EROTIK
UND POLITIK
Die Ehen im Nibelungenlied


von Ellen Bender


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Brautnacht, J. H. Füssli, 1807 ..


Nichts ist im täglichen Leben und im Spiegel der Boulevardpresse so interessant wie die zwischenmenschlichen Beziehungen, sprich die Beziehungen zwischen Mann und Frau: Wer mit wem? Das war schon in der Antike so und ist auch im Mittelalter nicht anders. Und es sind vor allem die Liebesbeziehungen der Mächtigen und Reichen, die interessieren.

Es wäre falsch, mittelalterliche Dichtung als ein Historienbuch zu lesen, das Realbilder der Lebenssituationen mittelalterlicher Frauen und Männer vermittelt. Die Figuren in der Heldenepik und im höfischen Roman sind fiktive Konstruktionen und Projektionen.

Die Entwürfe der Figuren im NL entsprechen jedoch Vorstellungen, die Rückschlüsse auf die Denkmuster der Gesellschaft des 12. und des 13. Jahrhunderts zulassen.

Im Folgenden werde ich die personalen Bindungen wie Minne und Ehe im NL untersuchen und politische Instrumentalisierungen aufzeigen. Bisweilen offenbart sich eine Erotisierung des Textes, wobei die Parallelität von Politik und Erotik eines der tragenden Handlungsmotive ausmacht.

Die Mächtigen und Reichen im NL: Das sind Siegfried, Gunther, Etzel.

Ihre Ehen entstehen durch Brautwerbungen. Der impulsive und draufgängerische Siegfried unterwirft sich den höfischen Spielregeln der Minne, um Kriemhild zu erwerben; hierzu gehört auch die Körpersprache durch Gesten und Gebärden, wie das Erröten (285) bei der ersten Begegnung und die heimlichen Blicke beim Siegesfest in Worms sowie der liebevolle Händedruck (661).

Immer wieder wird die sexuelle Lust der Helden hervorgehoben, und die Empfindungen der männlichen Protagonisten werden betont. Über das Innenleben der Frauen erfahren wir jedoch wenig.

Bereits auf der Fahrt nach Worms möchte Gunther seine Braut minnen (528,1), aber „ez wart ir kurzewîle unz an ir hûs gespart“(528,2) (etwa: Mit den Freuden des Beilagers sollte gewartet werden, bis sie zu Hause waren). Zur Minne gehört im NL auch die geschlechtliche Liebe und aggressive männliche Besitzergreifung der Frau bzw. deren Verweigerung „die minne si im verbot“ (637,3)(= verweigerte). Gunther kann es nicht erwarten, sich mit seiner Frau zu vereinen (625); die Brautnacht wird mit einem Kampfspiel verglichen, in dem die Männer den Sieg durch die Entjungferung der Braut davontragen wollen (628,2-3). Brünhilds Verweigerungshaltung führt zu der Einsicht des Königs „er hete dicke sampfter (= bequemer) bî andern wîben gelegen“ (630,4). Als Gunther letztendlich die Ehe an seiner Frau vollzieht äußert sich auch der Erzähler enthusiastisch „hey waz ir von der minne ir grôzen krefte entweich!“ (681,4) ( etwa: hei, super, wie sie durch die Minne ihre magischen Kräfte verlor); gleichzeitig verweist er auf das eheliche Recht des Gatten, seine Frau minnen zu dürfen, „als im daz gezam“ (681,1) (= wie es ihm zukam).

Wie Gunther zeichnet der Erzähler Etzel als einen Mann, der von sinnlicher Liebe erfüllt ist.

Etzel ist ein großzügiger Charmeur. Er liebt Frauen und guten Wein. Bei der Brautwerbung lockt die weibliche, erotische Schönheit Kriemhilds.

Freuderfüllte sinnliche Liebe, die Sehnsucht der Männer nach den Frauen, ist im NL durchgehend ein Aspekt der Minne. Und männliche Lust und Sexualität haben in der mittelalterlichen Gesellschaft einen legitimen und höheren Stellenwert als die Lust der Frau.

Es wird an mehreren Stellen des Epos deutlich, wie sich politische und erotische Motive vermengen. Man denke z.B. an die Einladungen zu den Festen. Die Bettgespräche erweisen sich als politische Strategien . Die ritualisierte höfische Gesellschaft gewährleistet Männern und Frauen nur ein beschränktes Maß an Kommunikation. Die Privatsphäre ist beschränkt, fast jeder Schritt, jedes Gespräch ist öffentlich (wie auch heute bei den wichtigsten Persönlichkeiten, z.B. bei George Bush). Nichtöffentliche Kommunikation findet daher größtenteils in Bettgesprächen statt.

Die Intrigen beginnen im Bett. Sowohl Gunther wie Etzel, liebesmatt und glücklich, freuen sich jeweils ohne jeden Verdacht, ihrer Frau (Brünhild bzw. Kriemhild) die Freude machen zu können, die Verwandtschaft einzuladen. Gunther schickt seine Boten zu Siegfried nach Xanten. Etzel schickt die Boten Wärbel und Swämmel nach Worms. Brünhild will die gesellschaftliche Stellung Siegfrieds klären. Kriemhild nutzt die Arglosigkeit Etzels und seiner Männer, ihren Racheplan zu verwirklichen.

Die Ehe ist für die höfische Feudalgesellschaft des hohen Mittelalters in erster Linie eine politische Verbindung, die zuerst unter Männern vertraglich abgesichert wird und dann von Mann und Frau vollzogen wird. Man denke hier an Gunthers und Siegfrieds Vereinbarung der Ehe Kriemhilds „des swuoren si dô eide“ (333f.). Und auch Etzels Brautwerbung richtet sich zuerst an Gunther und seine Brüder. Die Ehe wird von Mann und Frau mit dem dynastischen Ziel der Erzeugung von Nachkommenschaft vollzogen. Persönliche Zuneigung oder subjektive Glücksgefühle können zwar vorhanden sein, sind aber nicht zwangsläufig mit dem mittelalterlichen Ehebegriff in Verbindung zu bringen. Die Frau befindet sich in einer hierarchisch untergeordneten Position. Das NL spricht somit ganz im Einklang mit dem zeitgenössischen feudal-patriarchalischen Ehekonzept von der Untergebenheit der Frau unter den Mann in der Ehe: „dem si wart sider undertân“ heißt es von Kriemhild (46,4; 1157,2).

Auch in der Ehe zwischen Etzel und Kriemhild, in welcher Kriemhild Machtausübung und materieller Reichtum gewährt wird, ist die weibliche Subordination vorhanden. Denn Kriemhild vermag nur im Einvernehmen mit Etzel oder listig hinter seinem Rücken zu handeln. Sie spricht z.B. heimlich mit den Boten Wärbel und Swämmel in ihrer Kemenate und beschwört sie bei der Überbringung der Einladung in Worms darauf zu bestehen, dass Hagen ins Hunnenland mitkommt.

Die Frauenfiguren des NL fügen sich, wenn auch widerstrebend, den gesellschaftlichen Spielregeln der nahezu unumschränkten Verfügungsgewalt des Ehemannes, lassen sich von ihren Ehemännern prügeln (894) – wie Kriemhild nach dem Frauenstreit oder minnen (1515,3-4) – wie Brünhild beim Aufbruch Gunthers von Worms ins Hunnenland.

Ungeachtet des fragwürdigen Zustandekommens werden die Ehen zwischen Siegfried und Kriemhild sowie zwischen Gunther und Brünhild vom Erzähler nicht in Frage gestellt. Entsprechend der Praxis mittelalterlicher Eheschließungen wendet sich Siegfried an Kriemhilds Vormund Gunther mit der Bitte, das gegebene Eheversprechen einzulösen (608,1-4). Die Eheschließung besiegelt die Freundschaft zwischen Siegfried und Gunther und verstärkt Siegfrieds Bindungen an Worms. Man kann die Ehe als eine Konsensehe betrachten. Dem Festmahl und der Brautnacht folgt die kirchliche Besiegelung der Ehe. Die christliche Trauung war allerdings Anfang des 13. Jahrhunderts noch keine Notwendigkeit. Die Brautnächte werden aus männlicher Sicht geschildert. Nach ihrer Bezwingung widersetzen sich weder Kriemhild noch Brünhild der ehelichen Praxis. Die Minnegeschichte wird nach der Hochzeit durch wirklichkeitsnähere Eheschilderungen ersetzt. So erfahren wir von Kriemhilds Züchtigung durch Siegfried (894). Siegfrieds „übermuot“ gegenüber Kriemhild zeigt sich auch darin, dass er ihr Erbteil an Ländereien ausschlägt (694f.) - Siegfried sagt einfach „Da wird meine Frau sicherlich drauf verzichten“ - und dass er ihre Warnträume, die seine Ermordung betreffen, missachtet (921; 924). Kriemhild nimmt dies in Kauf, weil sie sich stark fühlt an der Seite ihres strahlenden, alle überragenden Helden.

Die Eheauffassung wird im NL aber auch von der unterschiedlichen Funktionalität der Figuren bestimmt. Kriemhilds Dialoge mit ihrer Mutter verdeutlichen konträre Eheauffassungen: Entgegen Kriemhilds Verweigerungshaltung befürwortet Uote die Ehe als beste weibliche Lebensform (16). Auch bei Etzels Werbung rät Uote der Tochter erneut zur Ehe, da sie Kriemhilds „leit“ ein Ende wünscht (1246,3-4).

Zum einen bietet die Ehe der Königseltern Siegmund und Sieglinde das positive Bild einer harmonischen Ehe, die von einer fürsorglichen Erziehung Siegfrieds geprägt ist. Das gleiche gilt für die Ehe zwischen Rüedeger und Gotelind sowie zwischen Etzel und der verstorbenen Helche. Von Uotes Ehe mit Dancrât erfahren wir nichts oder nur soviel, dass er seinen Kindern nach seinem Tod Länder und Schätze überließ. Aber Uote ist nicht so fürsorglich bei der Erziehung Kriemhilds, für die die drei Königsbrüder sorgen: „ir pflâgen drîe künege“. Sie versagt bezüglich ihrer Entwicklungsaufgaben bei Kriemhild. Die heranwachsende Kriemhild steht in Opposition zur Mutter; sie ist keine „brave“ Tochter.

Gunthers und Brünhilds Ehe sowie Kriemhilds Ehe mit Etzel sind in erster Linie politisch-funktional. Es finden sich dennoch Belege ehelicher Verbundenheit. Nach der Bezwingung Brünhilds wird deren eheliche Verbindung keineswegs negativ vom Erzähler kommentiert. Etzel seinerseits gewährt Kriemhild - anders als in ihrer Ehe mit Siegfried – „minne âne leit“ und zeichnet sich neben Respekterweisungen gegenüber seiner Frau durch seine sinnliche „vröude“ aus.

Etzel und seiner Beziehung zu Kriemhild ist in der Forschung wenig Beachtung geschenkt worden. Im Unterschied zu den nordischen Stoffüberlieferungen in der Edda - da erscheint Etzel als grausamer Despot - ist das Etzelbild des NL durchweg positiv. Etzel ist im NL nicht nur als reicher, mächtiger Herrschertypus entworfen, sondern auch als vorbildlicher Gastgeber, der sich um die Wahrung des Friedens bemüht und „milte“ zeigt. (1335,4). Wegen seiner religiösen Toleranz sammeln sich sowohl christliche als auch heidnische Ritter an seinem Hof. Man muss aber auch feststellen, dass Etzel trotz der Vorbildlichkeit seiner Herrscherrolle Ahnungslosigkeit und Passivität zeigt und eher eine Statistenrolle einnimmt, während sich der blutige Konflikt der Burgunden an seinem Hof abspielt. Die Rache am Siegfriedmörder ist nicht seine, sondern Kriemhilds Angelegenheit.

Die Ehe Kriemhilds mit Etzel ist keine Minneehe, sondern eher ein machtpolitisch begründetes Zweckbündnis. Kriemhild nutzt die Ehe für ihren Rachevollzug, und Etzel benötigt nach dem Tod Helches eine neue Herrscherin am Hunnenhof, um den dynastischen Fortbestand zu sichern.

Wie bei den anderen Brautwerbungen begründet der verlockende Ruf weiblicher Schönheit (1150), hier auf Zuraten von Verwandten, die Wahl der Dame. Bereits aus den einleitenden Versen des NL geht hervor, dass Kriemhild aufgrund ihrer außergewöhnlichen Schönheit auf die Minne hin konzipiert ist, der sie sich widersetzen möchte. Doch stellt diese Minneabwehr (18; 46) eher ein Warten auf den auserwählten Helden dar. Als Kriemhild Siegfried erstmals erblickt, wird sie ihren Vorsätzen untreu und handelt durch die Macht der Minne ihrer Rolle entsprechend. Auch für Etzels Werbung ist der Ruf ihrer „schoene“ ausschlaggebend, und zwar „schoene“ in erster Linie als ihr körperlicher Reiz und weniger als Ausdruck höfischer „zuht“: „durch ir grôzen schoene sô gevellet si mir wol“ (1158,4). Mit der Frage an Rüedeger „vriunt du solt mir sagen, ob si in mînem lande krône solde tragen“ (1149,1-2) verbalisiert Etzel den machtpolitischen Aspekt des Angebotes. Außerdem ist der starke, mächtige Siegfried ihr Gemahl gewesen. Neben derartigen Überlegungen ist von Seiten Etzels und seiner Ratgeber der sinnlich-sexuelle Aspekt der ehelichen Verbindung nicht unwichtig: „ir muget vil gerne minnen den ir vil waetlîchen lîp“(1146,4). Dies ist insofern interessant, als hier Etzels Motive bei der Brautwerbung hervorgehoben werden. Im Unterschied zu Kriemhild, der es um die Verwirklichung ihrer Rache geht, sieht er der neuen Eheverbindung mit sinnlichem Verlangen entgegen. Man vergleiche hierzu auch Etzels Dialog mit Rüedeger zu Beginn der 20. Aventiure: Er verspricht Rüedeger reichlichen Lohn für seine Werbungsdienste unter der Bedingung „sol ich Kriemhilde immer gelegen bî“ (1151,2).

Das angestrebte eheliche Zweckbündnis kommt beiderseits durch Vermittler zu Stande. Etzels „vriunde“ (1143,3) raten zur Ehe mit Kriemhild. Der Hunnenherrscher begibt sich nicht selbst – wie seinerzeit Siegfried und Gunther auf Brautwerbung, sondern wirbt in tadellos höfischer Form um die Witwe, indem er Rüedeger als Brautwerber nach Worms sendet. Kontrastierend zu der im Falkentraum symbolisierten Beziehung Siegfrieds und Kriemhilds verspricht Etzel (über Rüedeger) „minne âne leit“ ( „Liebe ohne Leiden“) (1232,1). Außer seiner „vriuntschefte“ bietet er Macht und materiellen Reichtum an. Konkret handelt es sich um die Macht über 12 mächtige Kronen und die Länder dreier Fürsten (1235) sowie die Herrschaft über Helches Vasallen und Damen (1236). Die Familie (außer Hagen) rät Kriemhild zur Wiederverheiratung. Dem wohlmeinenden Druck der Familie setzt Kriemhild eine Verweigerungshaltung aus „triuwe“ zu Siegfried entgegen, die sie mit dem Argument des Religionskonfliktes verstärkt (1248; 1261). Ihre anfänglichen Bedenken gegen eine Ehe mit einem Heiden gelten allerdings nicht dem Seelenheil, sondern mehr der eigenen „êre“, dem äußeren Ansehen (1249,1-2). Kriemhild willigt erst nach Rüedegers „triuwe“-Schwur (1257f.) in die Eheschließung ein. In einer bemerkenswerten Gedankenrede (1259f.) wird ihre Absicht offenbar: Sie wird die Eheschließung eigennützig zum Zweck der Rache benutzen und Etzel zum Werkzeug ihrer Rache machen. Sie betrachtet die Ehe auch keinesfalls als einen „triuwe“-Bruch an Siegfried, sondern vielmehr als eine Fortsetzung dieser „triuwe“. Sie instrumentalisiert Etzels Werbung und Ehe für ihren Rachevollzug.

Bis zur Vermählung übernimmt Rüedeger auf der Reise das Amt des Vormunds der Königin. Als Etzel von Kriemhilds Entschluss zur Ehe erfährt, schwindet alle Trübsal (1337,2). Der Erzähler bemerkt vorausdeutend, dass auch Kriemhilds Lebensphase bei Etzel teilweise freudvoll sein wird: „si gelebte vil der vreuden ouch bî Etzelen sider“ (1286,2). Vor allem hebt der Erzähler vorausweisend ihren umfassenden Machtzuwachs am Hunnenhof hervor, wobei er emphatisch ausruft: „hey waz si grôzer êren (etwa: Ansehen) sît dâ zen Hiunen gewan!“ (1330,4). In 1333,2-4 deutet der Erzähler erneut darauf hin, dass die Ehrenbezeugungen durch Etzel und die Großen des Landes ein wenig ihr altes „leit“ entschädigen. Als Etzel sich der Königin mit seinem prachtvollen Gefolge einschließlich Dietrich von Bern nähert, berichtet der Erzähler von Kriemhilds hoffnungsvollen Gefühlen „des wart dô vroun Kriemhilde vil wol gehoehet der muot“ (1347,4)(etwa: Der Anblick ließ Herrin Kriemhild das Herz höher schlagen). Etzel reitet seiner künftigen Gemahlin „vroelîche“ entgegen (1349,4). Als das Paar beieinander sitzt, beobachtet der Erzähler, wie beide einander die Hände halten. Intimere Liebkosungen vor der Hochzeit (zu vergleichen mit Gunthers Lust vor der Eheschließung in 527f.) werden nur durch Rüedegers vormundschaftliches Einschreiten unterbunden: „Wes dô redete Etzel, daz ist mir unbekant

in der sînen zeswen (= Rechten) lac ir wîziu hand si gesâzen minneclîche, dâ Rüedegêr der degen den künic niht wolde lâzen Kriemhilde heinlîche pflegen“ (1358). (etwa: da wollte Rüedeger nicht zulassen, dass der König Kriemhild heimlich liebte).

Die Szene zeigt Etzel als einen Mann, der nicht von hoher Minne, sondern von sinnlicher Liebe zu seiner Braut erfüllt ist.

Die prachtvoll gefeierte Hochzeit in Wien wird mit einem „ich waene“-Kommentar gewürdigt: 1367,2-3. Beide Ehen Kriemhilds werden verglichen. Bereits zuvor hatte Etzel Kriemhild „minne âne leit“ versprochen. Nun mutmaßt der Erzähler, dass Kriemhild unter Etzel mehr Macht genießt als in ihrer ersten Ehe. Dieser Vergleich des weiblichen Machterwerbs, der nicht negativ gewertet wird, ist im Hinblick auf die Parallelisierung der Eheschilderungen bedeutsam: „Si waen’ in Niderlande dâ vor niene gesaz mit sô manigen recken. dâ bî geloube ich daz: was Sîfrit rîch des guotes, das er nie gewan sô manigen recken edele, sô si sach vor Etzelen stân.“ (1368)( etwa: Ich glaube, in den Niederlanden hatte sie vormals nicht über so viele Recken geherrscht. Wenn auch Siegfried mächtig und reich gewesen war, so glaube ich dennoch, dass er niemals so viele edle Recken hatte, wie sie sie unter Etzels Gebot stehen sah). Im Erzählbericht wird inmitten der Festschilderung auf Kriemhilds Gefühlsleben und ihre rückwendenden Gedanken an Siegfried verwiesen „Wie si ze Rîne saeze, si gedâht ane daz bî ir edelen manne; ir ougen wurden naz,“ (1371,1-2)(etwa: Sie dachte zurück, wie sie an der Seite ihres Mannes am Rhein geherrscht hatte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen). Bis auf die Gedankenwiedergabe in 1371 findet sich kein Verweis auf Kriemhilds Innenleben. Vielmehr dient die gesamte 22. Aventiure der Demonstration der Ehrungen, die Kriemhild durch Etzel erfährt. Der Erzähler hebt hervor, wie Kriemhild Helches Königinnenrolle übernimmt und diese zu aller Zufriedenheit übertrifft (1379; 1382-1386). Kriemhild perfektioniert die Herrscherinnenrolle. Die Ehejahre bis zur Einladung der Burgunden werden „unz an daz driuzehende jâr“ (1390,4) als Blütephase geschildert.

Etzel und Kriemhild leben sieben Jahre lang in „grôzen êren“ (1387,1), als Kriemhild einem Thronfolger das Leben schenkt. Etzels Freude (aber nicht Kriemhilds) ist dadurch vollkommen: „des kunde der künec Etzel nimmer vroelîcher wesen“ (1387,4).

Das Glück ist Schein, denn es fehlt die Verinnerlichung auf Seiten Kriemhilds.

Die Darstellung der Ehejahre erinnert in Umfang und Erzählhaltung an die Zeit der Regentschaft Kriemhilds und Siegfrieds in Xanten. Vergleicht man die Schilderung der Ehejahre in Xanten mit denen am Hunnenhof, so fällt auf, dass der Erzähler bezüglich der 2. Ehe Etzels „vröude“ mehr hervorhebt als bei Siegfrieds Herrschaft; dort erscheint der Aspekt von Macht, Strenge und Ansehen wichtiger. Siegfried wird nicht nur als König, sondern auch als strenger Richter hervorgehoben: „daz man sêre vorhte der schoenen Kriemhilden man“ (714). Die Ehe des Minnepaares, in der Siegfried patriarchalische Gewalt gegenüber seiner Frau ausübt, erscheint weniger harmonisch als die Etzelehe Kriemhilds. Bereits zu Beginn ihrer 2. Ehe erhält Kriemhild von Etzel all die Macht, die er ihr versprochen hatte. Hingegen hatte sie in Xanten erst nach der Geburt des Thronfolgers und nach Sieglindes Tod uneingeschränkte Königinnenmacht erhalten. Es wird auch von keiner Königinnenkrönung berichtet. Etzel verweigert seiner Frau keine materiellen Besitztümer (wie Siegfried bei Kriemhilds Erbforderung) und erweist ihr Respekt. Es gibt keine Meinungsverschiedenheiten. Etzel befürwortet und praktiziert - anders als Siegfried und Gunther - keine Gewalt gegenüber Frauen. Der Erzähler verweist auf seine Liebe und Verbundenheit mit Kriemhild: „si was im als sîn lîp“ (1400,3)(= er liebte sie wie sein Leben). Michael Boehringer deutet Etzels Empfindungen für Kriemhild nicht als Liebe, sondern als „erotic preoccupation“ (Besessenheit, Besitzergreifung). Dies sei eine Schwäche Etzels, die Kriemhild ausnutzt, um Kontrolle über ihn zu gewinnen. Etzel wirkt wie ein „tumber tor“ und verliebter Narr von arglos-schlichtem Gemüt.

Etzels Zuneigung und Sinnlichkeit entspricht durchaus dem Bild des vorbildlichen, höfisch-toleranten Herrschers; sie wird aber zur Schwäche, als er dadurch manipulierbar wird. Denn Kriemhild, die weiterhin um Siegfried trauert, sinnt auf Rache und benutzt den ahnungslosen, liebesblinden Etzel als Werkzeug ihrer Rache. Etzel ist kein Mann des Schwertes. Er will den Konflikt nicht mit Waffengewalt lösen. Erst durch die Ermordung seines Sohnes Ortlieb durch Hagen wird Etzel ungewollt in die Kämpfe involviert und leidet.

Es gelingt ihm nicht, seine Emotionen zu kontrollieren, sich seiner Aufgabe als Herrscher zu stellen und die Kämpfe zu beenden. Er zeigt keine Führungsqualitäten. Hingegen erweist sich Kriemhild als starke, selbstbewusste Herrscherin. Sie benutzt Etzels Liebe für ihre Politik.

Vieles im Erscheinungsbild der Figuren des NL entspricht den Vorstellungen der feudal-höfischen Welt.

Jedoch finden wir auch Genderentwürfe, die nicht in diese Schablone passen.

Eine wesentliche Komponente der Ehevorstellungen im NL ist die politische Instrumentalisierung der Minne. Die Ehen sind funktional und zweckmäßig. Sie werden zum Zweckbündnis für eigene Interessen, vor allem dienen sie dem Machterwerb. Politik ist Macht. Dies gilt für Siegfrieds und Gunthers Ehe ebenso wie für Kriemhilds Ehe mit Etzel, die der mörderischen Politik der Hunnenkönigin dient.

Weiterhin lässt die negative Einstellung der Frauenfiguren Kriemhild und Brünhild zur Ehe Rückschlüsse auf die Entwürfe des Weiblichen zu. Die Eheverweigerung der Frauenfiguren im NL ist natürlich von der Handlung her motiviert: Kriemhild lehnt Minne ab, weil sie ihr Leiden bringt, Brünhild kann nur den „minnen“, der sie besiegt. Vielleicht spiegelt die weibliche Verweigerung der Ehe aber auch eine Krise der Gesellschaftsformen des Hochmittelalters? Die ehekritische Haltung könnte durchaus als Ausdruck einer Nicht-Realisierbarkeit des höfischen Ideals der Hohen Minne gedeutet werden oder als Reaktion auf gesellschaftliche Missstände - wie auf das feudal-patriarchalische Ehekonzept, das die Frau in einer untergeordneten Position sieht.

Die Lockerung des patriarchalisch organisierten Sippenverbandes führte zwar in der Literatur zu einem gesteigerten Ansehen der Frau (wie z.B. bei Hildegard von Bingen), dessen rechtliche Konsequenzen jedoch nicht realisiert wurden. Kriemhild wäre lieber ein Mann, ein Ritter; dann könnte sie - wie ein solcher - ihre rechtlichen Ansprüche durchsetzen 1416,4: „ob ich ein ritter waere“. Ihr Klagen, nicht über denselben Handlungsspielraum eines „ritters“ zu verfügen, bringt ihr Dilemma auf den Punkt. Ihre geschlechtliche Gebundenheit zwingt sie zu einem anderen Vorgehen als wenn sie ein Mann, ein Ritter wäre.

Oder - umgekehrt - könnte die Schilderung von weiblicher Verweigerung und ehekritischen Positionen in der Literatur auch als Ausdruck gefährdeter männlicher Machtpositionen und Angst der Männer vor starken Frauen gedeutet werden? Als Angst vor der Magie der Frau?

Das wäre eine Überlegung wert.