Die Burgunder
das sakrale Volk

von Ulrike Schäfer

.....

Barbarossa mit seinen Söhnen, Welfenchronik, 12. Jh. ..



Worms ist die Nibelungenstadt, zweifelsohne. Aber ist es auch die Burgunderstadt? Diese Frage ist im Verlauf unserer Vortragsreihe schon einmal gestellt worden, von Frau Dr. Grünewald, und als Archäologin hat sie zu Recht befunden, dass man viel zu wenig in der Hand hat, um daraus eindeutige Schlüsse zu ziehen. Natürlich wäre es dennoch sehr interessant gewesen, mehr darüber zu hören, dass Prof. Oldenstein bei seinen Grabungen am römischen Kastell in Alzey Materialien gefunden hat, die germanischen Ursprungs zu sein scheinen. Er tippt auf die Förderaten der Römer, die Burgunder.

Für meinen Vortrag habe ich mir – wie natürlich schon viele vor mir – die Frage gestellt, was Burgund den Herrschern des 12./13. Jahrhunderts wohl bedeutet hat. Der Dichter schrieb sein Epos in staufischer Zeit, höchstwahrscheinlich während der Regentschaft Kaiser Friedrichs I. und seines Sohnes Heinrich VI., die sehr häufig in Worms Hof hielten. Beide waren sie gekrönte Könige von Burgund.

Bereits 1032 war diese so überaus fruchtbare und günstig gelegene Region ans Reich gelangt. Zu Barbarossas Zeit erstreckte sie sich von der Sâone bis zum Mittelmeer und schloss im Westen die Provincia ein. Der Kaiser war Herrscher sämtlicher Alpenpässe und Mittelmeerhäfen. Es war also überaus erstrebenswert, dieses Land im Herzen Europas zu besitzen. Doch Burgund hat den mittelalterlichen Herrschern wohl noch mehr bedeutet. Es symbolisierte nicht nur wirtschaftlichen Fortschritt und Reichtum, sagt Herwig Wolfram, was er allerdings vor allem auf das spätere Herzogtum Burgund bezieht, sondern es stand auch für eine Idee, einen Traum (S.24). Ich möchte es einen Nimbus nennen. Diesen Nimbus, den ich zugegeben etwas hochstaplerisch versucht habe in dem Titel „das sakrale Volk“ auszudrücken, möchte ich im Folgenden durch einige Beispiele umschreiben. Ich mache ihn vor allen Dingen an der Legenden- und Sagenbildung fest und beziehe mich dabei im Wesentlichen auf Laetitia Böhm „Die Geschichte Burgunds“, die eine profunde Kennerin der Materie ist.

Die erste und sicher wohl auch wichtigste Sage stammt aus dem 5. Jahrhundert; ich meine die Ereignisse, von denen im Nibelungenlied die Rede ist. Dabei sind nicht nur die Archäologen, sondern auch die Historiker ratlos angesichts der dürftigen und teilweise widersprüchlichen Befunde. Aus den Quellen ist nicht zu erschließen, ob nur von einem Stamm die Rede ist oder von zweien, ob die Burgunder nur von den Römern unter Aetius besiegt wurden oder doch auch von den Hunnen, und vor allen Dingen taucht Worms in keiner zeitgenössischen oder zeitnahen Quelle auf. Allein im Nibelungenlied ist es Sitz der Burgunder. Ich verzichte hier darauf, auf die einzelnen Thesen einzugehen, weil diese Fragen mit meinem Thema eigentlich gar nichts zu tun haben. Nicht die Fakten, sondern das, was die Menschen geglaubt und über Jahrhunderte hinweg erzählt haben, soll hier interessieren. Rekapitulieren wir also lieber den Kern der Sage oder das, was man vielleicht dafür halten kann.

Von drei Burgunderkönigen und ihrer Schwester Kriemhild, die in Worms wohnen, ist in dem Lied die Rede. Sie werden von einem jungen Helden aus Xanten aufgesucht, der ihnen ihr Land mit Drohgebärde abnehmen will, mit Sicherheit damals keine ungewöhnliche Geschichte. Auch, dass man ihm die Königstocher gibt, um ihn zu befrieden, um ihn an den Königshof zu binden und seine Kampfkraft im Einsatz gegen Feinde zu nutzen, ist ein damals übliches Verfahren. Kompliziert wird die Geschichte, als nach der Heirat Gunthers mit Brünhild unter den beiden Frauen ein Kampf um Rang und Macht entsteht. Die Auseinandersetzungen spitzen sich so zu, dass Siegfried ermordet wird, auch das eine durchaus gängige Methode, Probleme zu lösen. Wirklich einzigartig ist freilich die Begründung für die Konsequenzen: der Untergang des Königsgeschlechts und seines großen Gefolges wird nicht als Auseinandersetzung mit feindlichen Stämmen, die es damals ja zu Hauf gab, gedeutet, nicht als hinterlistige Falle eines geldgierigen Etzel, wie die nordische Variante berichtet, sondern als Kriemhilds von langer Hand geplanter und systematisch durchgeführter Racheakt.

Warum ist diese Geschichte über die Jahrhunderte hinweg bewahrt worden? War es die Niederlage allein, die als Katastrophe erlebt wurde, oder ist sie erst in Verbindung mit Betrug, Verrat, Rache zum Untergangstrauma geworden? Der Vergleich zum Niedergang Trojas drängt sich auf. Und das nicht nur, weil das imposante Epos des Dichters um 1200 dem Homerschen Werk in vieler Hinsicht vergleichbar ist, sondern weil sich einige der wandernden Völker in der Etablierungsphase immer wieder auf Troja bezogen haben, um sich den Römern ebenbürtig zu fühlen. Im 12. Jahrhundert, als sich die konkurrierenden Herrscherhäuser Westeuropas gegeneinander absetzen wollten, bediente man sich erneut solcher Ursprungslegenden. Hat Barbarossa, der sich in seiner Vita in die Reihe der großen römischen Kaiser stellen ließ und sich als Nachfolger des großen Karl zu profilieren versuchte, möglicherweise auch die Verschriftlichung der Burgundersage in Auftrag gegeben, um seine Ansprüche zu festigen?

Das zweite Burgunderreich, das mit Gundioc bzw. Gundowech um 457 zum ersten Mal fassbar wird, erwähnt den schrecklichen Untergang des ganzen Königsgeschlechts nicht, obwohl er gerade mal 20 Jahre zurückgelegen haben musste. In seiner Lex Gundabada, einer Gesetzessammlung, die er in großen Teilen um 500 erlassen hat, erwähnt König Gundobad jedenfalls kein Sterbenswörtchen davon, aber er bezieht sich ausdrücklich auf seine Vorfahren, wie das damals üblich war. Eugen Ewich schreibt dazu in seinem Buch „Die Merowinger und das Frankenreich“: „Königsgenealogien und Herrscherlisten, die in die graue Vorzeit hinaufführten, dienten bei vielen gentes der Legitimation des regierenden Hauses“ (S.80).

Die Namen dieser Vorfahren klingen uns sehr vertraut. Gibica, Gundahar, Gislahar und Gundomar (Guttorm/Gernot). Allerdings tauchen sie im Nibelungenlied nicht hintereinander auf, sondern gleichzeitig. Und außerdem kommen alle drei Brüder durch Kriemhilds Rache zu Tode – bis auf Gunthers und Brünhilds Söhnchen Siegfried, von dem aber in der Lex Gundabada nicht die Rede ist. Jean Richard und Wolfram Herwig stellen in ihren Ausführungen anlässlich des Burgund-Kolloquiums in Dijon 1992 deshalb die Überlegung an, ob nicht Gundowech aus einer den Ostgoten nahe stehenden Seitenlinie stammt und quasi durch Übertragung der königlichen Souveränität die Nachfolge der Gibichsöhne angetreten habe. Vielleicht habe ihn deshalb der Chronist Gregor von Tours als Nachfahre Athanarichs bezeichnet. Doch verlassen wir die grübelnde Wissenschaft.

In der Sapaudia, in der Region rund um den Genfer See und im oberen Rhonetal, bauten sich die Burgunder ein beachtliches Reich auf, das unter dem erwähnten Gundobad seine größte Ausdehnung erlebte. „Aufgrund ihrer geringen Anzahl und weil sie sich unbedingt in Gallien integrieren wollten, entschlossen sich die Burgunder als Alternative zu den gallischen Königreichen, eine offene Gesellschaft ohne Restriktionen bilden,“ schreibt Wolfram Herwig ( S. 30). In allen Quellen wird berichtet, wie gut sich die Burgunder anpassten und wie schnell sie sich mit den Römern vermischten. Sie hatten wichtige Positionen inne und trugen hohe römische Titel. Die Lex Burgundionem, die Gundobad ebenfalls erlassen hat und die von den Großen des Reiches gegengezeichnet wurde, sieht sogar eine Gleichberechtigung zwischen Römern und Burgundern vor. Auch mit den Vertretern der orthodoxen Kirche kamen sie gut zurecht, und das obwohl sie wie die Goten, Langobarden und Wandalen ursprünglich Arianer waren und als Häretiker galten.

Das Nibelungenlied erzählt, dass drei Brüder gleichzeitig herrschten, wahrscheinlich unter Vorsitz des Ältesten, das entspricht den Herrschaftsverhältnissen im zweiten Burgunderreich. Die Königssitze waren in Genf, Lyon, Vienne und Valence. Aber auch sonst ist die Fabel des Epos mitten aus dem burgundischen Leben gegriffen. So wird berichtet, dass König Gundobad, der Römerfreund und große Gesetzgeber, seinen Bruder Chilperich den Jüngeren und dessen Frau habe ermorden lassen. Die Tochter des königlichen Paares, die katholische Chrotehilde, die den Merowingerkönig Chlodwig heiratete und seinen Übertritt zum Katholizismus maßgeblich beeinflusste, soll dies ihrem Onkel nie verziehen haben. Noch zwanzig Jahre nach dem Elternmord habe sie burgundische Dörfer vernichten lassen, um sich zu rächen – und habe Gott gedankt für die gelungene Vergeltung. Wer da nicht an Kriemhild denkt? In der Forschung wird diese Geschichte bestritten. Unmöglich könne Chrotehilde ihre Rache so lange aufgeschoben haben. Vielmehr wird angenommen, dass der Chronist, der pro-fränkische Bischof Gregor von Tours, einen Anlass suchte, um Chlodwigs Angriff auf die arianischen Burgunder zu rechtfertigen. Für die Überlieferungsgeschichte tut das freilich wenig zur Sache. Im Nibelungenlied leuchtet das alte Burgund wesentlich heller auf als die spätmittelalterliche christliche Gesellschaft der Barbarossazeit.

Eine andere Episode aus dem Leben Chrotehilds erinnert in ihrer Grausamkeit, zumindest in ihrer scheinbaren Gefühllosigkeit an Ortliebs Tod, auch wenn sie keine Parallele darstellt. Als Chrotehildes Söhne, die Merowingerkönige Childebert und Chlotar, der Mutter Schere und Messer sandten mit der Frage, welches von beiden für ihre Enkel, die Söhne des gefallenen Chlodomer, angemessen sei, soll Chrotechilde sich für das Messer entschieden haben und damit den Tod ihrer Nachkommen. Die Schere hätte das Abschneiden des langen Haupthaars bedeutet und damit den Verlust der Königswürde: „Wenn sie nicht Könige werden sollen, dann lieber tot“, soll sie gerufen haben. Gleichzeitig wird Chrotehilde als fromme Frau geschildert, die viele Kirchen und Klöster stiftete – auch den Ausbau von St. Germain in Auxerre. Begegnet uns diese überraschende Mischung von Religiosität und Härte nicht exakt 750 Jahre später noch genauso im Nibelungenlied?

Es ist aber eigentlich nicht mein Ziel, das „Burgundische“ im Nibelungenlied aufzuspüren, sondern das Sagenhafte bei den Burgundern, das spannend genug ist. Dass Gundobad von seinem eigenen Bruder Godegisel an den Feind Chlodwig, mit dem er sich freilich noch 502 die Treue geschworen hatte, verraten wurde, hätte auch recht gut Stoff für ein Epos abgeben können; vor allem der Fortgang der Geschichte. Während Gundobad sich Unterstützung bei den Westgoten holte, zog sich Godegisel siegessicher nach Vienne zurück. Mit Hilfe eines Baumeisters, der sich in der Stadt auskannte, drang Gundobad mit seinen Männern durch das Aquaedukt ein, verfolgte seinen Bruder, der in einer Kirche Zuflucht suchte, und tötete ihn.

Mit diesem zweiten Burgunderreich hatte nun auch Theoderich der Große viel zu tun. Im Nibelungenlied heißt er Dietrich von Bern und tritt als Vermittler und Friedensstifter auf, eine Rolle, die er auch in der Geschichte spielte. Zu Gundobad hatte er eine besondere Beziehung. Es wird berichtet, dass er ihm eine kostbare, präzise Wasser- und Sonnenuhr schenkte und er verheiratete seine Tochter Ostrogotho-Ariagne mit Gundobads Sohn Sigismund, dem Thronfolger und späteren König.

Sigismund, dessen Name an Siegfried erinnert, mehr allerdings aber auch nicht, spielt nun für die burgundische Tradition eine herausragende Rolle, denn er ist der erste heilige König der Christenheit überhaupt.

Das sakrale Königtum war indessen schon lange vorher bekannt, wie man über die Merowingerkönige weiß. Ich beziehe mich auf Eugen Ewich, der schreibt: „Mythos und Ritual weisen auf ein altes Sakralkönigtum im Zeichen des Frieden und Reichtum stiftenden Gottes Fro (Freyr) als Wurzel merowingischer Herrschaft“. Ihre göttliche Abstammung führten sie konsequenterweise auf ein übernatürliches Ereignis zurück. Für ihre Herrschaft hatte dies weitreichende Folgen. Auch hier ein Zitat von Ewig: „Im germanischen rex gentis war die Gottheit zum Wohl des Volkes (felicitas gentis) wirksam“. Man schrieb den Königen spirituelle Fähigkeiten und Heilkräfte zu, die er zum Nutzen der Menschen einsetzte, wie auch Petra von Cronenburg in ihrem Buch „Geheimnis Odilienberg“ überaus spannend ausführt.

Damit war es im Christentum vorbei. Neben dem einen Gott konnte kein Gottkönig existieren. Avitus, der Bischof von Vienne, gratulierte Chlodwig, dem Frankenkönig, zu seiner Taufe mit den Worten: „Aus altehrwürdigem Geschlecht mit dem bloßen Adel der Geburt zufrieden (sola nobilitate contentus), wolltet Ihr, dass höchster Adel eures Geschlechts von Euch ausgehe (durch die Annahme des Glaubens)“ (nach Ewig, S. 77). Eugen Ewich interpretiert diesen Satz so, dass Avitus damit auf den mit der Taufe verbundenen Verzicht auf die göttliche Abstammung der Merowinger angespielt habe. Das dürfte in der Tat ein gewaltiges Problem gewesen sein, für die Herrschergeschlechter wie auch für die Völker, die noch über Jahrhunderte an die magische Fähigkeit der Könige glaubten.

Auch wenn bei den Burgundern ein Sakralkönigtum allenfalls vermutet werden kann, so liegt es doch nahe, und man ist versucht, ein bisschen flapsig zu sagen, dass es eine vernünftige Lösung war, in diesem Vakuum heilige Könige zu kreieren. Andere plausible Gründe gibt es eigentlich nicht, denn Sigismund führte kein heiligenmäßiges Leben – jedenfalls nicht in unserem Sinne und starb auch keinen Märtyrertod. Sein großer Verdienst war, dass er zum Katholizismus übertrat und 516 die erste germanische Königsabtei (Ewich, S. 96) im Wallis gründete. Dies freilich nun an einem bedeutenden Ort, denn ganz in der Nähe war die so genannte thebäische Legion auf Befehl von Kaiser Maximianus gegen Ende des 3. Jhs. hingerichtet worden, weil ihr Anführer Mauritius sich geweigert hatte, Christen zu töten. „Lieber wollen wir den Tod erleiden als töten, lieber unschuldig sterben als schuldig leben.... Wir bekennen, dass wir Christen sind; Christen töten wir nie“, heißt es in der „Passion der Märtyrer von Acaunus“. Der Bischof Theodul von Octodurus (Martigny) hatte um 380 die Gebeine der tapferen Männer gefunden und ließ sie in Agaunum bestatten. Was es mit dieser Legion auf sich hat, ist in der Forschung genau so umstritten wie der Fund des Bischofs. Doch das spielt – siehe oben – in unserem Zusammenhang kaum eine Rolle. Denn das Kloster St. Maurice entwickelte sich rapide zu einem Kultort ersten Ranges, galt als vorbildlich im Frankenreich und auch in späteren Zeiten. Auch der heilige Martin hat sich natürlich auf ihn bezogen. Vielleicht weil die Haltung des heiligen Mauritius als besonders imponierend und vorbildlich empfunden wurde, sicher aber mehr noch, weil Sigismund die Abtei aufgrund einschneidender Ereignisse in seinem Leben besonders protegierte. Er glaubte nämlich den Verleumdungen seiner zweiten Frau, die ihm zuflüsterte, dass sein Sohn Sigerich aus der Ehe mit Ostrogotho ihn töten wolle, um die Herrschaft über Burgund an sich zu reißen. Darum ließ er ihn durch zwei Diener im Schlaf erdrosseln. Schon am gleichen Abend, so heißt es in den Quellen (Gregor), sei die Unschuld Sigerichs bekannt geworden. „Beklage hinfort dich selbst, der du durch einen nichtswürdigen Rat zum Sohnesmörder geworden bist“, soll ein Ratgeber gesagt haben (Berndt, S. 62). Auf den ersten Blick erinnert dieses Szenario an König David, der nach seinem Fehltritt mit Bathseba durch den Propheten Nathan seinen Schuldspruch hörte und willig die Strafe Gottes annahm. Doch diese Assoziationen hatte man damals möglicherweise noch nicht. Voller Reue soll sich Sigismund jedenfalls auf den Weg nach Agaunum gemacht haben, um Buße zu tun. Er führte dort den immerwährenden Lobgesang ein, der Tag und Nacht durch die Gewölbe hallte, wobei sich fünf Gruppen von Mönchen ablösten.


Nach seinem Tod, so erzählt die Legende, wurde seine Heiligkeit dann offenbar. Im Krieg gegen den Frankenkönig Chlodomer wurde er geschlagen, dankte ab und floh nach Agaunum. Von seiner persönlichen Garde wurde er an die Franken ausgeliefert, samt seiner Familie hingerichtet und in der Nähe von Orleans in einen Brunnen geworfen. Jahre später soll der Abt von Agaunum gehört haben, dass dieser Brunnen von einem geheimnisvollen Leuchten umgeben sei. Ein Engel gab ihm zu verstehen, dass die Seelen der Getöteten im Himmel seien. Er ließ die Leichen nach Agaunum überführen und dort beisetzen. „Mit der Legendenbildung um den Untergang des Rhonereichs und um König Sigismund“, so Laetitia Boehm („Die Geschichte Burgunds“), „hat die Burgundia der Nachwelt den ersten als heilig verehrten König geliefert; und in der Strahlkraft des Patroziniums von Agaunum hat sich – zwar anders als in der Nibelungensage – ein weiteres Mal die ungewöhnliche Zähigkeit burgundischer Traditionskraft bestätigt“ (66). Mit der Verchristlichung des germanischen Königtums habe sich ein neues Herrscherideal entwickelt und eine Staatsethik, die auf den Tugenden pietas und humilitas aufbaute und das Ideal der Zusammenarbeit von Staat und Kirche unter Anerkennung der übergeordneten Autorität der Kirche propagierte, so Boehm.

Der zweite heilige König war Gunthram und war, wenn man so will ebenfalls ein Burgunder – über seine Großmutter Chrotehilde ohnehin. 534, nach dem Sieg der Franken über König Godomar, Sigismunds Bruder, war Burgund ans Merowingerreich gefallen und nach dem Tod Chlodwigs unter den Königssöhnen aufgeteilt worden; Gunthram, dessen Name sicher nicht von ungefähr burgundisch ist, bekam Burgund. Obwohl er von Gregor von Tours, dem Verfasser der Frankenchronik, als besonders gut und fromm gerühmt wird und es mit seinen königlichen Pflichten wohl auch sehr ernst nahm, führte er genauso wenig ein heiligenmäßiges Leben wie Sigismund oder auch seine Schwägerin Brunichildis, die im Mittelalter ebenfalls als Heilige galt. Ihr Grab in der Kirche St. Martin von Autun war jahrelang das Wallfahrtsziel vieler Pilger. Anders als Guntram stellt Gregor ihr ein ganz schlechtes Zeugnis aus, und ihr letzter Widersacher Chlotar hängte ihr eine Unzahl von Morden an, ehe er sie vierteilen ließ.

Brunichildis, die ja nachweislich auch in Worms gewesen ist, war die sehr schöne, edle Tochter des Westgotenkönigs Athanagild. Nachdem sie den Merowingerprinzen Sigibert geheiratet hatte, nahm ihr Schwager Chilperich seinerseits ihre Schwester zu Frau, liebte sie angeblich sehr, vor allem ihre reiche Mitgift, und ließ sie dann aber leider auf Anraten seiner Konkubine Fredegunde töten. Dies war der Beginn einer großen Fehde, in deren Verlauf Sigibert ermordet wurde. Die blutigen Auseinandersetzungen zogen sich über drei Generationen hin und löschten fast das ganze Merowingergeschlecht aus. Auch bei den Merowingern war man nicht zimperlich. Selbstverständlich spielte in dieser Familientragödie auch der konkrete Erhalt der eigenen Linie eine existentielle Rolle – Brunichildis regierte phasenweise für Sohn, Enkel und Urenkel. Dass die Westgotin letztendlich scheiterte, liegt allerdings auch daran, dass sie gegen den erbitterten Widerstand der Großen des Reichs ein romanisiertes Königtum stark zentralistischer Prägung aufrecht erhalten wollte. So hat es jedenfalls Laetitia Boehm formuliert.

In den kommenden Jahrhunderten spielte Burgund als Teilreich mit starken gallorömischen Traditionen und wiederholten Partikulationsbestrebungen eine wechselnde Rolle. Nach den Reichsteilungen unter den Söhnen Karls ist die alte Identität vorübergehend nicht sichtbar. Dass dennoch so etwas wie ein burgundisches Bewusstsein, ein starkes Kontinuitätsdenken vorhanden war, zeigt sich gegen Ende des 9. Jahrhunderts, als im Mittelfeld zwischen ost- und westfränkischem Reich gleich drei burgundische Reiche entstanden. Hier, so schreibt Boehm (S. 93) im Raum noch unentschiedener Machtverhältnisse fanden reichsadlige Großfamilien „das geeignete Konjunkturfeld zur Entfaltung ihrer königgleichen Ansprüche“. Im burgundischen Raum waren es die Welfen, die Bosoniden und die Wariniden die eigenständige Königreiche gründeten.

Im Bereich der heutigen Provence riss 879 Boso, heute noch in Vienne sehr präsent, die Macht an sich und strebte sogar die Kaiserwürde an. Interessanter noch für den Nimbus Burgunds dürfte vielleicht die Figur des Girart von Vienne sein, der für den jüngsten Lotharsohn Karl das regnum Provinciae mit den Dukaten Lyon und Vienne regierte. Er verteidigte das Gebiet energisch gegen die Normannen und Sarazenen und wehrte den westfranzischen Herrscher Karl den Kahlen ab. Nebenbei gilt er auch als Gründer der Abteil Vézelay in der Nähe von Auxerre und soll angeblich dafür gesorgt haben, dass die Gebeine der Maria Magdalena von St. Maximim in der Provence nach Ste. Madeleine gebracht wurden. Nach seinem Tod, so Boehm, erlebte er eine „glanzvolle Metamorphose zum ritterlichen Idol altfranzösischer Heldenepik“, die nach ganz Westeuropa ausstrahlte. Bis ins 15. Jahrhunderte beschäftigte der feudale Reichsvasall die Phantasie der Menschen. Das reich bebilderte Werk „Girart de Roussillon“, das Philipp der Gute 1447 in Auftrag gab, gilt sogar als burgundisches Nationalepos. Leider habe ich mich damit nicht beschäftigen können, ich vermute, dass es Aufschlüsse über das europäische Ritterideal wie über das burgundische Selbstverständnis geben kann.

Fast parallel zu den niederburgundischen Bestrebungen entstand in der Alpenregion das Königreich Hochburgund. Dort ließ sich 888 Rudolf I., ein Sohn Konrads von Auxerre, zum König von Burgund krönen. Der traditions- und beziehungsreiche Krönungsort war die uns wohlbekannte burgundische Hausabtei St. Maurice d’Agaune. Dieses dritte Burgund nun spielte in der Reichsgeschichte eine entscheidende Rolle. „Die Wiedergeburt des abendländischen Kaisertums vollzog sich durch die erneute Verbindung von Aachen mit Rom“, schreibt Laetitia Boehm, „und zwar auf dem vorgezeichneten Weg über die regna des einstigen Lotharreichs: vom lothringischen Raum über Burgund nach Italien. Verfassungsrechtliche Brücke waren seit dem 9. Jahrhundert die Lombardenkrone sowie die päpstliche Salbung in Rom; geopolitische Brücke zum italienischen Königtum war Burgund.“ Deshalb hatte es auch eine außerordentliche Bedeutung, als im Jahr 921/22 eine Gesandtschaft italienischer Großer über die Alpen kam, Rudolf II. die lombardische Krone anbot und ihm dabei eine Heilige Lanze als Investitursymbol übergab. Diese heilige Lanze, die von Kaiser Konstantin hergeleitet wurde und angeblich einen eingearbeiteten Nagel vom Kreuz Christi enthielt, habe sogleich unbedingt der deutsche Kaiser Heinrich I. besitzen wollen, schreibt der Chronist Liudprand von Cremona. Zunächst bot er für das „unschätzbare Himmelsgeschenk“ einen hohen Preis. „Die Lanze hatte für Heinrich I. wohl offensichtlich die gleiche Bedeutung wie für Rudolf von Burgund“, meint Albert Brackmann in seinem Aufsatz: Die politische Bedeutung der Mauritius-Verehrung im frühen Mittelalter (S. 14) und fährt fort: „Wer sie besaß, war Herr in Pavia“. Als Rudolf sich jedoch nicht davon trennen wollte, reagierte Heinrich mit brutalen Drohungen. Das bewog den Welfen, ihm die Lanze doch zu übergeben. Hinfort war sie Bestandteil der Reichsinsignien und wirkte, da sie ja auch eine Reliquie war, schon bald große Wunder. Den Sieg über seinen Bruder Heinrich und Herzog Giselbert von Lothringen verdankt Otto laut Liudprand der Tatsache, dass er sich während der Schlacht bei Birten 939 vor der Lanze im Gebet nieder geworfen habe.

Mit der Übergabe der heiligen Lanze an den deutschen Kaiser, gehörte Burgund noch keineswegs zum Reich, aber es rückte in greifbare Nähe. Erst recht nachdem Otto 951 die Tochter Rudolfs II., Adelheid geheiratet hatte. Ziemlich umgehend, so Brackmann, änderte sich seine rheinisch-burgundisch-italienische Verkehrs- und Handelspolitik, und schließlich richteten sich seine Blicke auf Burgund selbst; dabei muss ihm auch der heilige Mauritius begegnet sein, wenn es nicht schon vorher der Fall gewesen war, und spielte hinfort in der Reichsgeschichte eine bedeutende Rolle. Dabei ist es nach meiner Meinung unmöglich, politisches Kalkül und religiöse Gläubigkeit zu trennen. Otto war durchdrungen vom Ideal eines christlichen Herrschers, der die Tradition des gottgewollten Imperiums wieder herstellt und das Reich gegen die Ungläubigen verteidigt. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass er das 937 neu gegründete Kloster Magdeburg dem Kriegerpatron Mauritius weihte, zumal der sich der Sage nach 955 auch wieder bei der Schlacht auf dem Lechfeld gegen die Ungarn hilfreich erwies. Es gibt im Folgenden eine Vielzahl von Quellen, an denen sich die große Bedeutung des Heiligen vor allen Dingen bei Feldzügen festmachen lässt. Nicht zuletzt gehörte auch das Mauritiusschwert zu den Reichsinsignien, das zwischen 1198 und 1218 entstanden ist und auf 14 Goldreliefs die deutschen Könige von Karl dem Großen bis zu Heinrich III. darstellt. Auf der Parierstange ist die Inschrift: Christus vincit – Christus reignat – Christus imperat zu lesen. Die Politik der sächsischen und salischen Kaiser wurde also im Zeichen des streitbaren Mauritius betrieben.

Ob die vorher erwähnte Heilige Lanze, die das Anrecht auf die Kaiserkrone mit sich brachte, identisch ist mit der Mauritiuslanze, die der burgundische König Rudolf III. 1032 dem deutschen König Konrad übergab, ist bis heute nicht geklärt. Laut Hugo von Flavigny war sie das Zeichen des Königreichs Burgund (Brackmann, S. 16), das nun, wie ich schon zu Anfang erzählt habe, dem deutschen Reich angegliedert wurde. Wurde es anfangs noch als Protektorat von den Zähringern verwaltet, so nahm Friedrich Barbarossa nach seinem Herrschaftsantritt selbst die Zügel in die Hand, zumal er die staufische Hausmacht durch die Heirat mit Beatrix von Burgund erheblich vergrößert hatte. 1178 ließ er sich in St. Trophîme in Arles im Beisein der burgundischen Großen zum König krönen.

Ob er die alten Mären vom Untergang der Burgunder kannte? Ob er wusste, was es mit heiligen Sigismund auf sich hatte? Ob er sich als Nachfolger der heiligen burgundischen Könige verstand? Ich habe nicht nachgelesen, ob er am Grab des Mauritius, des Sigismund und auch der Rudolfinger in Agaunum gestanden hat, doch eins ist gewiss: auch für ihn hatte der Mauritius eine wichtige und vorbildhafte Bedeutung. In seinem Zeichen zog er als Soldat Christi ins Heilige Land, um die Stadt Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien. Doch dieses Mal war der Mauritius nicht mit ihm.



Les Burgondes, Apports de l’archéologie. Actes du colloque international de Dijon.
...........................Hrsg. Henri Gaillard de Semainville, 1995
Daraus : Herwig Wolfram, Les Burgondes. Faiblesse et Pérennité.
Und : Jean Richard, Les Burgondes et les Problèmes de leur Histoire.
Justin Favrod, Histoire Politique du royaume Burgonde, 1997
Albert Brackmann, Die politische Bedeutung der Mauritius-Verehrung im frühen Mittelalter
Eugen Ewich, Die Merowinger und das Frankenreich,
Laetitia Böhm, Die Geschichte Burgunds