"übermüete hie bî Rîne"

Über das Fehlverhalten
der Mächtigen und Schönen von Worms
im Nibelungenlied.

Ein Vortrag von Frau Dr. Ellen Bender

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Brunhildes Empfang, Schmoll v. Eisenwerth, 1912 ..



Wer sind - im Nibelungenlied - die Mächtigen und Schönen in Worms und welches sind ihre Handlungsmotive?
Sind Siegfried, Gunther, Hagen sittlich vorbildliche Ritter und entsprechen Kriemhild und Brünhild dem höfischen Frauenideal oder sind es "Helden" in Anführungszeichen bzw. "Heldinnen", die durch ihre Taten demaskiert werden? Die, weil sie übermuotig und maßlos handeln, ihren Untergang selbst verschulden?

1. Siegfried

Was will Siegfried in Worms?

Er zeigt seinen Machthunger; er fordert König Gunther zum Zweikampf um Land und Herrschaft heraus und will die burgundische Königstochter Kriemhild erwerben. Beide Handlungsmotive, Brautwerbung und Machtprobe, um Land und Herrschaft zu erlangen, werden bereits vor der Abreise in Xanten thematisiert: Siegfried will Kriemhild durch seine Taten verdienen (47). Bei der Ankunft in Worms tritt er dann zwar nicht mit einem Kriegsheer, aber doch als Aggressor auf, der um Land und Herrschaft kämpfen will (107-110). Siegfried ist aber nicht, wie die meisten Ritter der Artusromane, ein Held ohne Land, sondern ein mächtiger Königsohn.
Der Nibelungenschatz, der Tarnmantel und die schützende Hornhaut aus dem Nibelungenland kennzeichnen Siegfrieds überragende Macht.
Sein grundloser Angriff auf legitim ererbte Herrschaft musste als Unrechtsakt und Friedensstörung gelten. Durch Gunthers Höflichkeitsgeste "Alles, was wir haben, steht in Ehren zu Eurer Verfügung" (127) gelingt es, Siegfried in die höfischen Spielregeln zurückzuführen.

Macht und Liebe sind die Motive von Siegfrieds Handeln.

Bei der Brautwerbung Siegfrieds lockt die Macht der Burgunden hier am Rhein und die weibliche Schönheit Kriemhilds.
Es handelt sich um eine gefährliche oder schwierige Brautwerbung, da Siegfried erst schwierige Aufgaben lösen muss, bevor er Kriemhild zur Frau erhält.
Siegfried erwirbt Kriemhild durch Dienstleistung.
Er leistet Minnedienst.
Siegfrieds Minnedienst besteht aber nicht in der "Erziehung zur werdekeit" , das heißt zu einer Werte-Erziehung des Minneritters zu höfischer Vollkommenheit durch die vrouwe wie im höfischen Minesang.
Siegfried leistet Minnedienst in Form von Taten.
Der Sachsenkrieg und die Erwerbung Brünhilds für Gunther sind Stationen eines verbogenen, nahezu perversen Minnedienstes Siegfrieds.
Siegfried erreicht sein Ziel, die Erwerbung Kriemhilds, durch den Betrug an Brünhild. Und zwar durch eine Standeslüge, nämlich durch Vortäuschen einer gesellschaftlichen Stellung, die nicht die Seine ist. Diese Frage der gesellschaftlichen Rangordnung steht im Mittelpunkt der Vorwürfe Brünhilds und daher im Mittelpunkt der Motivationen für Siegfrieds Tod. Wir erinnern uns: Siegfried muss sterben, weil er sich durch den Betrug an Brünhild bei der Freierprobe und in der Brautnacht schuldig gemacht hat. Er gibt sich als Gunthers "eigen man" aus, unternimmt es aber, anstelle des Burgundenkönigs, Brünhild zweimal zu besiegen. Siegfrieds de facto Dienstverhältnis zu Gunther und die resultierende Katastrophe stellen die ganze chevalreske Dienstethik in Frage. Der Held Siegfried scheitert mit seiner Adaption der höfischen Werte "chevalerie" und "minnedienest" in Worms. Und er führt mit Str. 862 "Man sol so vrouwen ziehen...." nach dem Frauenstreit sogar noch den höfischen Frauenkult ad absurdum. Denn in der höfischen Qualitätslehre ist die Frau, die in ihrem Wesen als das reinere Geschöpf erkannt wird, die Erzieherin des Mannes.


2. Gunther

Gunthers Motiv des Handelns bei der Erwerbung Brünhilds ist sein Begehren: die sexuelle Inbesitznahme Brünhilds, die den männlichen Selbstwert erhöht.
Ihre physische Kraft reizt ihn – wahrscheinlich, weil er selbst diese Kraft nicht besitzt.
Gunther sucht die starke Frau. Er braucht eine "Powerfrau", um von seinen eigenen männlichen Unzulänglichkeiten und seinem Versagen als Mann und als König abzulenken.
In diesem Zusammenhang erinnert mich Gunther sehr an den ehemaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. Clinton braucht Hillary, um von seinen Skandalen und moralischen Schwächen abzulenken.

Brünhild fasziniert Gunther, weil er sie nicht überwinden kann. Da kommt ihm der starke Siegfried als Werbungshelfer gerade recht. Brautwerbung als Kräftemessen zwischen Mann und Frau. Gunther sieht die Chance, die schöne starke Brünhild als Frau und Königin durch die konditionale Verknüpfung mit der Werbung Siegfrieds für sich zu gewinnen (Str. 333f.): "Wenn du für mich Brünhild erwirbst, gebe ich dir meine Schwester zur Frau" sagt Gunther.
Doch Gunther versagt. Er versagt bei der Freierprobe und in der Hochzeitsnacht.
Ist es - psychologisch gesehen - die Angst des Mannes vor der Frau? Gunther fürchtet die Schande der Niederlage gegen eine Frau.

Und Gunther schiebt die Wahrheit von sich, als er, von Brünhild auf seinen "Leibeigenen" Siegfried mit den Worten angesprochen "Deine Schwester sehe ich bei deinem Eigenholden sitzen" (620ff.), die Antwort gibt: "ich will iu z’anderen zîten disiu maere sagen war umbe ich mîne swester Sîfride hân gegeben." Die Lüge erzeugt eine besänftigende Stimmung und "Scheinharmonie". Gunther lügt, weil die Wahrheit seinem Image als Mann und als König der Burgunden schaden würde.
Weiter zeigt sich Gunthers Fehlverhalten bei der formalrechtlichen Erledigung des Königinnenstreites. Es handelt sich um ein unzulängliches Schein-Verfahren. Siegfrieds und Gunthers Schuld bleibt verborgen. Gunther bezieht keine Stellung und verzichtet auf Siegfrieds Eid. Die Ehre Brünhilds ist durch Siegfrieds Weiterleben in Frage gestellt. Sie kann nur durch rächende Vergeltung wiederhergestellt werden. Und Hagen vollzieht die Tat.
Gunther lügt bei der Bahrprobe nach Siegfrieds Ermordung: "Räuber erschlugen ihn. Hagen hat es nicht getan" (1045,4), sagt er zu Kriemhild.
Das Versagen Gunthers zeigt sich auch bei der Versöhnung mit Kriemhild (1114ff.) während ihrer Witwenzeit.
Die auf Hagens Machtargument (1128; 1130) betriebene Versöhnung Gunthers mit Kriemhild ist nur Mittel zum Zweck, nämlich zur Hortgewinnung. Gunther nimmt Hagens Rat und die Aussicht auf den Hort wichtiger als die verwandtschaftliche Verpflichtung Kriemhild gegenüber. Die Versöhnung entpuppt sich als Schein-"suone". Die für die Schuldtilgung notwendige Voraussetzung, Gunthers Schuldeingeständnis und Bitte um Vergebung der Schuld, liegt nicht vor. Im Gegenteil: Die Schuld wird durch erneutes Unrecht, nämlich durch den Hortraub, bekräftigt und zieht kausal als Konsequenz die Gegentat, Kriemhilds Rache, nach sich.


3. Hagen

Hortgier und superbia

Siegfried reizt die Macht der Burgunden. Umgekehrt sind auch Gunther und Hagen von der Unermesslichkeit des Nibelungenschatzes beeindruckt.
Hagen ist der politische Berater der Burgundenkönige.
Das Bild Hagens wird durch seine Vasallität bestimmt.
Hagen als Mann der Tat ist der Siegfried-Mörder. Seine Tat, die Ermordung Siegfrieds, ist hinterhältig.
Seine Schuld wird in einem Gottesurteil offenbar. Als Hagen an die Bahre tritt, beginnen Siegfrieds Wunden zu bluten (1044).
Und er erneuert seine Täterrolle sogar durch den Hortraub. Er sieht in der Versöhnung zwischen Kriemhild und Gunther ein Mittel, die geschwisterliche Bindung wiederherzustellen, um Kriemhild dazu zu bewegen, den Hort nach Worms zu holen (1107). Der Hort erscheint als besonderes Objekt von Hagens Machtstreben. Durch den Hort erwartet Hagen einen Vorteil für Gunthers Hof und Herrschaft (1107,3-4).
Reichtum begründet Macht und dient der Herrschaftssicherung.
Die Versöhnung Kriemhilds mit Gunther, die Hagen als Mittel zum Zweck benutzt, bildet die Voraussetzung, um den Hort einzuholen.
Der Hortraub geschieht gegen Gunthers Willen, aber er schreitet auch nicht dagegen ein.
Die Motivation für Hagens Handeln sind der Vorteil und die Erhaltung von Gunthers Herrschaft in Worms, sei es bei dem Mord an Siegfried, beim Hortraub, der Warnung vor Kriemhilds Ehe mit Etzel oder der Warnung vor der Reise an den Hunnenhof.

Die Hagenfigur demonstriert die Fragwürdigkeit des heroischen Krieger-Ethos. Für den trotzig aufbegehrenden Hagen gilt allein die bedingungslose Vergeltungssucht um der eigenen "êre" willen. Und sein hohnlachender Zorn in Str. 1561f., als er den Fährmann erschlägt, erweist sich als reine "übermütige" Mordlust.
Hagens Handeln motiviert sich aus der vorchristlichen Auffassung, dass eine Unrechtstat bestraft werden muss, dass die Sühnung der Schuld durch râche zu erfolgen hat – wie im althochdeutschen Hildebrandslied. Die Ursünde superbia - das ist stolzer Hochmut, Selbstherrlichkeit - ist Schuldmotiv im NL. Hagen macht sich der superbia, der heroischen "alten übermüete"schuldig. Dies zeigt sich vor allem bei der Tötung Siegfrieds, beim Hortraub und in der Schlusskatastrophe. Die Rache als Vergeltung der Schuld ist maßlos.

Hagen ist also auf gar keinen Fall ein Held. Ein rechter Held würde solche Untaten niemals begehen. Hagen ist eher ein Anti-Held. Und die Treue wird zwar als Ideal in den Raum gestellt, aber Hagen handelt in Untreue, indem er das von Kriemhild in ihn gesetzte Vertrauen bricht. Er ersticht Siegfried, als dieser ahnungslos am Brunnen Wasser trinkt.
Die Helden des NL sind "viri" der Tat, definieren sich durch ihre Handlungen und Taten.
Geld und Macht sind wichtig. Und ebenso der Eros. Der Mann reibt sich am Gegenbild der Frau wie Gunther an Brünhild.
Sex and crime also. Ist das NL ein erotischer Thriller?


4. Brünhild

Und wie steht es mit den Handlungsmotiven der "Heldinnen" Kriemhild und Brünhild?
Liebe, Macht, Rache sind auch hier die bestimmenden Handlungsmotive.

In Worms regierte für kurze Zeit in der 2. Hälfte des 6. Jhs. Königin Brunichildis, Gemahlin des Frankenkönigs Sigibert I. von Austrasien.
Brunichildis bewegtes Leben war durchaus günstig für Gerüchte und Legenden, vor allem ihr Streit mit Fredegunde, der Geliebten ihres Mannes, weil diese Brunichildis´ Schwester umbringen ließ.
Der Frauenstreit im NL hat also ein Vorbild im Haus der Merowingerköniginnen.
Und verweist vielleicht der "Jungfrauenstein" im Wormser Dom, die Trinität der Frauen oder der fränkischen Prinzessinnen aus dem 12. Jahrhundert auf fränkische Vorgeschichte? Das nur nebenbei bemerkt.

Außergewöhnlich ist, dass die Schönheit Brünhilds mit der sonst männlichen Eigenschaft kraft verbunden wird (326,3: "diu was unmâzen scoene, vil michel was ir kraft" – oder "Den stein den warf si verre...").
Ursula Schulze meint, dass Brünhilds Virginität der Ursprung ihrer Kraft sei. Sie verliere ihre Kraft durch den Liebesakt. Besiegt werde die Frau mit Hilfe von Magie und Betrug.

Die dämonisch-magische Seite Siegfrieds besitze in Brünhild, der Königin von Island, ein weibliches Pendant.
Es gehört zu den konstitutiven Handlungskonstellationen des NL, dass Siegfried die von Brünhild geforderten Konditionen besitzt - er ist der Stärkste -, aber im Figurenquartett des Epos Brünhild Gunther zugeordnet wird. Die auf der mythischen Ebene erfolgte Zuordnung von Siegfried und Brünhild, - auch in der um 1400 überlieferten Völsungasaga sind die kriegerische Schildjungfrau Brynhild und Sigurd ein Paar - wird mit tödlichen Folgen durch die Zuordnung Siegfried-Kriemhild ausgetauscht.

Im Zuge der Werbung erfolgt eine fatale Verwirrung der natürlichen und ständischen Ordnung durch das Täuschungsmanöver, das Siegfried und die drei Burgunden Gunther, Hagen und Dankwart, vor Brünhild inszenieren (341 ff.). So entsteht die widersinnige Situation, dass sich Siegfried für Brünhild als Mann qualifiziert, um Kriemhild zur Frau zu gewinnen. Es ist dies ein fataler Werbungsbetrug der Männer. Und aus dem, was uns wie ein Possenspiel der Wormser vorkommt, wird bald blutiger Ernst.
Denn Brünhild ist die mehrfach Betrogene: von Siegfried betrogen, von Gunther betrogen und um ihre Rolle betrogen. Nach der Eskalation des Konflikts wird sie aus der Heldinnen-Rolle entlassen. Der Frauenstreit endet mit der Demütigung der burgundischen Königin. Ihre königliche êre wird verletzt. Die Verletzung, die Brünhild erfahren hat, zeigt tödliche Folgen: Die Ermordung Siegfrieds wird durch Brünhild veranlasst. Der letzte Akt: Genugtuung Brünhilds als Königin: "Brünhild mit übermüete saz"(1100,1) und "Es ist der übermüeten hie bî Rîne vil" (1034,1) im Kontrast zur leidenden Kriemhild.


5. Kriemhild


Auch sie ist eine "Powerfrau", und zwar um der großen Liebe willen und auch sie erfährt wie Brünhild Machtverlust, nämlich durch Siegfrieds Tod und durch den Hortraub. Auf Kriemhild und Brünhild treffen beide Attribute zu: Sie sind Leidende und Diabolische - diabolisch in ihrer Vergeltungssucht! Und sie sind Opfer und Schuldige zugleich - schuldig, indem sie selbst Gewalt ausüben.
Werfen wir einen Blick auf den bedingungslosen Rachewahn Kriemhilds im 2. Teil derDichtung! Die Rache ist ja nun im engsten Sinne widerchristliches Streben!
Durch Siegfrieds Tod wird Kriemhild in Leid gestürzt. Die Ermordung des Gatten bedeutet aber zugleich ein ihr zugefügtes Unrecht und auf sittlicher Ebene eine Beleidigung ihrer Person. Weil das Unrecht nicht getilgt wird, der Hof Gunthers in seiner Pflicht zur Gerechtigkeit versagt, den Siegfried-Mörder nicht bestraft, muss sie, Kriemhild, Vergeltung üben, den Beleidiger ihrer "êre", Hagen, vernichten. Die Bindung an Siegfried ist der Motor für Kriemhilds Rache, der Grund für ihre anhaltende Feindschaft zu Hagen und die Grundlage für die neu ein gegangenen Beziehungen zu Etzel und Rüedeger.

Kriemhild hat den Hort als Morgengabe erhalten, wie erst in der Zeit ihrer Witwenschaft erzählend nachgetragen wird (1116). Kriemhild füllt damit in Worms Kammern und Türme (und vielleicht auch den Dom?) (1125,3). Dennoch wiegt der Reichtum den Tod Siegfrieds für sie nicht auf. In Str. 1126 wird deutlich, dass materieller Besitz für Kriemhild niemals so viel Bedeutung hat wie ihre Liebe zu Siegfried und sie deshalb auch nicht für ihren Verlust entschädigen kann.

Mit Hilfe des Hortes verschafft sich Kriemhild eine Machtposition. Dann wird ihr der Hort von Hagen weggenommen. Aus der Ermordung Siegfrieds und dem Hortraub, d.h. der Beseitigung der fürstlichen Machtgrundlagen, leitet der Erzähler Kriemhilds lebenslanges Leid ab. Str. 1141: "Weiteres Leid wurde ihr zugefügt: Nach der Ermordung Siegfrieds nahmen sie ihr auch den Hort. Da ruhte ihre Klage nie mehr im Leben bis zu ihrem Tod.".
Der Hortbesitz ist Zeichen für Macht und Außerordentlichkeit, der Verlust ist Ausdruck der Beleidigung und Entmachtung. Kriemhilds Leid resultiert aus Siegfrieds Tod, verlorener Macht und der Unmöglichkeit, beides wiederherzustellen. Kriemhild ist immer nur auf sich gestellt. Der eigene Bruder hilft ihr nicht. Erst nach Rüedegers Schutzversprechen sieht sie in der Ehe mit dem mächtigen Hunnenkönig Etzel die Möglichkeit, ihre Rache durchzusetzen. Mit der Rückforderung des Hortes bei der Ankunft der Burgunden am Etzelhof und in der Schlussszene eskaliert die tödliche Konfrontation zwischen Kriemhild und Hagen.

Die Schlussstrophe bietet das trostlose Bild der Trauernden "daz ist der Nibelunge nôt" (2379,4). Eine im wahrsten Sinne des Wortes unerträgliche Situation. Deshalb hat auch die Nachdichtung Klage die psychologische Funktion der Verarbeitung des Erzählten.


Die Geschichte des NL ist von Anfang an final auf den Untergang ausgerichtet, wie dies die Vorausdeutungen signalisieren .
Und es gibt eine "Moral von der Geschicht", nämlich "wie liebe mit leide ze jungest lônen kan" (17,3). Vgl. auch 2378,3f.
Der Umschlag von liebe in leit, die Determination allen Geschehens zum Untergang (NL Str. 2378) ist Grundstruktur des Weltlaufs. Diese pessimistische Weltsicht erscheint in Analogie zur "Weltchronik" Ottos von Freising (gest. 1158). Otto von Freising kennt auch die Burgundenkönigin Brunichilde. Otto erzählt von dem schrecklichen Ende dieser Königin, die König Chlotar, an die Schwänze wilder Pferde gebunden, habe zerreißen lassen als warnendes Beispiel dafür, dass "wir Unmenschlichkeit verabscheuen sollen" (Chronica V.7)- Steht dann der Burgundenuntergang als Beispiel für die "civitas diaboli"?- oder in Analogie zum 1. Reichston Walters von der Vogelweide (ca. 1198) "ich saz ûf einem steine", der sich in aller Eindringlichkeit fragt, wie man auf dieser Welt zu leben habe, in einer Welt, in der "Verrat im Hinterhalt lauert, Gewalttat auf die Straße zieht, Friede und Recht todwund sind..." ("untriuwe ist in der sâze, gewalt vert ûf der strâze, fride unde reht sint sêre wunt."(V. 21-23).

Es wird hier eine Welt gezeigt, in der die christlichen Ideale nichts gelten, ja wo für christliche Gesinnung kein Raum ist. Die Tugenden, die den Herrscher auszeichnen sollen, werden nicht gelebt. Der Herrscher – wie hier Gunther- hat keine Vorbildfunktion – im Unterschied z.B. zur Artusepik. Das Fehlverhalten der Königinnen, wie z.B. der grôze nît (Str. 846) wird als

Ursache menschlichen Elends aufgezeigt ("von zweier vrouwen bâgen wart vil manic helt verlorn") (Str. 876,4) oder der übermuot Siegfrieds bei seinem ersten Auftreten in Worms und als er, der "Übermütige", Kriemhild Ring und Gürtel Brünhilds gibt und seine Überkräfte nicht für sittlich gute Taten, sondern für List und Betrug (an Brünhild) einsetzt - oder die superbia Hagens, der Siegfried hinterrücks ermordet.
Das Böse führt zur Vernichtung. Man vergleiche hier ganz aktuell die feige, hinterhältige Tat der Terroristen in New York und Washington, die Tausende unschuldiger Menschen im World Trade Center vernichtete.
Das NL zeigt am Ende den gewaltsamen Tod aller "Helden", die durch die verschiedensten Übeltaten Schuld auf sich geladen haben. Und der Untergang wird von Anfang an personifiziert, d.h. als das Fehlverhalten einzelner in den Blickpunkt gerückt: "si sturben sît jaemerlîche von zweier edelen frouwen nît."(6,4) oder "durch sîn eines sterpen starp vil maniger muoter kind" oder "(Kriemhild) ward ein scoene wîp; darumbe muosen degene vil verliesen den lîp" etc.

Siegfried, Gunther, Hagen sind Helden ohne Skrupel, ohne Gewissen. Lüge und Betrug bestimmen ihr Handeln. Die Lüge dient der Durchsetzung der eigenen Interessen.

Dem entgegen steht der Gewissenskonflikt Rüedegers oder die Haltung der "erbermde" Dietrichs von Bern - das sind aber keine Wormser!

Dietrichs Verhalten während der Saalschlacht steht im Zeichen einer barmherzigen Gesinnung. Er wird hier von Kriemhild als Retter und Schützer angerufen (1983), der allein noch helfen kann; und Dietrich verwendet sich in der Stunde der Not für Kriemhild und Etzel; er erwirkt freien Abzug. Obwohl Dietrich Kriemhilds bedingungslose Vergeltungssucht erkennt, zeigt sich gerade darin, dass er ihr in der Not beisteht, seine sittliche Persönlichkeit, dokumentiert sich seine christliche Haltung der " erbermde". Ja, er erbittet sogar für Gunther und Hagen, die seine Mannen erschlagen haben, Gnade bei Kriemhild. Im christlichen Aspekt der Verzeihungsbereitschaft will er die Schuld, die Hagen und Gunther auf sich geladen haben, vergessen sein lassen. Er weiß sich nicht nur weltimmanenten Normen, sondern zugleich den Forderungen einer höheren, transzendenten Instanz verpflichtet.
Dietrich erscheint in der Rolle des Friedensstifters. Doch Diplomatie und Stabilität erreichen ihr Ziel nicht. Dietrich gelingt es nicht, den Konflikt zu begrenzen und die Katastrophe zu verhindern. In einer Zeit großer Unsicherheit über gesellschaftliche Werte und die Rolle des einzelnen ist der Prozess der individuellen Friedenssuche noch sehr zögerlich.

Dietrichs Position der "suone" ist deshalb zum Scheitern verurteilt, weil die Voraussetzungen für die Konfliktbegrenzung und Überwindung des unbedingten Rachewollens, nämlich Reue und Schuldeingeständnis, durch den in Schuld verharrenden Menschen nicht geleistet werden.

Der Dichter der nôt-Fassung des NL hat die Destruktion des höfischen Glanzes nicht durch einen christlichen Ausblick, nicht durch die Hoffnung auf eine andere Welt aufgefangen.
Da der Untergang von Anfang an determiniert ist, fehlt den Menschen des NL die Zukunftsgespanntheit auf ein positives Ziel, sei es im Diesseits oder Jenseits.