DIE NIBELUNGEN
AN DER DONAU


Auszug aus dem Teil VII des Buches:

DIE DONAU
Ein Europäischer Fluss
und seine 3000-jährige Geschichte
.

von Michael W. Weithmann

Regensburg, Verlag Pustet;
Köln, Wien, Graz, Verlag Styria; 2000

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EIN RHEIN- UND DONAUMYTHOS


Wie unter einem Brennglas verdichten sich viele Ereignisse des frühen und hohen Mittelalters im Nibelungenlied. Seine dramatische Handlung spielt sich im ersten Teil im Rheingau, im zweiten Teil aber vollständig an den Gestaden der Donau ab. Erinnern wir uns: Siegfried freit um Kriemhild, die Schwester des Burgunderkönigs Gunther zu Worms. Siegfried gilt als allgewaltiger Held, weil er das Dämonengeschlecht der Nibelungen besiegt und sich ihren Goldhort angeeignet hat. Er erhält aber erst dann die Hand Kriemhilds, nachdem er die begehrte Brunhild mit Hilfe einer Tarnkappe an Stelle Gunthers überwunden und für den König zur Frau erworben hat. Als Brunhild dies von Kriemhild anlässlich eines Streits erfährt, beauftragt sie Hagen, den treuesten Gefolgsmann Gunthers, diese Schmach zu rächen. Und dieser bringt Siegfried mit vollem Wissen der Burgunder bei einer Jagd ums Leben und versenkt den Nibelungenhort im Rhein. Hagen wird überhaupt zur Schlüsselfigur im ganzen Epos. Wir haben es im ersten Teil des Epos mit einer Synthese von alten germanischen Mythen, wie sie etwa in der Sigurd-Saga der Edda überliefert sind, und vagen Erinnerungen an das völkerwanderungszeitliche Königreich der Burgunder am Mittelrhein zu tun. Siegfrieds Drachenkampf, sein Bad im Blut des Ungetüms, das ihn, mit einer Ausnahme, unverwundbar macht, der Nibelungenschatz, und natürlich die Figur der Brunhild, einer nordischen Walküre, sind Motive und Gestalten der heidnischen Heldensage. Das Burgunderreich am Rhein hingegen hat es im 5. Jahrhundert wirklich gegeben, bis es von den Hunnen Attilas im Jahr 436 vernichtet wurde. Der damalige König hieß Gundahar, also Gunther. Seine Nachfolger, einer trug den Namen Gundobad, gründeten ein neues Reich an der Rhone, dessen Herzstück heute noch als Bourgogne bekannt ist. Nach 535 ging es im Reich der Franken auf.

Unter den Merowingern durchlief das Frankenreich im 6. und 7. Jahrhundert Phasen von höchst gewaltsamen dynastischen Erschütterungen. Verrat, Giftmord, Bruderkrieg und generationenlange Blutrache wechselten sich ab. Eine der Protagonistinnen war die fränkische Königin Brunhild, die zeitweise in Worms residierte. Ihre Gestalt wurde zum Mittelpunkt mehrerer Sagenkreise. Hagens einflussreiche Stellung im Nibelungenlied erinnert indes an die „Hausmeier“ am merowingischen Königshof. Obwohl sie Vasallen waren, führten sie das große Wort und schränkten den Einfluss der fränkischen Könige immer weiter ein, bis sie unter Pippin selbst die Macht übernahmen.

Der zweite Teil des Epos, Kriemhilds Rache, bezieht offensichtlich zum Teil geschichtliche Tatsachen mit ein, die allerdings umgedeutet in den Handlungsstrang eingewoben worden sind. Nach langem Zögern gibt Kriemhild dem Werben des hunnischen Königs Etzel, hinter dem sich die geschichtliche Gestalt Attilas verbirgt, nach und zieht der Donau abwärts entlang ins Hunnenland, - aber nicht ohne sich vorher der Gefolgschaftstreue Rüdigers von Bechelarn, des treuesten Paladins Etzels, versichert zu haben. Als Gemahlin des Hunnenkönigs lädt sie König Gunther und ihre anderen Brüder zu einem friedlichen Fest ein. Hagen, der die Burgunder vergeblich gewarnt hat, begleitet das burgundische Aufgebot, das im Lied nun „Nibelungen“ genannt wird. Entlang der Donau ergeben sich etliche Abenteuer, wobei die „Nibelungen“ auf verschiedene Persönlichkeiten treffen, etwa Bischof Pilgrim von Passau, den Onkel Kriemhilds, und den Markgrafen Rüdiger von Bechelarn, der sich mit den Burgundern verschwägert und - voraussehbar - in schwerste Loyalitätskonflikte gestürzt werden wird. An der Etzelburg angekommen entspinnt sich der von Kriemhild angefachte Kampf, dem schließlich alle „Recken“ beider Seiten, einschließlich der Königin selbst, zum Opfer fallen. Übrig bleiben nur Dietrich von Bern (der historische Ostgotenkönig Theoderich von Verona), der ziemlich unvermittelt auftaucht und die verworrene Situation, die auch der Dichter nicht mehr überblickt, zu einem etwas bemühten Abschluss bringt, sowie Etzel, der unverschuldet in die Rachepläne seiner Frau hineingezogen worden ist. Im Schlussbild stehen beide Heldenkönige weinend vor der zerstörten Burg inmitten der Erschlagenen. Mit der Strophe “...das ist der Nibelungen Not“ endet das Drama.

In diesem zweiten Teil des Liedes schimmern nun zahlreiche Ereignisse durch, die einen realen historischen Hintergrund besitzen. Allerdings sind sie im Epos aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang gerissen und erscheinen in einer chronologisch überhaupt nicht zusammenpassenden Reihenfolge. Der gewaltsame Untergang des ersten Burgunderreiches durch die Hunnen 436 wurde schon angesprochen. Überraschend ist die Wertung Attilas, der zwar als Heide, aber als toleranter, mildtätiger und vor allem rechtmäßiger Herrscher über zahlreiche Völker beschrieben wird. Die geschichtliche Überlieferung, die wir oben angesprochen haben korreliert damit nicht, im Gegenteil, hier wird der Hunnenherrscher als Geißel Gottes und gnadenloser Vertilger beschrieben. Auch das germanische Atli (=Attila-) lied, das auf Erfahrungen der Völkerwanderung beruht, schildert ihn als grausamen Despoten, der die burgundische Königin Kriemhild (nach anderer Namensversion Gudrun) nur deshalb zur Frau nimmt, um ihre Brüder an seinen Hof zu locken und zu ermorden, um in den Besitz des Nibelungenschatzes zu kommen. Daraufhin tötet Kriemhild - in völliger Umkehrung zum späteren Nibelungenlied - den Hunnenkönig und rächt ihre Brüder. Diese Geschichte fußt offenbar auf Mitteilungen des byzantinischen Geschichtsschreibers Priskos, den wir bereits als durchaus verlässlichen Zeitzeugen und Diplomaten am Hof Attilas kennen gelernt haben. Priskos beschreibt den Hunnenkönig in düsteren Farben, bemüht sich aber um Objektivität und hebt die Ordnung und besonders den Einklang des Königs mit seinen germanischen Vasallen hervor. Er erzählt außerdem die merkwürdige Geschichte, dass Honoria, die Schwester Kaiser Valentinians III., welcher zum christlichen Ruhme des Kaiserhofes ewige Jungfräulichkeit auferlegt war, sich an Attila um Hilfe gewandt habe. Den plötzlichen Tod des Hunnenkönigs im Jahr 453 während der Brautnacht mit einer Germanin namens Ildiko führt der gebildete Grieche auf vorhergehendes unmäßiges Trinken zurück. Erst nachdem die vorher unterworfenen Gepiden das führerlose Hunnenreich zerschlagen hatten, ergaben sich Spekulationen, dass Attila von der Germanin erdolcht worden wäre. Jordanes, der im 6. Jahrhundert eine aus Tatsachen und Legenden gemischte Geschichte der Goten verfasste, ließ diese Frage offen.

Bei den Ostgoten entstand indessen eine ganz andere Attila-Tradition, die auch bei Priskos anklingt, nämlich die des weisen Völkerlenkers, der all die kriegerischen Stämme befriedet und im Zaum hält und der die besiegten Könige in ein ehrenvolles „ritterliches“ Gefolgschaftsverhältnis übernimmt. Davon profitierten offenbar die Ostgoten in einem solchen Ausmaß, dass sie dem Hunnenkönig den schmeichelhaften Namen „Väterchen“ (das bedeutet Attila) verpassten. Nichts deutet darauf hin, dass er ironisch gemeint sein könnte! Und dieser Tradition des gütigen Königs Etzel folgt auch das Nibelungenlied. Doch die Heroisierung des heidnischen Hunnenherrschers fast im Stil eines christlichen König-Artus-Mythos muss noch auf anderen Grundlagen stehen. Wie wir gehört haben, wurde der Volksname der Hunnen im 10. und 11. Jahrhundert auf die Magyaren übertragen. Und bei diesen tauchen anlässlich ihrer Bekehrung zwei Herrschergestalten auf, die in der Überlieferung dem Etzel-Bild ähneln. Da wäre Geza, jener Großfürst aus der ungarischen Herrscherdynastie der Arpaden, der zwar Heide ist, aber die Missionare aus Regensburg und Passau nach Kräften fördert. Dem Wunsch seiner Frau, einer Christin namens Sarolta, den gemeinsamen Sohn Vajk taufen zu lassen, gibt er ohne Zögern nach - genauso wie Etzel den mit Kriemhild gezeugten Sohn Ortlieb christlich erziehen lässt. Während der Knabe im Nibelungenlied das Schluss-Gemetzel nicht überlebt, wandelt sich der geschichtliche Vajk im Jahre 1000 zum christlichen König Stephan, dem später heilig gesprochenen Idealtypus des christlichen Königs und Ritters. Züge beider „Hunnen-“ Herrscher könnten das Bild Etzels im Nibelungenlied beeinflusst haben. Und ist nicht frappierend, dass Stephans christliche Braut, die bayerische Prinzessin Gisela, aus dem Westen kommt und der Donau entlang nach Ungarn, ins „Hunnenland“, fährt? Der tödliche Unfall ihres letzten Sohnes Emmerich - während einer Jagd! - und der bald darauf folgende Tod ihres Mannes inmitten grausamer Thronkämpfe wurde zwar von den Historiographen als „natürlich“ erachtet, aber war es das auch für die gedemütigte Königin? Dachte sie nach ihrer erzwungenen Rückkehr nach Bayern etwa an Rache? Auch Kriemhild wandelt sich ja von der holden Maid zur hochfahrenden Frau an Siegfrieds Seite und wird nach seinem Tod zum erbitterten Racheengel. Während in manchen ungarischen Chroniken die erste christliche Königin wirklich als selbstherrlich und ihren Mann beherrschend stilisiert wird, fehlt für den Rachegedanken a la Kriemhild freilich jeglicher Hinweis. Betrachten wir Giselas Brautfahrt ins Hunnenland aber trotzdem als Mosaiksteinchen zum realen Hintergrund des Nibelungenepos.

Etwas besser ist die Figur des Markgrafen Rüdiger, den der Nibelungendichter in Bechelaren (Pöchlarn) ansiedelt, historisch fassbar. Es dürfte sich um einen bayerischen Adligen gehandelt haben, der zusammen mit dem bayerischen Herzog Arnulf zu den Ungarn ins Exil ging, und in ihrem Dienst die Grenzwacht an der Donau und an der Enns übernahm. Wir könnten ihn dann um das Jahr 920 datieren. Vielleicht ist ihm eine längere magyarisch-bayerische Friedensperiode von 913 bis 927 zu verdanken gewesen und vielleicht hatte er erreicht, dass die einheimische Bevölkerung in seinem Gebiet trotz der magyarischen Oberherrschaft unbehelligt geblieben ist. Das würde jedenfalls die außerordentlich positive Bewertung seines Handelns im Lied erklären. An der Erhöhung seiner makellosen Gestalt ist andererseits nicht zu übersehen, dass der Dichter in Rüdiger ritterliche Tugenden, allen voran die bedingungslose Gefolgschaftstreue, verkörpern wollte. Und manches deutet daraufhin, dass die Lichtgestalten Rüdigers, seiner Gemahlin Godelind und ihrer Familie eine Huldigung an die Babenberger Herzöge darstellt. Rüdiger war ja Markgraf der Ostmark, genauso wie die Babenberger vom 10. Jahrhundert an.


DER NIBELUNGENDICHTER - EIN PASSAUER?


An dieser Stelle tangieren wir die höchst heikle Frage nach der Herkunft, der Entstehungszeit und letztlich nach dem Verfasser dieses gewaltigen Epos. Aus 39 „Aventiuren“ (Abenteuern) besteht es, und jede für sich war, von einem Sänger oder Spielmann vorgetragen, abendfüllend. Unter den erhaltenen Handschriften, die jeweils alle 2300 Strophen beinhalten, stammen die drei ältesten aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Es sind dies die zwei Hohenemser Manuskripte, so benannt nach dem Fundort, dem gräflichen Palast zu Hohenems in Vorarlberg. 1755 wurde dort ein erster Foliant, ein paar Jahre später ein zweiter aufgefunden, der 1810 an die Bayerische Staatsbibliothek in München veräußert wurde. Die erste Handschrift gelangte 1855 an die fürstliche Hofbibliothek in Donaueschingen, in deren Zimelienkammer sie noch heute ruht. Dem mittelhochdeutschen Original am nächsten kommt der Codex, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Stiftsbibliothek zu Sankt Gallen (wieder-) entdeckt wurde und dort unter einer Glashaube zu bewundern ist.

Wir haben schon festgestellt, dass das Epos, so wie es uns in den drei mittelhochdeutschen Handschriften vorliegt, ein Konglomerat aus mehreren Heldenliedern verschiedener Zeiten sowie schriftlich oder mündlich überlieferter, manchmal stark abgewandelter historischer Ereignisse darstellt. Es mag verschiedene Vorstufen gegeben haben, die jedoch nicht schriftlich niedergelegt waren. Der namentlich nicht bekannte Urheber der Schriftform, den wir suchen, hat aus diesem disparaten Stoff ein neues Ganzes kompiliert und in der hochmittelalterlichen höfischen Poesie überarbeitet. Seine schöpferische Tätigkeit bestand darin, die oftmals nicht zusammenhängenden Teile innerhalb der übergeordneten Rahmenhandlung zusammenzufügen und den konsequenten roten Faden des Handlungsablaufs einzuhalten. Nahe liegende Überlegungen, es könnte sich bei den beiden Hauptteilen jeweils um einen eigenen Autor handeln - einen, dem eher das Rheinland näher stünde, während der andere aus dem Donaugebiet käme - haben sich nicht bewahrheitet, da alle Strophen mit Sicherheit nur von einer Hand stammen.

Die bestehende Lehrmeinung geht seit langem davon aus, dass der Dichter im bayerisch-österreichischen Donauraum beheimatet war. Denn gerade im zweiten Teil des Epos, der den Zug der Burgunder ins Hunnenland beschreibt, häufen sich die Hinweise darauf, dass hier Orte und Landschaften Erwähnung finden, die der Schreiber selbst von Augenschein kannte. Und nicht nur das, auch eigene Erlebnisse, vielleicht einer der Kreuzzüge Donau abwärts, sind ganz offensichtlich in die Handlung eingeflossen. Anhand des Textes kann man sogar die Herkunft, bzw. das Wirkungsfeld des Dichters noch mehr eingrenzen. Ist es nicht auffallend, dass Passau und sein Bischof Pilgrim eine so herausragende Rolle spielen? Zum Ablauf der Handlung trägt dieser in besten Farben geschilderte Gottesmann, der als Onkel Kriemhilds vorgestellt wird, eigentlich nichts bei. Man darf also vermuten, dass der Autor mit dieser eingeschobenen Gestalt jemanden Bestimmten einen Gefallen erweisen möchte. Und wer käme da mehr in Betracht als sein Gönner oder sein Lehensherr?

Minnesänger und Dichter bekleideten in der Hierarchie der mittelalterlichen Gesellschaft nur einen bescheidenen Rang. Wenn überhaupt, waren Angehörige des niederen Dienstadels und zum Lebensunterhalt auf Gaben und das Wohlwollen eines Sponsors angewiesen. Den historischen Pilgrim, der den Passauer Bischofsthron von 971 bis 991 innehatte, haben wir schon als tatkräftigen Ungarnmissionar kennen gelernt. Er war es, der auf den Großfürsten Geza eingewirkt hat, seinen Sohn Vajk/Stephan taufen zu lassen, und er war es, der die Vermählung des zukünftigen christlichen Ungarnkönigs mit der bayerischen Herzogstochter Gisela arrangiert hat. Und Gisela war in der Tat seine nahe Anverwandte!

Freilich dürfen wir uns jetzt nicht auf eine falsche Fährte locken lassen: Pilgrim selbst kommt nämlich als Zeitgenosse unseres anonymen Nibelungendichters nicht in Frage. Das ganze in der Nibelungenepik ausgebreitete ideelle und soziale Umfeld ist gute zwei Jahrhunderte von Pilgrims 10. Jahrhundert entfernt. Nicht nur die mittelhochdeutsche Sprache der oben erwähnten Handschriften weist eindeutig ins staufische Hochmittelalter, sondern auch das Rittertum, die höfische Minne, die Schilderungen der Burgen, Festmähler und Turniere. Und wir werden auch sehen, dass manche Ereignisse reflektiert werden, die erst im 12. und in den ersten Jahren des 13. Jahrhundert stattfanden. Zu seinen Lebzeiten war der machtbewusste Pilgrim nicht unumstritten gewesen (Stichwort „Lorcher Fälschungen“, doch nach seinem Ableben bildete sich ein regelrechter Kult um ihn heraus. Die Pilgrim-Verehrung erreichte gegen Ende des 12. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Ein besonderer Förderer war derjenige Passauer Kirchenfürst, der 1191 - also 200 Jahre nach Pilgrims Tod - den Bischofssitz bestieg: Wolfger von Erla. Wolfger zählt zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der staufischen Epoche. Er stand mit Kaiser und Papst in engem Verhältnis und versuchte die zwischen beiden Herrschern hochgehenden Wogen diplomatisch zu glätten. Vielfach verbürgt ist, dass sich der Bischof gerne mit Sängern und Dichtern umgeben hat. Wir wissen zum Beispiel, dass Walther von der Vogelweide von ihm „für einen Pelz fünf lange Schilling“ erhalten hat („Walthero cantori de Vogelweide pro pelliceo V solidos longos...“). Zu Wolfgers Kunst- und Literaturfreude mag beigetragen haben, dass er erst als 45-jähriger Witwer in den Dienst der Kirche getreten war und seine „weltlichen“ Vorlieben offenbar nicht aufgeben wollte. Die Forschung nimmt nun an, dass der unbekannte Nibelungendichter sich am musenfreudigen Hof Wolfgers in Passau aufgehalten habe, ja dass der Bischof selbst der Auftraggeber des Epos gewesen sei. Und als Dank - oder als Bedingung! - sei vom Dichter Bischof Pilgrim ins Lied übernommen worden, wobei jedem zeitgenössischen Hörer klar war, dass mit Pilgrim in Wirklichkeit Wolfger von Erla gemeint sei. Dieser durchaus überzeugenden These zufolge wäre das Nibelungenlied während des Episkopats Wolfgers von Erla, 1191 bis 1204, in Passau niedergeschrieben worden.

Wie steht es aber dann mit der „Babenberger Connection“, die wir oben angesprochen haben? Es deutet doch einiges daraufhin, dass sich der Dichter auch den österreichischen Herzögen verpflichtet gefühlt habe. Hierzu lässt sich sagen, dass das eine das andere nicht ausschließt, denn zwischen dem Passauer Bischof und den Babenbergern herrschte herzliches Einvernehmen. Beide waren überzeugte staufisch-kaiserliche Parteigänger. Für einen kleinen Sänger dürfte es sicher auch nicht falsch gewesen sein, sich des Rückhalts zweier - dazu befreundeter - Potentaten zu versichern. Im Oktober 1203 begab sich Wolfger mit großem Gepränge und zahlreichem Gefolge in die neue babenbergische Residenz Wien und vermählte den babenbergisch-österreichischen Herzog Leopold VI. mit der byzantinischen Kaisertochter Theodora Angela. Leopold, durch das von seinem Vater erpresste Lösegeld für Richard Löwenherz reich geworden, führte den Beinamen „der Glorreiche“, wohl nicht zuletzt deshalb, weil er sich gegenüber Dichtern, Troubadouren und Spielleuten als sehr freigebig erwies. War unser Autor etwa bei der Wiener Hochzeit, die in allen Quellen als sehr prunkvoll und als Höhepunkt des ritterlich-höfischen Lebens beschrieben wird, zugegen? Hat er sie als Vorbild für die von ihm ebenso großartig geschilderte Hochzeit Etzels und Kriemhilds „ze Wiene“ genommen? Beide Feierlichkeiten, die echten wie die dichterischen dauern jeweils 17 Tage. In beiden werden Gewänder, Mäntel und Geldstücke nicht nur an die Ritter, sondern auch an Spielmänner und Sänger verteilt, was - die letzteren betreffend - gar nicht so selbstverständlich war. Klingt es nicht so, als ob unser Anonymus von Leopold dem Glorreichen üppig bedacht worden ist und sich dadurch erkenntlich gezeigt hat, so dass er die Wiener Prunkhochzeit in sein Epos mit eingebaut hat? Denn jeder Zeitgenosse wusste ja, welches Fest gemeint war. Oder, anders gedacht, dass der Babenberger ihn dafür bezahlt hat, Österreich und Wien besonders herauszuheben? Wenn dem so ist, und diese Argumente sind nicht von der Hand zu weisen, wäre die endgültige Fassung des Epos zwischen 1203 und 1204 entstanden. Die oben erwähnte Geldübergabe an Walther von der Vogelweide fand übrigens auf dem Heimweg Wolfgers von der Wiener Babenberger Hochzeit nach Passau statt, und zwar in Zeiselmauer, einem alten Passauer Besitz zwischen Wien und Tulln. Vermutlich wollte der Kirchenfürst nicht hinter dem Emporkömmling Leopold zurückstehen und beschenkte seine Leute zum Martinstag (11. November) ebenso reichlich. Wir dürfen annehmen, dass sich auch der Nibelungendichter darunter befunden hat, obwohl er in den Abrechnungen nicht erscheint.


DIE DONAU ALS WEGWEISER


Konzentrieren wir uns im Folgenden auf den zweiten Teil des Nibelungenliedes, der sich vom Rheinland abwendet und seinen geographischen Schwerpunkt an der Donau findet. Er beginnt damit, dass Rüdiger sich von der Etzelburg, wo sein Gebieter, der Hunnenkönig, residiert, über Wien und Pöchlarn zur Burgunderburg begibt, um dort im Namen seines Herrn um Kriemhild zu freien. Historisch-geographisch gibt diese erste Donaureise des Nibelungenliedes nicht viel preis. Aufschlussreich ist lediglich die Angabe von 12 Tagesreisen zwischen Pöchlarn und Worms, die für eine kleine berittene Gruppe gut bemessen ist. Etwas mehr erfahren wir anlässlich der zweiten Donaufahrt, Kriemhilds Brautzug. Der Weg vom Rhein an die Donau führte über alte Römerstraßen und warf für Kriemhild mit ihren 100 Hofdamen, 500 burgundischen Kriegern, und für das heimkehrende Gefolge Rüdigers keine großen Probleme auf. Jedenfalls verschwendet der Dichter keine Strophe für diesen Weg. In Fergen erreicht der Zug die Donau. Der Ortsname bezieht sich auf den Fährverkehr, der dort vom Nord- zum Südufer der Donau übersetzt. Man identifiziert ihn mit Pförring, der alten Donauüberfuhr zwischen Ingolstadt und Kelheim, die uns schon mehrfach begegnet ist. Hier befand sich eine der Hauptfurten der oberen Donau, an der schon ganze Heere übergesetzt sind. Merkwürdig mag erscheinen, dass der Dichter weder bei Kriemhilds Brautzug noch bei der späteren Burgundenfahrt auf die bereits 1146 fertig gestellte Steinbrücke in Regensburg Bezug nimmt. Doch erinnern wir uns, dass er seinen Zuhörern ja von „alten Mären“ erzählen will, in denen von Etzel, Dietrich von Bern und Pilgrim die Rede ist. Jeder Zuhörer wusste, dass die berühmte Regensburger Brücke in deren sagenhaften Zeitläufen noch nicht existiert hat!

Als nächster Ort wird Pledelingen genannt. Hier empfängt der Passauer Bischof Pilgrim seine Nichte Kriemhild und begleitet sie der Donau entlang zu seiner Residenz Passau. Pledelingen ist der heutige Ort Plattling im Bereich der Mündung der Isar in die Donau. Der ursprüngliche Ort lag auf dem östlichen Ufer der Isar, wo heute noch die Sankt Jakobskirche steht. Erst nach einem verheerenden Hochwasser von 1378 wurde der Markt auf das linke Isarufer verlegt. Es ist noch gar nicht lange her, dass die Plattlinger bemerkt haben, dass sie im Nibelungenlied Erwähnung finden. Flugs riefen sie ein Sommerspektakel ins Leben, das die Begegnung Pilgrims mit Kriemhild zum Thema hat.

Nach dem Zusammentreffen der Witwe Siegfrieds mit ihrem bischöflichen Onkel in Plattling lässt das Epos keinen Zweifel, dass der Brautzug nun einem Höhepunkt zusteuert: Passau. Zu Recht wird die eindrückliche Schilderung dieser von Donau und Inn eingefassten Stadt einem Augen- und Zeitzeugen zugeschrieben. Die Strophe „...und da das In mit vlusse in die Tuonowe gat“ zählt zu den schönsten und anschaulichsten des gesamten Liedes. „mit vlusse“ heißt, dass der Inn mit starker Strömung in die Donau fährt, was ja immer noch der Fall ist. Das Kloster, das in derselben Strophe erwähnt wird, liegt am Zusammenfluss beider Gewässer. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist damit das altehrwürdige Nonnenkloster Niedernburg gemeint, das heute noch - wenn auch in baulich veränderter Form - besteht. Wir haben es schon mehrfach erwähnt und auch darauf hingewiesen, dass sich in seiner Kirche das Grabmal der selig gesprochenen Ungarnkönigin Gisela befindet. Ein romanisches Bogenportal und Wandmalereien in der ehemaligen Marienkapelle gehen noch auf die Zeit des Nibelungendichters zurück. (Der Raum dient heute als Requisitenkammer für die Schulaula). Mit einigem Recht hat man indes angemerkt, dass die Beziehungen zwischen dem reichsunmittelbaren und sehr wohlhabenden Kloster Niedernburg und dem Bischof von Passau im 12. Jahrhundert nicht die besten waren. Denn Wolfger war bestrebt - wie übrigens bereits sein großes Vorbild Pilgrim - das Kloster seinem Machtbereich einzuverleiben und damit die bischöfliche Herrschaft über die Stadt Passau zu vollenden. Dagegen wehrten sich die Äbtissinnen mit allen Mitteln. Erfolg war ihnen letztlich nicht beschieden, denn in den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts gelangte Bischof Ulrich in den vollständigen Besitz des Klosters und seines „Landes der Abtei“ an der Ilz. Unter Wolfger aber tobte der Rechtsstreit noch unentschieden hin und her, und es mag für einen Dichter im bischöflichen Dienst nicht ratsam gewesen sein, gerade den erbitterten Gegner lobend zu erwähnen. In diesem Fall wäre demnach wohl nicht das widerspenstige Frauenkloster, sondern das bischöfliche Domstift selbst gemeint, das neben dem hochgelegenen Stephansdom lag.

Passau wird dem Hörer als „Stadt“ vorgestellt, seine Bewohner sind „Bürger“, und unter diesen finden die „Kaufleute“ besonders ehrenvolle Erwähnung. Auffallend ist, dass der Bischofssitz als „des Fürsten Hof“ bezeichnet wird, obgleich dieser Titel um 1200 eigentlich nur den Herzögen und Erzbischöfen vorbehalten war. Aus den schmückenden Zeilen, in denen der Dichter die „schönen Maiden“, „edlen Ritter“ und „guten Herbergen“ preist, lässt sich seine Absicht erschließen, Passau als ein höfisches Zentrum darzustellen. Der mittelalterliche bischöfliche Palast stand am höchsten Punkt des Dombergs, direkt über dem Inn. Seine Gebäude sind im 15. und 16. Jahrhundert verändert worden. Heute ist darin das Landgericht untergebracht. Nur mehr Fragmente erinnern an die große Zeit Wolfgers. Im Passauer Rathaussaal hat der Historienmaler Ferdinand Wagner 1891 den Einzug Kriemhilds in Passau auf einem farbenschwelgenden Kolossalgemälde festgehalten.

Als nächste Station des Brautzuges, in etwa 65 Kilometer Entfernung, wird Eferding genannt, das wir als alten passauschen Besitz kennen. Vorangegangen war der Ritt durch die Donauengtäler von Jochenstein und Schlögen. Hier siedelt das Nibelungenlied Räuber und Wegelagerer an, von denen Kriemhilds Zug aber verschont bleibt. Bei Eferding zweigte eine Wegstrecke von der Donau ab und führte in etwa 70 Kilometer direkt - unter Umgehung von Linz - über den Traunfluß zur Enns. Hier erblicken die Reisenden „uf das velt“ (auf dem Feld), „uf gespannen hütten und gezelt“. Dieses Feld muss östlich der Enns in der weiten Talaue der Donau gelegen haben, denn es waren Rüdigers Gemahlin Godelind und ihre Gefolgsleute, welche das prächtige Zeltlager zum Empfang der Königin aufgebaut hatten.

Die Enns markierte lange Zeit eine deutliche Grenze gegen Osten hin. Hier begann das Reich der Awaren, später die Awarische Mark, dann dehnten die Magyaren ihren Machtbereich bis zur Enns aus. Seit dem 12. Jahrhundert verlief hier die Grenze der Ostmark zum Bayernland. Der Nibelungendichter lässt östlich der Enns Attilas Reich beginnen, was wohl auf einer Reminiszenz an die Hunnen genannten Awaren und Ungarn beruht. Die hier beginnende Ostmark, das „Osterlant“, ist im Lied vom Hunnenkönig seinem Vasallen, dem Markgrafen Rüdiger übergeben worden. Dessen Burg Bechelaren (Pöchlarn) an der Mündung der Erlauf wird nach etwa 70 Kilometern Reise quer durchs Machland und den Strudengau erreicht. Man saß dort in einem prächtigen Palas, „wo die Donau unter ihnen floß“. Der Ursprung Pöchlarns im römischen Kastell Arelape ist heute noch gut in der rechteckigen Form der Altstadt zu erkennen. Die römischen Mauern des Donauhafens waren noch bis ins 16. Jahrhundert sichtbar. Vermutlich nimmt der Dichter auf diese zu seiner Zeit noch hochragenden Ruinen Bezug, wenn er von der „weiten Burg Markgraf Rüdigers“ spricht.

Nach Pöchlarn führt der Markgraf die Gesellschaft weiter „zetal durch Ostarriche“, also entlang des Donautals durch „Österreich“, wie die Ostmark unter den Babenbergern auch häufig genannt wurde. Die erste Rast findet in Medelicke, Melk, statt. Auch um 1200 wird die romanische Klosterburg auf dem Felsklotz am Eingang zur Wachau einen ähnlich unübersehbaren Anblick geboten haben wie der bombastische Barockbau von heute. Da der Dichter, wie ausgeführt, den Babenbergern verpflichtet war, durfte er ihre erste Residenz Melk nicht unerwähnt lassen. Auf Weisung des Melker Burgherren folgt der Brautzug weiter der Donau durch die Wachau. Er schlägt also nicht den erheblich kürzeren und geraden Weg über Sankt Pölten ein. Das mag damit zusammenhängen, dass man in Mautern wieder bischöflich-passauischen Boden betrat. Hier verlässt Bischof Pilgrim die Gruppe und kehrt zurück. Sodann nimmt Kriemhild im nahe gelegenen Traismauer vier Tage Aufenthalt. In mehreren Handschriften steht übrigens statt Treisenmure „Zeisenmure“. Das hat schon oft zu Verwechslungen mit dem weiter stromabwärts gelegenen Donauort Zeiselmauer geführt.

Auf dem nahe gelegenen Tullner Feld findet die denkwürdige Begegnung Kriemhilds mit Etzel statt, der mit zahlreichen Recken heran geritten kam. Der Dichter benutzt diese Gelegenheit, um dem Zuhörer eine lebendige Schilderung einer derartigen höfischen Inszenierung vor Augen zu führen, die fast eine ganze „Aventiure“ einnimmt. Deutlich wird, dass der Autor selbst, vielleicht als Kreuzzugsteilnehmer, an einer solchen Massenveranstaltung teilgenommen hat. Unter den zahlreichen Völkerschaften aus Etzels Reich werden auch Walachen und Petschenegen genannt, die gerade um 1200 an der unteren Donau von sich reden machen und deswegen dem Nibelungendichter erwähnenswert erscheinen. Das Tullner Feld, in den historischen Quellen meist nur „Veldt“ oder „Campus“ genannt, diente als idealer, bis ins 19. Jahrhundert häufig benutzter Aufmarschplatz für Truppen und Paraden. Der verhältnismäßig kurze Weg nach Wien eignete sich gut für einen langsamen und würdevollen Festzug.

In Wien angekommen, lässt der Nibelungendichter seine Zuhörer nicht im Unklaren, dass hier die Erzählung wieder einem Höhepunkt zustrebt. Das gilt zwar nicht für Kriemhilds Hochzeitsnacht, in der sie um ihren verblichenen Erstgemahl weint, aber in der Darstellung des Wiener Hofes lässt der Dichter kein schmückendes Attribut aus. Dass die königliche Prunkhochzeit Etzels und Kriemhilds ein reales Vorbild in den Vermählungsfeierlichkeiten Herzog Leopolds des Glorreichen mit der griechischen Prinzessin Theodora gehabt hat, wurde schon erwähnt. Und sicher hat der Herzog die lobende Nennung der babenbergischen Stätten Pöchlarn, Melk, Tulln und Wien mit Genugtuung vernommen und unserem Autor entsprechend vergolten. Gerade für Wien, das ja noch gar nicht so lange die Residenz der Babenberger war, erschien es wichtig, in vornehmen und ritterlichen Kreisen bekannt zu werden.

Die folgenden Wegstationen sind Hainburg und zuletzt Misenburc, womit Wieselburg (ungarisch: Moson), gemeint ist. Wieselburg war die allen Kreuzfahrern bekannte erste ungarische Stadt am rechten Donauufer. Kaiser Barbarossa bestieg hier ein Schiff und fuhr weiter ins etwa 140 Kilometer entfernte Gran/Esztergom. Durch Flusshafen und Warenumschlag war Wieselburg wohlhabend geworden und wird daher im Lied als „die Reiche“ gewürdigt. Auch Kriemhild, Etzel und Rüdiger gingen hier mit ihrem Gefolge an Bord von Schiffen. Interessant ist dabei die vom Dichter beschriebene Technik der Schifffahrt. Er lässt nämlich „die Segel setzen“. Segelschifffahrt auf Flüssen war unter den Römern nicht üblich gewesen. Wenn wir sie hier im Nibelungenlied wörtlich nehmen, wäre das eine Errungenschaft des Mittelalters. Und dies wiederum ist kaum glaubhaft, da erst in viel späterer Zeit, im 16. und 17. Jahrhundert der Bau von Flussschiffen wieder die Qualität der Römer erreicht. Ferner schildert der Dichter, wie einzelne Schiffe miteinander vertäut wurden: „Zusammen ward gebunden/ manches Schifflein gut/ daß ihnen wenig schaden mochte/ die Welle und die Flut/Darüber ausgebreitet/war köstliches Gezelt/ als ob sie unter Füssen/ noch hätten Land und Feld.“ Durch diese Methode konnte man umfangreiche schwimmende Einheiten bauen, die Menschen und Pferde aufnahmen und eben auch ganze herrschaftliche Zelte trugen. Durch ihre Größe waren sie gegenüber Wellengang und Wirbel stabil und glitten ruhig auf dem Wasser dahin. Auch Barbarossas Hofstaat dürfte auf einem solchen, aus mehreren Booten und Flößen zusammen gezimmerten Ungetüm unterwegs gewesen sein. Das bestärkt unsere Vermutung, dass der Dichter ein Teilnehmer dieses Kreuzzugs gewesen ist und ein solches, mit Stoffen und Teppichen bedecktes und mit Fahnen geschmücktes königliches Donauschiff mit eigenen Augen gesehen hat. Über den Endpunkt von Kriemhilds Donaubrautfahrt, die Etzelburg, erfahren wir nur, dass sie unweit des Donaustrands auf einem Berg gelegen war.

Die dritte Donaureise des Nibelungenlieds ist die der Spielleute Werbel und Swemmel, die nach 13 Jahren von Kriemhild nach Worms geschickt werden, um die Burgunderkönige einzuladen. Es klingt höchst verwunderlich, dass die Königin gerade zwei Sänger als Botschafter heranzieht, mithin Leute, die an mittelalterlichen Höfen nur wenig über Quacksalbern und Hofnarren angesiedelt waren. Man vermutet, dass der Autor mit diesen beiden Kunstfiguren seinen eigenen Berufsstand in besserem Licht erscheinen lassen wollte; durchaus ironisch übrigens, wie das ganze Epos trotz seiner tragischen Grundtendenz auch von mehreren Burlesken unterbrochen wird. An Stationen, sowohl bei der Hin- wie bei der Rückreise, finden nur Pöchlarn und Passau Erwähnung. In Passau tritt wieder Bischof Pilgrim auf und beschenkt die beiden Gesandten reichlich.


FLUSS OHNE WIEDERKEHR


Genaueres über die Wegstrecke erfahren wir anlässlich der letzten Reise, der Fahrt der Burgunderkönige von Worms ins „Heunenland“. Mit über 10.000 Bewaffneten gleicht der Begleitzug der zum Fest geladenen Burgunderkönige eher einer Kriegsfahrt. Die Unheil verheißenden Vorzeichen häufen sich auf dem Wege. Wieder übergeht der Dichter die Strecke vom Rhein zur Donau. Er setzt erst ein, als sich die Heerhaufen bei der Fährstelle Fergen, die wir bei Pförring lokalisiert haben, vor der angeschwollenen Donau stauen. Seit der Kanalisation des Flusses hat sich die Landschaft hier völlig verändert. An die früher sich in mehreren Armen ausbreitende Donau erinnert nur noch das Altwasser, das heute direkt an Pförring vorbeizieht. Vor den Burgundern, die das Lied nun durchwegs „Nibelungen“ nennt, hat sich der Fährmann in Sicherheit gebracht und sein Schiff verborgen. Dass dies nicht nur wegen des Hochwassers geschieht, sondern auch, weil die Bayern einen feindlichen Einfall fürchten, wird später evident. Denn jenseits der Donau sitzen auf der Burg Vohburg bayerische Markgrafen und wollen den Donauübergang vereiteln. Auf der Suche nach dem Fergen trifft Hagen in einem „schönen Brunnen“ auf zwei Wasserjungfrauen. Sie weissagen ihm den Untergang, nur der mitreisende Kaplan würde wieder heimkommen. Hier treffen wir also wieder auf eine Anleihe an die germanische Sagenwelt in der ansonsten recht realistischen Schilderung der Nibelungenfahrt. Jene Orakelstätte glaubt man in den Quellen des Kelsbaches im nahen Dörfchen Ettling gefunden zu haben. In der Tat müssen die klaren Wasser des Quelltopfes bei früheren Besuchern einen verwunschenen Eindruck hinterlassen haben. Heute werden sie allerdings von landwirtschaftlichen Gebäuden eingeengt. Auf Anraten der „weisen Frauen“ findet Hagen flußaufwärts bei „Moeringen“ einen weiteren Fährmann. Durch eine List, die ihm von den Wasserfrauen verraten wurde - er gibt sich als des Fergen Bruder aus - lockt Hagen den Fährmann auf seine Uferseite und erschlägt ihn, als er sich nicht willig zeigt. Kein gutes Omen!

Moeringen dürfte mit (Groß-) Mehring identisch sein, heute ein Stadtteil Ingolstadts. Schon die alte Bernsteinstraße querte hier den Fluss. Gegenüber lag die Keltenstadt Manching. Bis zur Regulierung floss die Donau hier dreiarmig vorbei. Die Sandrach war der südliche Donauarm, der direkt Manching berührte. Das Rinnsal der Altach bildete den mittleren Arm, und das heutige eingedeichte Donaubett, das an Ingolstadt vorbeiführt, den nördlichen Arm. Der Dichter gibt nun einen anschaulichen Bericht, wie solche Überfuhren bewältigt wurden. Die Pferde werden durchs Wasser gehetzt, die „Recken“ und ihr „Gut und Wehr“ auf die Schiffe, wohl einfache Nachen oder Flöße, verladen und über die Fluten gesteuert. Da die Strömung den Antrieb bildete, landeten die Schiffe mitunter meilenweit jenseits des Ausgangsufers. In solchen Fällen mussten sie mühsam wieder zur Ausgangsposition geschleppt werden. Heere waren während solcher Flussübergänge extrem gefährdet. Sie konnten auch von nur wenigen Gegnern in Schach gehalten oder an der Überfuhr gehindert werden. Das bayerische Aufgebot kommt freilich zu spät und wird von den Nibelungen in einem nächtlichen Kampf abgewehrt. Vor diesen Ereignissen findet noch eine tragikomische Szene statt: Hagen stößt den Kaplan unvermittelt in den aufgewühlten Fluss, um die Prophezeiung der Wasserfrauen zu prüfen. Sie bewahrheitet sich, als dieser in aufgeblasener Kutte das Ufer erreicht und zurückbleibt. Auch die mittelalterlichen Zuhörer werden sich an dieser Stelle das Lachen nicht verkniffen haben, doch mehr als für den heutigen profanen Menschen stand ihnen klar vor Augen: Ab jetzt sind die Könige und ihr Gefolge ohne geistlichen Schutz und Zuspruch. Der christliche Gottesmann hätte die Voraussage der zwei heidnischen „Meerweiber“ verhindern können. Aber jetzt, da er mutwillig aus dem Geschehen geworfen wurde, besteht keine Hoffnung mehr. Der Nibelungenzug fährt in den Untergang. Dies ist übrigens die christliche Botschaft des Nibelungenlieds, die bei vielen modernen Interpretationen in den Hintergrund gedrängt wird. Das ausführlich geschilderte Gemetzel am Schluss sollte keineswegs die Sensationsgier befriedigen (das wäre eine sehr moderne Deutung!), sondern drastisch vor Augen führen, was geschieht, wenn Menschen den christlichen Pfad verlassen und sich Verrat, Mord und unversöhnlicher Rache ausliefern.

Bischof Pilgrim, den die Burgunder als nächstes in Passau aufsuchen, weiß von alledem offenbar nichts und nimmt die Reisenden freundlich auf. 10.000 Mann mit Tross sind freilich zu viel, um innerhalb der Mauern untergebracht zu werden. So „si muossen übers wasser/ da sie funden feld/ da wurden uf gespannen/ beide hütten und gezelt“. Die Strophen sind dahingehend zu deuten, dass das Heer über den Inn setzte und sich auf dem freien Feld östlich der Innstadt niederließ. Man nimmt an, dass auch Barbarossas Kreuzheer 1189 hier kampiert hat. An dieser Flussniederung lag das alte Römerkastell Boiodurum, das nach seiner Aufgabe zum Teil von den Fluten des Inn weggeschwemmt wurde und heute nur in spärlichen Resten archäologisch nachweisbar ist. Seit 1143 war Passau mit dem jenseits des Inns gelegenen Stadtteil Innstadt durch eine Holzbrücke verbunden. Unser ohne Zweifel ortskundiger Dichter verschweigt zum zweiten Mal eine Brücke, weil er sein Epos ja in früheren Zeiten spielen lässt. Der Weiterweg führt entlang des südlichen, rechten Donauufers, zum Teil über die alten Römerstraßen. Das gegenüberliegende Ufer, das erheblich später durch eine Straße erschlossen wurde, spielt im ganzen Epos keine Rolle. Nur flüchtig werden die weiteren Stationen berührt. Erst der Einzug in Pöchlarn gibt dem Dichter wieder Gelegenheit, seine Kenntnis von galanten Festen und vornehmem Gebaren zu offenbaren. Die feierliche Verlobung des jüngsten Burgunderkönigs Giselher mit Rüdigers Tochter Dietlind erinnert an die Vermählung des staufischen Kaisersohnes Friedrich mit König Belas Tochter Constantia in Gran/Esztergom während des 3. Kreuzzugs. Giselher wie Friedrich verlassen ihre Anverlobten, ziehen weiter - und kehren nicht mehr zurück.

Lange Zeit war umstritten, ob der Nibelungendichter mit Etzels Königsburg einen realen Ort vor Augen hatte, und wo dieser zu suchen wäre. Eigentlich ist die Frage unangebracht, denn in einer Zeile wird der Ort eindeutig genannt: „Die Spielleute spornten/die Rosse mächtig an/ sie fanden König Etzel/ in seiner Stadt zu Gran“ heißt es anlässlich der Rückkehr Werbels und Swemmels von Worms. Trotzdem suchte man die Etzelburg zuerst in Buda, der ungarischen Königsstadt am rechten Donauufer, wo sich bis ins Mittelalter noch die mächtigen Mauern der Römerstadt Aquincum erhoben. Dazu kam, daß Buda, bzw. das heutige Obuda, in der Tat von deutschen Chronisten des Mittelalters als Etzelburg und Attilas Stadt bezeichnet wurde. Auch Barbarossa bekam auf seiner Donaufahrt ins Heilige Land in Buda den angeblichen Palast des Hunnenherrschers zu sehen. Vermutlich zeigte man ihm die immer noch imposante Ruine des römischen Amphitheaters.

Nach den spektakulären Ausgrabungen der Arpadenburg in Gran/Esztergom in den Jahren 1934 bis 1938 jedoch kann kein Zweifel mehr an diesem Ort als der dichterischen „Etzelburg“ bestehen. Wir haben den Palast auf dem aussichtsreichen Donausteilufer schon erwähnt. Bela III. hat ihn während seiner Regierungszeit von 1173 bis 1196 erbauen lassen. Beteiligt waren sowohl französische wie byzantinische Baumeister und Künstler. Zeitgenossen, wie z. B. Kaiser Friedrich I., muss das Bauwerk mit seinen bereits gotischen Anklängen einen überaus prächtigen Anblick bereitet haben. Und haben sich die Hinweise nicht gehäuft, dass auch der Nibelungendichter ein Teilnehmer des dritten Kreuzzugs war? Einer der wenigen, die wieder heimgekommen sind, oder einer, der vielleicht vorzeitig umgekehrt ist? Die neu erbaute Arpadenburg über der Donau hat er bestimmt gesehen, wenn auch ihm, dem einfachen Sänger, der Zutritt zur inneren Königsburg verwehrt geblieben sein dürfte. Trotzdem überrascht manches poetische Detail, das von der archäologischen Forschung verifiziert worden ist, etwa die Schilderung des weiten Platzes zwischen Kirche und Palast, die Beschreibung des Portals und der Königshalle selbst. Es ist schon fast eine Ironie dichterischen Schicksals, dass der Nibelungenautor gerade diesen eben fertig gestellten Prachtbau in Feuer und Flammen aufgehen lässt und damit das Epos zu seinem gewalttätigen Abschluss bringt!

Hier bricht das Nibelungenlied abrupt, mitten in der Klimax der Ereignisse, ab und lässt den zeitgenössischen Hörer wie auch den heutigen Leser in seelischer Erschütterung zurück, die noch lange nachhallt.