfried nicht, dass der ihn beim Werfen des Felsblocks spielend übertroffen hat („Der gehörnte Siegfried“, 2. und 3. Szene). Das ist im NIBELUNGENLIED anders. Dort treten Hagen und Siegfried im Wettspiel nicht gegeneinander an.

Hagen ist der einzig wirklich Wissende innerhalb der Welt der Nibelungen. Er versenkt den Nibelungenhort in den Rhein, gibt ihn der Natur zurück und verschweigt den Ort seiner Versenkung unter Preisgabe seines eigenen Lebens.

Das Motiv der Rechtsforderung Kriemhilds, d.h. der Forderung nach Gericht über Hagen, hat HEBBEL bis in den letzten Teil der Tragödie weitergesponnen. Hagen eignet sich beim Mord das Schwert Balmung von Siegfrieds Seite an, und Kriemhild ruft aus: „Zum Mord den Raub! Ich bitte um Gericht“ (V. 2703). Doch wie auch im vierten Akt, 4. Szene von „Kriemhilds Rache“ scharen sich die Burgunden um Hagen, lehnen sie eine Verurteilung oder Auslieferung Hagens ab. Kriemhild kann keine gerechte Bestrafung des Mörders erreichen. Im Gegenteil. Kriemhilds Ohnmacht hat HEBBEL ausgebaut durch die freie Erfindung eines zweiten rechtlichen Vorgangs, der Eideshilfe der Burgunden für den offenkundigen Mörder

Hagen. Hagen fragt seine Sippen: „Seid ihr bereit, zu schwören, daß ich kein Meuchler und kein Mörder bin?“ Alle bis auf Giselher antworten: „Wir sind bereit.“(„Siegfrieds Tod“, 5. Akt, 9. Szene). Bei der 2. Aufforderung Hagens, an Giselher gerichtet, schließt sich dieser zögernd an: „Ich bin bereit“. Damit sind auch die jüngeren Brüder in die Mordschuld und in das spätere Schicksal der Burgunden verstrickt.

Der 4. Akt von „Kriemhilds Rache“ schließt mit der Nachtwache unmittelbar an den 3. an und

führt zum Ausbruch der Kämpfe im Bankettsaal. In der ersten Szene singt Volker im nächtlichen Geigenspiel das Lied vom Fluch des Goldes im engen Anschluss an die mythische Vorgeschichte von Siegfrieds Hort, wie der Norden sie erzählte (V. 4323ff.). Hebbel hat auf die blutige Vorgeschichte des Hortes schon vorher angespielt (V. 2884ff.) und lässt Hagen von dem Zauberring wissen, der sich selbst vermehrt („Kriemhilds Rache“, 4. Akt, 3. Szene). Aber er hat den Fluch des Goldes nicht zu einem Leitmotiv des Dramas

gemacht (wie es z.B. Richard Wagner im „Ring“ tut). Dafür steigert HEBBEL den Mythos ins Urtümliche und Kosmische. Die Geschichte des Nibelungenhortes ist nur ein Teil eines Weltgeschehens, das mit dem Aufblitzen des Goldes in der Urnacht vor aller Zeit beginnt und Ragnaroke (V. 4333), den Götter- und Weltuntergang im Weltenbrand überdauert.

Die große 4. Szene des 4. Aktes beruht stofflich auf viel spätere Passagen des NIBELUNGENLIEDS, dem letzten Versuch einer Verhandlung, Recht und Gericht zu finden, bevor Kriemhild den Saal anzünden lässt. HEBBEL hat sie zu einer großen Auseinandersetzung zwischen Hagen und Kriemhild gesteigert. Hagen hört gelassen dem Handel um sein Leben zu, er weiß sich in der Welt der Gefolgschaftstreue geborgen, und keiner tritt zurück, auch die jüngeren Brüder Gerenot und Giselher nicht. Wie auch schon vorher auf Kriemhilds Hohnfrage („Wer hat Euch eingeladen, daß Ihr es wagt, mit Eurer Schuld hierher zu kommen“) Hagen gleichmütig geantwortet hat: Man hat die drei Könige eingeladen; als ihr Dienstmann ziehe ich mit, wohin sie fahren. (NL 1787f.; HEBBEL V. 4020ff.) Erst jetzt weiß Kriemhild endgültig, dass der Weg zu Hagens Kopf nur über ihre Brüder gehen kann – und sie ist entschlossen, ihn zu gehen, gnadenlos und eiskalt.

Kriemhild fordert auch zum Schluss „Wahrheit und Recht“, d.h. Recht und Gericht über den Siegfried-Mörder und Horträuber Hagen.

In der letzten Szene folgt HEBBEL dem Epos Schritt für Schritt bis in den Wortlaut hinein.

Kriemhild sieht nur noch ihr Recht, und alles Unrecht, das sie tut, ist nur noch die notwendige Folge des Unrechts, das ihr angetan worden ist. Recht und Unrecht, Tat und Gegentat stehen zu gleichem Maß gegeneinander. So kommt es zu dem fürchterlichen gegenseitigen Morden. Die kausale Verkettung von Unrechtstat und Schuld schließt sich. Es folgt die Horterfragung, die Hortverweigerung durch Hagen, Gunthers Ermordung. Hagens letztes Triumphwort, sein Tod durch Kriemhilds Hand und der tödliche Schwertstreich Hildebrands gegen Kriemhild. Nur eines ändert HEBBEL ab. Er lässt Kriemhild ihre Hortforderung damit begründen, dass sie ihren Helfern den Hort als Lohn zugesichert hat. Es ist dies der Versuch, Kriemhild von dem Vorwurf der Besitzgier zu entlasten. Das ist zwar ehrsam, aber allzu bieder-bürgerlich. Wir haben gesehen, dass im mittelalterlichen Epos der Anspruch auf den Hort und auf Rache gleichberechtigt nebeneinander stehen. HEBBEL hingegen macht den Hort zu einem Mittel der Rache.

Über die letzten Worte Etzels und das viel umstrittene Wort Dietrichs ist hier nichts mehr zu sagen. Sie gehören in HEBBELS Geschichtsmythos. Kriemhild und Hagen gehen unter, und in keinem von beiden leuchtet eine Zukunft auf. Diese wird von Dietrich, dem Überwinder der alten Zeit, getragen.


Wer hat Schuld?
Gedanken zum Mythos des Untergangs.


Die Tragik der HEBBELSCHEN Nibelungen entwickelt sich aus dem unversöhnlichen Widerstreit zwischen der Treue Hagens zu den Königen und der Treue Kriemhilds zu ihrem toten Gatten.

HEBBEL lässt beiden Seiten ihre tragische Größe. Schicksalhaft gegeneinander gestellt, sind sie sich ihres Schicksals bewusst bis in den Untergang.

Die Burgundenkönige wie Kriemhild berufen sich auf das höchste sittliche Gesetz, das in ihrem Bereich gilt, auf die Treue. Kriemhild wie Hagen haben die Würde der Treue. Aber Treue und Untreue sind unlöslich miteinander verflochten. Jedes notwendige Handeln aus

Treue auf der einen Seite wird notwendiger Verstoß gegen Treue auf der anderen Seite. Ich möchte dies an einem Beispiel erläutern.

Hagen handelt in Treue zu seinen Königen einerseits, andererseits aber in Untreue, indem er das von Kriemhild in ihn gesetzte Vertrauen bricht. Er ersticht Siegfried, als dieser ahnungslos am Brunnen Wasser trinkt.

HEBBEL sah den kommenden Nihilismus und Faschismus voraus, weil er konsequent die Prinzipien der Gesellschaft seiner eigenen Zeit zu Ende dachte.

Dieses Zuendedenken wird besonders eindringlich in Etzels Worten:

„Sie (die Nibelungen) stehen jenseits der Natur und brauchen


Als Waffe, was im Abgrund still versank,


Eh’ sich der Bau der Welt zusammenschloß.


Sie werfen uns den Kot der Elemente,


Der, ausgeschieden, unten sitzenblieb,


Als sich die Kugel rundete, hinein.


Sie reißen alle Nägel aus und sägen


Die Balken durch.“


(„Kriemhilds Rache“, 5. Akt, 9. Szene).

Der Mensch, der aus der Natur heraustrat, um sie zu beherrschen, reißt auch das Innerste der Natur auf, zersägt die Erdkugel, indem er die Elemente aus ihr heraussprengt. Die Freisetzung der Atomenergie wird hier vorausgedacht, und zwar durch konsequentes Zuendedenken der Prinzipien der modernen Naturforschung. HEBBELS Nibelungentrilogie ist keine archaisierende Mythendichtung, sondern beschreibt eine bestimmte weltanschauliche Position. HEBBEL sieht sich in einer Zeitenwende, die er damit charakterisiert, dass die Gesellschaft nicht mehr an übergeordnete Werte glaubt. Die Nibelungenhelden zeigt er als illusionslose Nihilisten, die keine Orientierung an einer positiven, sinngebenden Weltordnung haben und deshalb dem Untergang geweiht sind.

Als Fazit versucht HEBBEL zugleich zwei Alternativen zur Nibelungenwelt zu entwickeln, und zwar in den Gestalten Etzels und Dietrichs von Bern.

Bereits in seinem ersten Gespräch mit Kriemhilde spricht Etzel von den drei stärksten Männern, denen die Weltherrschaft zugeteilt sei: Siegfried, er selbst, der dritte und mächtigste sei jedoch Dietrich.

Siegfried ist tot. Wer ist Etzel? Auch er ist wie Brunhilde und Siegfried von HEBBEL den Göttern zugeordnet, und zwar in dem Sinne, dass er als apokalyptischer Reiter vom Himmel gesandt wie eine Elementargewalt das Strafgericht der Götter auf Erden ausübt: „Ich ritt einmal das Roß, von dem dir nachts in dem gekrümmten funkelnden Kometen am Himmel jetzt der Schweif entgegenblitzt.“ So will er nun noch einmal das apokalyptische Roß besteigen und das Strafgericht an den Nibelungen vollziehen: Zu Kriemhild:

„Und gern besteig ich’s in gerechter Sache
zum zweiten Mal und führe Krieg für dich.
Ich will dich rächen an den Deinigen
Für all dein Leid und hätt es längst getan,
Hättst du dich mir vertraut, nur müssen sie
In vollem Frieden erst geschieden sein.“

(„Kriemhilds Rache“, 4. Akt, 14. Szene).

Diese in der Figur Etzels angelegte Alternative zur Nibelungenwelt besteht also darin, dass Recht und Gerechtigkeit wiederhergestellt werden sollen durch eine alles reinigende Elementargewalt.

Die zweite und wichtigere Alternative aber ist Dietrich von Bern. Dieser vertritt gleichsam den umgekehrten Standpunkt gegenüber den herrschenden Prinzipien der Gesellschaft: Menschlichkeit, statt Macht- und Besitzgier. Obgleich er physisch stärker und mächtiger ist als alle anderen, verzichtet er auf Herrschaft und Besitz, verschenkt seine Güter.

„Ich selbst erschrak“, sagt Etzel von ihm, „als er mit abgelegter Krone vor mich trat und seinen Degen senkte...Ich hätt’ ihn gern mit meinen reichsten Lehen ausgestattet, doch nahm er nichts als einen Maierhof, und auch von diesem schenkt’ er alles weg.“ Zu Kriemhilde: „Errätst auch du ihn nicht? Er ist ja Christ wie du.“ („Kriemhilds Rache“, 3. Akt, 3. Szene).

Dietrich von Bern hat daher auch das letzte Wort in HEBBELS Nibelungentragödie: „Im Namen dessen, der am Kreuz erblich!“ Die Hebbelforschung hat fast übereinstimmend immer wieder darauf hingewiesen, dass dieses Schlusswort nicht bedeuten kann, dass die Nibelungenwelt nun abgelöst werde durch das neue Zeitalter des Christentums, im Sinne also eines historischen Wechsels vom germanischen Heidentum zum Christentum. Dazu ist die Nibelungenwelt viel zu stark mit christlichen Momenten durchsetzt. Und

umgekehrt ist auch Dietrich von Bern selbst nicht eindeutig dem Christentum zuzuordnen. Auch er empfängt sein geheimstes, höchstes Wissen von den alten Göttern und Nornen am

Nixenbrunnen und bejaht Irings Hoffnung, in Wodans Eichenhain Hilfe und Rat zu finden in den Wirren der Zeit. Was HEBBEL durch Dietrichs letzte Worte ausdrücken wollte, war die Überzeugung, dass nur durch Verzicht auf Macht und Besitz, durch Aufsichnahme des

Leids, wie sie in Christi Kreuzigung zum Ausdruck kommt, die Welt einer besseren Zukunft entgegengeführt werden könnte. Doch so wie das Christentum sich in den Machtkämpfen seiner zweitausendjährigen Geschichte selbst verbissen hat, so wird auch in HEBBELS

Drama alles, auch Dietrich, in den Strudel der Machtkämpfe hineingerissen.

Letztlich bleibt die Zukunft offen, ohne eindeutige Perspektive. „...und keiner weiß, was kommen soll“ sagt Etzel. Daran ändern auch die beiden Alternativen zur Nibelungenwelt nichts, die in Etzel und Dietrich verkörpert werden.

Ich komme noch einmal auf das NIBELUNGENLIED zurück.

Siegfried, Gunther, Hagen,
Helden ohne Skrupel, ohne Gewissen.

Lüge und Betrug bestimmen ihr Handeln.

Es gibt aber auch im NIBELUNGENLIED die Haltung der „erbermde“, in Dietrich von Bern angelegt, die den fatalen Kausalzusammenhang von Schuld und râche zu durchbrechen sucht.

Dietrichs Verhalten während der Saalschlacht steht im Zeichen einer barmherzigen Gesinnung. Er wird hier von Kriemhild als Retter und Schützer angerufen (Str. 1983), der allein noch helfen kann; und Dietrich verwendet sich in der Stunde der Not für Kriemhild und Etzel; er erwirkt freien Abzug.

Dietrich erscheint in der Rolle des Friedensstifters. Doch Diplomatie und Stabilität erreichen ihr Ziel nicht. Dietrich gelingt es nicht, den Konflikt zu begrenzen und die Katastrophe zu verhindern. In einer Zeit großer Unsicherheit über gesellschaftliche Werte und die Rolle des einzelnen ist der Prozess der individuellen Friedenssuche noch sehr zögerlich.

Dietrichs Position der „suone“ ist deshalb zum Scheitern verurteilt, weil die Voraussetzungen für die Konfliktbegrenzung und Überwindung des unbedingten Rachewollens, nämlich Reue und Schuldeingeständnis, durch den in Schuld verharrenden Menschen nicht geleistet werden.

Der Dichter der nôt-Fassung des NIBELUNGENLIEDS hat die Destruktion des höfischen Glanzes nicht durch einen christlichen Ausblick, nicht durch die Hoffnung auf eine andere Welt aufgefangen.

Da der Untergang von Anfang an determiniert ist, fehlt den Menschen des

NIBELUNGENLIEDS die Zukunftsgespanntheit auf ein positives Ziel, sei es im Diesseits oder Jenseits.

In diesem Pessimismus sind sich NIBELUNGENLIED und HEBBELS Nibelungen sehr ähnlich.

HEBBELS Nibelungentrilogie versteht sich als Chiffre für die Existenz des Menschen in der Geschichte, ja für Geschichte überhaupt. 1843 legte HEBBEL in seinen theoretischen Schriften „Mein Wort über das Drama“ seine Ansichten über das Drama dar, die sich zu einem gedanklichen System tragischer Weltanschauung zusammenfügten: Das Leben der Welt verläuft in tragisch-dialektischer Spannung zwischen dem Ich und dem All. Immer wieder treten besondere einzelne aus der Vielheit heraus, wecken die Welt aus ihrem herkömmlichen Trott und Schlaf und ermöglichen somit eine Fortentwicklung, den Beginn einer neuen Zeit. Sie selber aber sühnen ihren Frevel mit tragischem Untergang.

Schuldig werden des einzelnen führt zum Fortgang des Weltganzen also.

Lebensprozess ist gleichzeitig Vernichtungsprozess für die, die ihn beliefern.

Die Teleologie der Nibelungengeschichte besteht bei HEBBEL darin, dass es eine Fortentwicklung der Menschheit nur über den Untergang einzelner gibt. Und dieser Untergang ist von Anfang an das Ziel.

Die geschichtsphilosophische Denkart Hegels und Schopenhauers Pessimismus werden spürbar.

Durch seine pessimistische Weltsicht erweist sich HEBBEL nicht nur seiner Zeit gewachsen, sondern überholt sie sogar in gewissem Sinne. Er sieht sich in den geschichtlichen Augenblick des Zerfalls von Werten eines aus den Fugen geratenen Zeitalters hineingestellt.

Es fehlt der Glaube an eine humanere Gesellschaft.

HEBBELS Nibelungenhelden sind „monumentale“ Personen, die sich ihrer Umgebung mit Gewalt aufdrängen und durch „die übermenschliche Größe der Unmenschlichkeit“ alles um sich herum und sich selbst zerstören.

Die gegenseitige Vernichtung erreicht in einem gigantischen Inferno am Hof des Hunnenkönigs ihren Höhepunkt. „Kommt hier der Teufel noch vor dem Tod? Zurück zur Hölle!“ schreit Hildebrandt, als er Kriemhild umbringt. Außergewöhnliche Personen drehen das Rad der Geschichte mit Blut und Gewalt, kommen aber am Ende auch selbst darunter ums Leben, werden sozusagen vom Rad der Geschichte überrollt.