Hagen von Tronje
ein Held in der Maske des Bösen?


von Petra Riha



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Der Nibelunge Not, Franz von Stuck, 1920 ..

 

Hagen von Tronje ist eine bedeutende, aber auch eine rätselhafte Figur im Nibelungenlied. Als Berater und treuer Gefolgsmann des burgundischen Königshauses, besitzt er Mut und Stärke und verkörpert eine der wichtigsten Persönlichkeiten am Wormser Hof. Zudem ist er mit der Herrscherfamilie verwandt; die Verwandschaftsbeziehung ist allerdings nicht eindeutig geklärt.
Handlungstragend erleben wir ihn zunächst als niederträchtigen Verräter, der Kriemhild durch eine List das Geheimnis um Siegfrieds Unverwundbarkeit entlockt, und später als dessen heimtückischen Mörder, der ihm hinterrücks den Speer in den Rücken stößt. Im zweiten Teil des Epos ist er der Mann, der die Burgunden durch ein Meer von Blut erfolgreich in den Untergang führt. Als Gegenspieler Kriemhilds stirbt er schließlich durch ihre Hand.
Seine vom Dichter beschriebenen Charakterzüge umspannen das ganze Spektrum menschlicher Regungen und Eigenschaften und reichen von grimmmig und greulich zu stark, schnell und kühn. Nicht selten bezeichnet ihn der Dichter als „helt von Tronege“ und würdigt damit seine kriegerischen, ja heroischen Eigenschaften. Der Vorwurf der „grôzen übermüete“ und „ungetriuwe“, also des Übermuts und der Untreue, trifft ihn gleichzeitig mit dem Lob ein „helflicher trôst“, ein sicherer Schutz der Nibelungen zu sein. Wer also ist dieser Mann, der von Kriemhild mit „lieber vriunt Hagen“ angeredet wird und durch Hildebrand die Bezeichnung tiufel (Teufel) erfährt?Welche Natur besitzt ein Mann, der vom Hunnenkönig Etzel als allerbester Kämpfer, der je in Kampfstürmen stand, betrauert wird? Und das, obwohl Hagen nur wenige Tage zuvor Etzels Sohn kaltblütig den Kopf abschlug.

Herkunft
Der Dichter läßt uns wissen, daß Hagen in Tronje – wo auch immer es liegt - geboren wurde und sein Vater Aldrian hieß. Sein Beiname „von Tronje“ könnte sich auf eine Ortsbezeichnung beziehen. In Frage kämen das heutige Drongen in Belgien, französisch Tronchiennes, die Römersiedlung Colonia Ulpia Trajana in der Nähe von Xanten oder ein kleines Dorf im Hunsrück namens Dhronecken, das im Mittelalter Troneck hieß und im historischen Gebiet der Burgunden lag. Denkbar wäre auch ein Bezug zum griechischen Troja, da man es im Mittelalter liebte, die eigene Abstammung auf möglichst ruhmreiche Ahnen zurückzuführen. Letztendlich bleibt die Herkunft seines Namens jedoch ohne Bedeutung für sein Handeln im Nibelungenlied.
Aus dem Mund König Etzels wird seinem Lebenslauf die Information zugefügt, daß sein Vater Aldrian einst Lehnsmann am Hunnenhof war und Hagen im Kindesalter als Geisel dort lebte. Man kennt sich also.
Nicht uninteressant und relativ ausführlich sind die Beschreibungen seines Äußeren. Bei der Brautwerbung auf Isenstein macht Hagen einen imposanten Eindruck und wird von einem Gefolgsmann Brünhilds mit folgenden Worten angekündigt:
„Der dritte Gefährte, wirkt sehr furchterregend, doch ist er von schöner Gestalt, mächtige Königin. Wegen der feindseligen Blicke, die er nach allen Seiten wirft, glaube ich, daß er grimmige Gedanken hat.“
Es kann dann auch nur dieser furchteinflössende Gesichtsausdruck gewesen sein, der später die Tochter Rüdigers von Bechelaren zunächst davon abhält Hagen zur Begrüßung zu küssen. Daß sie dabei abwechselnd blaß und rot wurde, läßt sich nicht nur mit Abscheu, sondern auch als Zeichen von Verwirrung deuten, denn im weiteren Verlauf schildert ihn das Nibelungenlied als Helden von eindrucksvollem Wuchs, mit breiter Brust, das Haar leicht ergraut, die Beine lang und stark, mit wundervollem Gang und furchterregendem Blick.
Weit mehr erfahren wir noch aus anderen Bearbeitungen des Nibelungenstoffes, deren Inhalt sowohl dem Dichter als auch dem zeitgenössischen Publikum bekannt gewesen sein durfte.
Im Waltharius und in der Thidrekssaga wird er als einäugig geschildert und rückt damit in die Nähe des obersten nordischen Kriegsgottes Odin, der ein Auge für die Gabe des Sehens opferte. Von der Antike bis ins frühe Mittelalter galt Einäugigkeit als Zeichen besonderer Kriegstüchtigkeit oder außerordentlicher seherischer Fähigkeiten.
In der Thidrekssaga heißt Hagen Högni und ist ein Halbbruder Gunthers und Grimhilds, die Edda kennt ihn sogar als leiblichen Bruder des Königs.
Die Thidrekssaga schildert, dass seiner Mutter, als sie trunken war, ein Schwarzalbe beilag, demnach wäre Hagen halb Mensch, halb Albe. Alben sind in der nordischen Mythologie Wesenheiten, die hierarchisch in der Nähe der Asen und Zwerge stehen. Da sie einer älteren Schicht entstammen als Menschen und Götter, bringt man ihnen eine gewisse Verehrung entgegen. Alben sind den Menschen nicht wohlgesonnen. Aufgrund dieser Vorgeschichte ist Hagen im Nibelungenlied neben Siegfried und Brünhild eine Figur mit mythischer Dimension.
Äußerlich erfüllt er also durchaus das Schönheitsideal eines altgermanischen Kriegers, wirkt helden-und schauderhaft zugleich und steht damit im krassen Gegensatz zur Lichtgestalt Siegfried.

Treueverhältnis
Zurück an den Burgunderhof. Dort reiht sich Hagen zusammen mit seinem Bruder Dankwart, der das Amt des Marschalls bekleidet und seinem Neffen Ortwin von Metz, der dem König als Truchseß dient, in die Reihe der besten Recken ein. Als Kronvasall ist es seine Pflicht, die Ehre des Königs und des Burgunderreiches zu wahren.
Der Auffassung um 1200 entsprechend dient der Vasall als der Schwächere dem König als dem Stärkeren. Doch auch der Stärkere geht eine rechtlich verpflichtende Bindung ein, er gewährt dem Schwächeren Schutz. Ein Vasallenverhältnis wurde mit einem Treueid besiegelt und dieser Schwur war für beide Seiten bindend. Seine Pflichten als Vasall binden Hagen an Gunther, aber auch der König ist durch den Treueid an Hagen gebunden: er muß ihm als stärkere Partei Schutz gewähren. Hagen und Gunther sind also durch ein doppeltes Treueverhältnis aneinander gebunden: die Vasallen/Gefolgschaftstreue und die Verwandschaftstreue, beide bestimmen nicht nur das persönliche, sondern auch das politische Handeln. Die Treue, mhd. triuwe, zählte im Mittelalter zu den höchsten Tugenden.Treu steht Hagen seinem König als Ratgeber zur Seite, aus Treue tötet er Siegfried, um Brünhilds und somit auch Gunthers beschmutzte Ehre wiederherzustellen, treu versenkt er den Nibelungenhort, um Kriemhild die finanziellen Mittel zur Vergeltung zu nehmen und treu begleitet er die Burgunder ins Hunnenland.
Obwohl Hagen sich selbst zu seiner Treueverpflichtung bekennt (Str. 1785,2)
„Man hat drei Ritter hierher in das Land geladen, die sind meine Herren und ich bin ihr Gefolgsmann. Bei keiner Hofreise habe ich sie bisher allein reiten lassen“, erlaubt er sich schon von Beginn an Eigenmächtigkeiten, die seine edlen Handlungsmotive in Frage stellen. Handelt er wirklich nur im Interesse des Königshauses oder verfolgt er eigene Ziele?
Eigenmächtige Handlungen
Schon bei seinem ersten Auftritt im Epos zeigt sich, daß er nicht gewillt ist, ohne zu zögern für seinen König einzutreten, denn Siegfrieds Kampfansage beantwortet Hagen mit Schweigen.
„daz der so lange dagete, daz was dem kunege leit“
„daß er so lange zögerte, betrübte den König“
läßt uns der Dichter wissen und in der Tat hätte er als Heermeister seinem König beistehen müssen, stattdessen schätzt er mit kühler Distanz die Lage ab. Er erkennt in Siegfried nicht nur eine Bedrohung der Ordnung des Reiches, sondern auch seinen persönlichen Rivalen. Die Aufrechterhaltung seiner eigenen Macht und sein Status stehen auf demSpiel.
Daß sich Hagen weit mehr herausnimmt als ein einfacher Vasall, demonstriert er ein weiteres Mal auf Isenstein, als er (und nicht der König) sich weigert, die Waffen abzulegen. Er nimmt sich die Freiheit heraus, Brünhild, immerhin die Auserwählte seines Herren, als des Teufels Weib zu bezeichnen, verschleudert nach der erfolgreichen Brautfahrt zusammen mit seinem Bruder Dankwart Brünhilds Vermögen und widersetzt sich schließlich Gunters Befehl, als Bote die Rückkehr nach Worms und die Ankunft der neuen Königin anzukündigen. Das soll Siegfried übernehmen. In dem er Siegfried zum Boten degradiert, holt er sich einen Teil des alten Status zurück.
Als Kriemhild nach ihrer Hochzeit Hagen mit nach Xanten nehmen möchte, weigert er sich standhaft und verletzt damit erneut eine höfische Regel, was Gunther ihm (nicht ohne Eigeninteresse) durchgehen läßt. Ein Höchstmaß an Eigensinn erreicht Hagen's Verhalten in der 14. Aventiure nach dem Streit der Königinnen. Nachdem Kriemhild ihre Schwägerin Brünhild öffentlich als Kebse verhöhnt und Ring und Gürtel als angeblich sichtbare Beweise von Siegfrieds Machenschaften der lange zurückliegenden Hochzeitsnacht präsentiert hat, bricht für Brünhild eine Welt zusammen.
Gunther als Beteiligter und Nutznießer des Betruges läßt Siegfried einen Eid zur Bestätigung seiner Unschuld schwören und damit ist das Problem für ihn aus der Welt geschafft. Hagen jedoch berührt Gunther's Entschluß, die Sache auf sich beruhen zu lassen nicht im Geringsten. Seinem Vasallenstatus entsprechend hätte er den Beschluß seines Königs vorbehaltlos akzeptieren müssen, doch er entscheidet sich entgegen Gunthers Willen, das Brünhild angetane Leid zu rächen. Alle Gründe, die er vorbringt, um Gunther die Zustimmung zum Mordplan abzuringen, sind Vorwände.
„suln wir gouche ziehen ?“ sprach aber Hagene ?
„Sollen wir Kuckucke aufziehen?“
Hagens rhetorische Frage, ob man Kuckucke großziehen solle, zielt vordergründig auf den Vorwurf des Ehebruchs Siegfrieds mit der Königin. Denn wenn Siegfried tatsächlich mit Brünhild in der Hochzeitsnacht geschlafen haben sollte, wäre ungeklärt, ob Gunther der leibliche Vater des gemeinsamen Kindes mit Brünhild ist oder ob das Königspaar stattdessen einen fremden Kuckuck aufzieht.( Kückemanns 2007)
Weder die Zweifel, die er im Hinblick auf die Legitimation des gemeinsamen Kindes sät, noch der Hinweis auf Brünhilds besudelte Ehre bewegen Gunther, sich Hagens Vorhaben anzuschließen. Erst als er dem König in glühenden Farben den nach Siegfrieds Tod zu erwartenden Machtzuwachs schildert, gibt Gunther zögernd nach. Der Dichter verschweigt an dieser Stelle nicht wer hier das Sagen hat:
„ der chunig gevolgete ubele Hagene, sinem man.“
„Es war eine böse Sache, daß der König dem Rat seines Lehnsmannes folgte.“

Um Siegfried töten zu können, muß er zunächst Kriemhilds Vertrauen mißbrauchen, denn sie allein kennt die verwundbare Stelle ihres Mannes. Mit beispielhafter Gefühllosigkeit ignoriert er das Gebot der Verwandtentreue, eine Handlung, die umso schwerer wiegt, weil Kriemhild ausdrücklich auf die zwischen ihnen bestehende Blutsverwandschaft hinweist und sich in ihrer Hilflosigkeit Hagen emotional ausliefert.
Nach der Mordtat steigert er Kriemhild's Qual zusätzlich, in dem er den toten Siegfried vor ihrer Kemenate ablegt. Hagen's seelische Grausamkeit kennt keine Grenzen und wird durch die Skrupellosigkeit seiner Aussagen bestätigt. Siegfried's Tod kommentiert er kaltblütig mit den Worten: „Unsere Sorgen und unser Leid haben jetzt ein Ende.“ Und etwas später gesteht er: „Mir ist es gleichgültig...mich kümmert es nicht im geringsten wie sehr Kriemhild weint.“
Die wenig später stattfindende Bahrprobe, die im Mittelalter oft als Mittel zur Wahrheitsfindung herangezogen wurde, beweist eindeutig Hagen's Schuld, denn Siegfried's Wunden bluten erneut als er an die Bahre tritt. König Gunther negiert das Gottesurteil mit einem Satz „ Hagen hat es nicht getan!“ Daß die Tat durch dieses stille Einvernehmen mit Gunther ungesühnt bleibt und Kriemhild in ihrer tiefen Trauer am Wormser Hof mehr oder weniger dahindämmert, gibt Hagen ausreichend Gelegenheit seine nächsten Schritte zu planen, denn nun lockt ihn das Nibelungengold.
Um Kriemhilds Erbe, den Nibelungenschatz nach Worms zu bringen, rät Hagen zur Versöhnung Kriemhilds mit Gunther , doch der Schuß geht zunächst nach hinten los:
Kaum im Besitz des Goldes, sichert sich Kriemhild mit großzügigen Gaben die Gunst fremder Recken und schon klingeln bei Hagen alle Alarmglocken. Um Kriemhild der materiellen Möglichkeiten zur Ausübung ihrer Rache zu berauben, muß der Schatz weg.
Gunthers Einwand, seiner Schwester kein weiteres Leid zufügen zu wollen beantwortet der Tronjer mit dem Bekenntnis:“dann laßt mich als Schuldigen dastehen.“
Heimlich raubt er die Schlüssel zur Schatzkammer und nutzt die Abwesenheit der Könige, um das Nibelungengold im Rhein zu versenken.
Der Dichter erwähnt ausdrücklich, daß Hagen ganz bewußt handelte und er betont zweimal, daß es ihm nicht nur um die Einschränkung von Kriemhilds Handlungsspielraum ging, sondern er nennt einen weiteren, wahrscheinlich gewichtigeren Grund: „ er wande in niezen eine“, „ er wollte ihn ganz für sich allein haben.“

Heroisches Handeln im Untergang
Nach langen Jahren der scheinbaren Ruhe bietet sich für Kriemhild durch die Ehe mit dem mächtigen Etzel die Möglichkeit, den Mord an Siegfried zu rächen. Genau aus diesem rät Hagen so vehement von einer zweiten Vermählung ab.
„Wenn Kriemhild Helches Krone trägt, dann übt sie Rache an uns, ganz gleich wie sie das zuwege bringt.“
Schon jetzt scheint er die Unausweichlichkeit des Kommenden zu erkennen und seine Ahnung ist gleichzeitig eine Anerkennung der eigenen Schuld, ein tiefes inneres Wissen, daß seine schändliche Tat nicht ungesühnt bleiben wird. Hagen erwartet Kriemhild's Rache und steuert die Ereignisse nun aus seiner Sicht der Dinge. Die Burgunderkönige nehmen die scheinbar harmlose Einladung an, nicht wissend, daß sie ihrem Untergang entgegengehen.
Schon vor dem Aufbruch verdichten sich die düsteren Vorausdeutungen: Frau Ute träumt, dass alle Vögel des Landes tot wären, doch Hagen misst dem Traum keine Bedeutung bei: „Wer an Träume glaubt, der weiß nicht, worauf es ankommt.“ verhöhnt er Ute's Warnung.
Der Abreise der Burgunder leitet der Dichter fast schon mehrdeutig mit den Worten ein:
„Da ritt Hagen von Tronje an der Spitze,
er war für die Nibelungen ein sicherer Schutz.“
Als das Heer die mystisch eingefärbte Welt der Donau erreicht, vollzieht sich Hagens Wandlung zum dunklen Helden, zum „dark hero“, dessen mythische Dimensionen offen zutage treten. Das Nibelungenlied zeigt ihn von nun an eher als mythischen denn als höfischen Helden. Der Flussübergang als Motiv für eine Schwellensituation steht analog für Hagen's fortan heidnisch-heroisches Handeln.
Allein und gut bewaffnet macht er sich auf die Suche nach einem Fährmann und begegnet an einer lieblichen Quelle anderweltlichen hellseherischen Nixen, die wie Vögel auf dem Wasser schweben. Daß die Wasserfrau Winelind Hagen als Aldrians Sohn erkennt und damit auf seine Vergangenheit anspielt, deutet die Nähe zwischen dem Nachfahren der Schwarzalben und den mythischen Wassergeistern an. Auch Hagen öffnet sich dieser unterschwellig angedeuteten Verbindung. Da er ihre Fähigkeiten kennt, nimmt er ihnen die Kleider weg, um sie zu einer Voraussage zu bewegen.
Die Nixen prophezeien ihm, dass alle Helden sterben werden, nur der Kaplan des Königs werde sicher in die Heimat zurückkehren. Der Warnung der Wasserfrau: „ Du solltest umkehren, noch ist es Zeit“ folgt Hagen nicht. Durch die eigenhändige Ermordung des Fährmannes, der sich weigert die Burgunder überzusetzen, was deren Rettung gewesen wäre, und der Übernahme dieser Aufgabe erinnert Hagen an Charon, den düsteren Fährmann der antiken Mythologie, der die Todgeweihten über die Schwelle bringt. Er folgt aber auch altem germanischem Glauben und erkennt in der Donau den Fluß Gjöll als Grenze zwischen dem Totenreich und dem Reich der Lebenden an. Den Mord an dem Fährmann verschweigt er selbstverständlich. Von Gunther auf das Blut angesprochen, scheut er auch vor einer dreisten Lüge nicht zurück:
„Einen Fährmann habe ich hier nirgends gesehen. Es ist auch niemandem hier durch meine Schuld Leid geschehen.“
Nun erinnert er sich wieder an die Weissagung der Wasserfrauen. Um letzte Gewißheit über den Wahrheitsgehalt der Vorausdeutung zu erfahren, wirft er den Kaplan in die Fluten der Donau. Als der Priester durch Gottes Hilfe das andere Ufer erreicht und damit die Richtigkeit der Voraussage bestätigt, nimmt Hagen endgültig die Weissagung als unausweichliches Schicksal an und zerstört das Schiff. Eine Rückkehr ist nun unmöglich und erst jetzt informiert er seinen König und das Gefolge über die vorausgegangenen Ereignisse.
Handelt so ein treuer Vasall ? Seine Aufgabe als Lehnsmann wäre es gewesen, die Donauüberquerung zu verhindern, schließlich hatte er die Möglichkeit dazu.
Doch aller moralischen Instanzen entledigt, gelten von nun an andere Rechte: Als Entschädigung für den erschlagenen Fergen bietet Hagen nach altem germanischem Brauch dem Landesherrn Gelphrat Wergeld an, um Blutrache zu vermeiden.
Der daraufhin stattfindende Kampf findet natürlich ohne Gunthers Wissen statt.
Als man Zwischenstation in Bechelaren macht, ist es Hagen, der über den Kopf Gunthers hinweg die Ehe zwischen der Tochter des Markgrafen und Giselher stiftet. Hier mag man ihm noch das ehrenvolle Motiv unterstellen, daß er sich durch eine verwandschaftliche Bindung die Unterstützung Rüdigers am Hunnenhof sichern wollte, denn während man in hoffnungsvoller Fröhlichkeit die Verlobung des jungen Paares feiert und Gunther der festen Überzeugung ist, daß ihnen durch Kriemhild kein Leid geschieht, tut Hagen bereits kund, daß in Etzels Land etliche Männer von seiner Hand den Tod finden.
Die am Hunnenhof einsetzenden Kämpfe stellen jede höfische Ordnung auf den Kopf und enden in einem Blutrausch.
Überraschenderweise gibt der Dichter in diesem letzten brutalen Abschnitt, in dem sich die Helden gegenseitig abschlachten, einen bemerkenswerten Einblick in Hagen's Gefühlswelt.
Auffällig hierbei ist die enge Verbundenheit zu Volker von Alzey. Zitat:
„Volker und Hagen trennten sich niemals, bis auf den letzten Kampf am Ende ihres Lebens“. Und Hagen gesteht:“ Edler Volker, in all meinen Sorgen möchte ich niemanden weiter bei mir haben als euch allein.“ Die gemeinsame nächtliche Schildwache ist Ausdruck der geteilten Sorge um ihre Kampfgefährten und zeugt vom engen Band der Freundschaft, begleitet von Volker's beruhigendem Spiel der Fidel.
Geradezu schwärmerisch schildert Hagen König Gunther die überragenden Taten seines Waffenbruders im Kampf, wünscht ihm prächtige Pferde und schöne Gewänder und hofft auf den Fortbestand dieser engen emotionalen Bindung, sollte man lebend zurückkehren.
Grausam erscheint uns dagegen die Kälte, mit der Hagen Ortlieb, Kriemhilds und Etzels Sohn, den Kopf abschlägt und damit genau das tut, was Kriemhild (nach der HS B) initiert hat, um endlich den Kampf zu eröffnen. Bevor alle Burgunder/Nibelungen den Tod finden, führt der Dichter symbolisch Feuer und Blut als Ausdruck der eskalierenden Gewalt zusammen und läßt Kriemhild den Saal mit 600 eingeschlossenen Burgundern anzünden. Durch Hagens barbarische Aufforderung, den Durst mit dem Blut der Getöteten zu löschen, gewannen „viele von ihnen große Stärke“. Diese Darstellung erinnert an die Wein-Blut-Metaphorik der christlichen Eucharistie, oder an das alte magische - auch germanische - Ritual, daß man durch das Bluttrinken die seelische Kraft eines Menschen gewinnen könne.
Ungeheuerlich erscheint uns dann der in Strophe 2428 Hs C angedeutete Verrat:
„Hagen wußte genau, daß sie ihn nicht am Leben lassen würde. Konnte es eine größere Treulosigkeit geben ? Er fürchtete, hätte sie ihm erst das Leben genommen, dann ließe sie ihren Bruder nach Hause zurückziehen.“
Bringt er Kriemhild taktisch dazu, ihrem Bruder das Leben zu nehmen? Hagen will, daß er als letzter stirbt und möglicherweise drängt sich hier noch einmal ein Kapitel aus seiner Vorgeschichte auf: sein Tod in der 24. Strophe des Atli – Liedes, einem sehr alten Gedicht aus dem 9. Jahrhundert - wirft ein bezeichnendes Bild auf Hagens mythologischen Hintergrund: er lacht, während ihm das Herz herausgeschnitten wird.

Fazit
Wie lassen sich nun Hagen's teilweise recht offensichtliche Kompetenzüberschreitungen erklären? Warum handelt er überhaupt so wie er handelt, anstatt sich seinem Status entsprechend als loyaler Vasall zu verhalten? Oder tut er genau dies in letzter Konsequenz?
Bevor ich Ihnen Ergebnisse der Forschung vorstelle, wollen wir einen Blick in drei ausgewählte Nibelungenromane moderner Autoren werfen. Vielleicht hilft deren Interpretation der Hagenfigur des Nibelungenliedes einen roten Faden in seinen oft widersprüchlichen Handlungen zu finden.

Joachim Fernau: Disteln für Hagen
Der ehemalige NS-Kriegsberichterstatter Fernau sieht Hagen als „eine der merkwürdigsten Schöpfungen der Dichtung“.
Der Mord an Siegfried ist für ihn weder machtpolitisch begründet noch dient er der Ehrenrettung Brünhilds. Triebfeder seines Handelns sind einzig und allein sein abgrundtiefer Haß und tiefsitzender Neid auf Siegfried.
Hagen – so Fernau – ist eine „Gestalt aus der tiefsten Tiefe der deutschen Seele“ und er sieht in der Ermordung Siegfrieds den Drang der Deutschen, den Unvollkommenen, den Makellosen und Begnadeten zu töten. Hagen ist nicht derjenige, der aus Treue aufrecht in den Tod geht, sondern derjenige, der aus Haß und Neid vernichtet, unfähig Siegfried in seiner überlegenen Stärke zu akzeptieren.
„Hagen“, so Fernau, „das sind wir.“

Jürgen Lodemann: Siegfried und Kriemhild
Lodemann interpretiert Hagen nicht als Helden der germanischen Welt, sondern als einen römisch geschulten Berater, der als „erster deutscher Politiker“ den Traum von einem neuen burgundischen Reich, einem „Nord-Rom“ verwirklichen will. Hagen, der selbst keiner Religion angehört, benutzt die Kirche als Machtinstrument, um das Volk unter Kontrolle zu halten. Der heidnische Siegfried, als Identifikationsfigur des geknechteten, dem alten Glauben verhafteten Volkes stellt eine Bedrohung der Herrschaft dar und wird aus Gründen der Staatsraison, aber auch aus Machtgier und Neid von Hagen umgebracht.
Auch in Lodemanns Roman dient der Königinnenstreit nur als Vorwand zu Siegfried's Beseitigung.
Nach seinem Tod vernichtet Hagen dessen Schwert, doch die Späne verletzen sein Gesicht. Lodemann verleiht Hagen nun den Namenszusatz „von Tronje“ und übersetzt den Titel mit “der zerstoßenen Zerstörer, der am Ende sein eigenes Gesicht traf“.

Wolfgang Hohlbein: Hagen von Tronje
In den Bereich der Fantasy-Literatur einzuordnen ist Wolfgang Hohlbeins 1986 erschienener Roman „Hagen von Tronje“.
Hohlbein nimmt sich die Freiheit, die Ereignisse am Wormser Hof überraschend neu zu interpretieren und schildert die Handlung aus Hagens Sicht, der von melancholischem Wesen und finsteren Ahnungen erfüllt als Waffenmeister am burgundischen Hof lebt.
Seine unerschütterliche Liebe gehört Kriemhild, der Schwester der Burgunderkönige. Als Repräsentant der heidnisch-germanischen Welt steht er dem erstarkenden Christentum mit Befremden gegenüber. In Siegfrieds Ankunft erkennt Hagen den Beginn kommenden Unheils, denn Hagen ist sicher, „daß dieser Mann ihm und dem ganzen Burgundergeschlecht den Untergang bringen wird.“
Zum Kampf der Titanen entwickelt sich der Konflikt Hagen-Siegfried, als dem getauften Siegfried von den alten Göttern dämonische Kräfte aufgezwungen werden, mit deren Hilfe er die Macht in Worms an sich reißen soll.
In Hohlbeins Geschichte gibt es keine klar definierte Grenze zwischen Gut und Böse, ja gegen Ende des Romans stellt er die Ereignisse auf den Kopf und macht Siegfried zum Schurken und Hagen zum Helden, der den Drachentöter in einem ehrlichen Kampf tötet.

Nibelungenforschung
Die Nibelungenklage, die die Taten für das damalige Publikum deutet, gibt Hagen's Blutdurst die Hauptschuld. Durch seinen übermuot, seinem übersteigerten Selbstgefühl, verfällt er – wie alle Helden des Nibelungenliedes – der Todsünde der superbia, des Hochmuts, doch im Gegensatz zu den anderen lenkt er das Geschehen von Beginn an auf destruktive Weise. Sein Glaube, daß das Schicksal unabänderlich sei, man sich aber durch Akzeptanz und forcieren der Ereignisse Ruhm sichern könne, entspricht einem eher archaisch Heldenbild, das die bis heute gültige Begriffsdefinition des Wortes „ Held“ bestätigt: “ Ein Held ist eine Person mit besonders herausragenden Fähigkeiten oder Eigenschaften, die sie zu besonders hervorragenden Leistungen, sogenannten Heldentaten treiben. Über den gemeinen Stand der Menschen erhoben, stellt er sich mit Mut und Unerschrockenheit einer schweren Aufgabe, die ihm Bewunderung einbringt.“ Wir erinnern uns: oft wurden Helden den Göttern gleichgesetzt.
Für die Germanistin Irmgard Gephart hingegen spiegelt die im Gegensatz zu mittelalterlichen Normen verzerrte Macht am Burgunderhof die Existenz eines fehlenden patriarchalischen Prinzips. Hagen erscheint als übermächtige Vaterfigur, der sich Dankrat's Kinder bedingungslos anvertrauen und dadurch erst sein richtungsweisendes Handeln ermöglichen. Gleichzeitig, Zitat:“ steht hinter der Unbedingtheit seiner vasallitischen Treue die narzißtische Wunde einer den Königen untergeordneten Existenz, die er als einen ins Negative gewendeten Führungsanspruch in den Untergang kompensiert.“
Ein Minderwertigkeitskomplex!
Eine Fortführung dieser Theorie reflektiert den veränderten Personenverband der Vorgeschichte, denn Sagenvarianten des Nibelungenstoffes kennen Hagen als Halbbruder oder Bruder des Königs.
Sah er sich selbst aufgrund seiner überlegenen Stärke als rechtmäßigen Erben des burgundischen Thrones; durfte aber, weil er unstandesgemäßer Herkunft war, keine Krone tragen?
Falls Hagen in Siegfried seine Macht bedroht sah, dann war es vielleicht eine Macht, die er noch nicht innehatte, sich aber anzueignen hoffte. Die Ermordung Siegfried's wäre demnach gleichzusetzen mit der Beseitigung eines potentiellen Thronrivalen und das Streben um den alleinigen Besitz des Nibelungenschatzes eine Anstrengung zur uneingeschränkten Aufrechterhaltung seiner eigenen Macht.
In diesem Fall wäre er tatsächlich ein Held in der Maske des Bösen, der seine wahren Absichten geschickt verschleiert und das Fazit Harold Dickerson's bestätigt:
“Hagen is loyal and truthful to no one. Hagen ist zu niemandem treu und ehrlich.“
Trotz dieser klaren Aussage läßt sich die Frage, ob er ein Verräter war oder einfach nur treu bis zur letzten Konsequenz, nicht beantworten. Sicher finden sich Anteile beider Verhaltensmuster in seiner Persönlichkeit und machen ihn deshalb zu einer der widersprüchlichsten und gleichzeitig facettenreichsten Figuren des Nibelungenliedes.
Am Schluß dieses Vortrages steht deshalb ein Zitat aus Wolfgang Hohlbeins Roman „Hagen von Tronje“:
„ Was ein Mann glaubt, zählt nicht“ antwortete Hagen, „ nur, was er tut. Genausogut kannst du sagen, nicht die äußeren Zeichen zählen, sondern nur der Glaube, der in den Herzen ist.“
Ob es nun aus Treue geschah oder aus Eigensucht oder aus blindem Heroismus: Hagen tat, was er glaubte tun zu müssen.

 

Literatur

 



Das Nibelungenlied
, mittelhochdeutsch-neuhochdeutsch, nach der Handschrift C
übersetzt von Ursula Schulze

Das Nibelungenlied, mittelhochdeutsch, nach der St.Galler Handschrift
heraugegeben und erläutert von Hermann Reichert

Einführung in das Nibelungenlied
von Nine R. Miedema

Irmgard Gephart
Der Zorn der Nibelungen

Bernhard R. Martin
Die Nibelungen im Spiegelkabinett des deutschen Nationalbewußtseins

Joachim Fernau
Disteln für Hagen

Jürgen Lodemann
Siegfried und Krimhild

Wolfgang Hohlbein
Hagen von Tronje

Harold Dickerson
Hagen - a negative view