Wie gut kannte der
Nibelungenlied-Dichter
Worms


von Hans Müller


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Andreasstift mit Dom, Foto: Heinz Angermüller ..



Vorbemerkungen

1. Der Vortrag beschränkt sich bewusst auf die Angaben zu Örtlichkeiten.
Er verzichtet daher auf mögliche Anspielungen auf Wormser Persönlichkeiten der Zeit um 1200 und auf mögliche Bezüge zur Geschichte dieser Zeit.

2. Das NL erzählt nicht wahrheitsgetreu geschichtliche Ereignisse, es- spiegelt sie verzerrt wider. So ist z.B. das Kaiserportal des Domes - nicht der Ort eines Streites, den dort Brünhild und Kriemhild in der- Realität ausgetragen haben, sondern der vermutete Ort, an dem nach der - Vorstellung des NL-Dichters der in seiner Dichtung erzählte Streit - verortet werden könnte.

3. Das NL existiert nicht in einer authentischen Handschrift, sondern in - etwa 10 fast vollständigen Handschriften und etwa 20 Fragmenten, die in - Einzelheiten voneinander abweichen. Als Grundlage benutze ich die Handschrift B, gehe aber auch gelegentlich auf Abweichungen und Zusätze an- derer Handschriften ein, sofern sie für mein Thema wichtig sind.

4. Die Nibelungen sind im 1. Teil des NL die ursprünglichen Hortbesitzer - und ihre Untertanen im Nibelungenland, in einem mythischen Land irgendwo - im Norden Europas, vielleicht in Norwegen. - Im 2. Teil werden (etwas - vereinfacht dargestellt) die Burgunden als Besitzer des Nibelungenhortes - Nibelungen genannt.
Ich bezeichne sie durchgehend als Burgunden, da- mit keine unnnötige Verwirrung entsteht. - Das NL endet mit dem Halbvers: „daz ist der Nibelunge nôt(A/B)/liet(C).“ Daher der Name des Epos „Nibelungenlied“. - Worms ist in doppeltem Sinn die Stadt der Nibelungen:
Die Handlung des 1. Teils des Nibelungenliedes spielt vorwiegend in - Worms, der Residenz der Burgundenkönige. Die Burgunden des NL lassen den Nibelungenschatz nach Worms kommen und - werden von da an meist Nibelungen genannt.

5. Das NL erzählt zwar „alte maeren“, aber für ein zeitgenössisches Publi- kum um 1200, z.B. schildert es höfisches Leben um 1200, Kleidermoden und - enthält viele christliche Elemente. Dieser Zeitbezug gilt auch für die - Darstellung der Orte. - So hat der NL-Dichter offensichtlich nicht die Stadt Worms der Völkerwanderungszeit vor Augen, über die er kaum etwas wissen konnte, sondern das Worms um 1200.
Daher muss die Fragestellung präzisiert werden:
Wie gut kannte der NL-Dichter das Worms um 1200?


Einleitung

Viele NL-Forscher sind der Meinung, der NL-Dichter kenne sich in Passau und im Donauraum um Passau gut aus, dagegen seien seine Kenntnisse über Worms und den Wormser Raum eher als sehr bescheiden zu bezeichnen. – So hebt in einem Aufsatz mit dem Thema „Das Nibelungenlied und Worms“ der Autor das „lebendige Bild vom machtvollen Einströmen des Inn in die Donau in Passau“ im NL hervor. Er stellt „dem realistischen Befund zu Passau“ „die abstrakte Schilderung zu Worms“ im NL gegenüber.

Zumindest in Nordrhein-Westfalen sind die Vorstellungen von Ritter-Schaumburg weit verbreitet, die er in seinem Buch „Die Nibelungen zogen nordwärts“ (1981) zusammenfassend dargelegt hat. Nach seiner Ansicht liegt

das Herrrschaftsgebiet der Nibelungen in der Vordereifel, ihr Herrschersitz ist eine kleine Burg bei dem mittelalterlichen Weiler Virnich (heute Firmenich-Obergartzen). Ihr Zug ins Verderben führt über den Rhein bei Leverkusen nach Soest zu dem Hunen Attala. (Hunen = früherer Name der Ost- und Westfalen)

Die erste Meinung dämpft den Anspruch von Worms, die Stadt der Nibelungen zu sein. Die zweite Meinung ist geradezu tödlich für diesen Anspruch.

Ist nun Worms in der mittelalterlichen Überlieferung des Nibelungenstoffes

eine oder sogar die Stadt der Nibelungen?

Der Sagenstoff, der von den Nibelungen handelt, ist uns ausführlich in der nordischen Dichtung überliefert, so u.a. in den Heldenliedern der Edda, um 1250 aufgezeichnet:

Dort ist immer wieder vom Rhein die Rede. So prüft Sigurd (= Siegfried des NL) in einem Lied sein Schwert an einer Wollflocke, die in der Strömung des Rheins treibt. In einem anderen Lied lebt Gunnar (= Gunther des NL) mit seinen Getreuen an des „Rheines Rotgebirg“. Etwas merkwürdig ist die Erwähnung des Rheins im Alten Sigurdlied:„Erschlagen ward Sigurd südlich vom Rhein.“ - Immer wieder ist die Rede vom Gold an den Felsen des Rheins, im Rhein, von dem Hort im Rhein, der großen Streit auslöst.

Besondere Bedeutung erlangt für unsere Fragestellung die nordische Thidrekssaga aus dem 13. Jahrh.: Die Niflungen (Der Name „Burgunden“ kommt nicht vor.) residieren in Verniza / Werniza. Das ist für die meisten NL-Forscher eine entstellte Form von „Worms“, nach Ritter-Schaumburg der Name für den eingangs erwähnten mittelalterlichen Weiler Virnich in der Vordereifel. In der Thidrekssaga überqueren sie den Rhein, „wo Rhein und Dune zusammenfließen“. Für die meisten NL-Forscher ist damit ein Zusammenfluss von Rhein und Donau gemeint - ein Beweis, dass der Verfasser der Thidrekssaga keine Ahnung von der Geographie in Deutschland hatte.

Für Ritter-Schaumburg ist die Mündung der Dhünn bei Leverkusen in den Rhein gemeint.

Es ist sehr bedenklich, die Thidrekssaga wie eine Geschichtschronik zu lesen. Ein Weiler in der Vordereifel und nicht Worms als Residenz der Nibelungen trifft – wenn überhaupt – nur auf die Thidrekssaga zu.

Der älteste Beleg aus der Literatur für Worms als Hauptstadt der Nibelungen/Burgunden ist das Waltharilied, ein wahrscheinlich Ende des 9. Jahrhunderts von Ekkehart von St. Gallen verfasstes lateinisches Epos.

Darin leben im linksrheinischen Worms die „Franci nebulones“ (Nebelfranken?) Ihr König Gunther, Sohn von König Gibicho, und Hagen kämpfen im „saltu vosagum“ (Waskenwald = Vogesen?).

Im Nibelungenlied ist unser Worms ohne jeden Zweifel Hauptschauplatz des 1. Teils, worauf ich gleich näher eingehe. Die häufigste Schreibweise ist „Worm(e)z“.

Auch weitere spätere Dichtungen des Nibelungenstoffes im Mittelalter spielen in Worms, nämlich Rosengartenlied, Biterolf, Der hürnen Seyfried.


Worms im NL


1. Der Rhein bei Worms und seine Uferzonen auf beiden Seiten

Gunther, Gernot und Giselher residieren „in Worms am Rhein“, in ihrer Obhut ihre Schwester Kriemhild. - Siegfried kommt aus Xanten „vom Niederrhein“ auf Freiersfüßen nach Worms. Mit 12 Recken gelangt er auf Pferden in 7 Tagen nach Worms, eine realistische Zeitangabe für 350 km zu Pferd bei den damaligen Wegeverhältnissen. Siegfried zieht nach einem Jahr mit den Burgunden „über den Rhein“ durch Hessen, um mit ihnen gegen Dänen und Sachsen zu kämpfen.

Gunther will später um Brünhild werben, die in einem mythischen Land auf Burg Isenstein lebt, weit im Norden. Mit Siegfried, Hagen und dessen Bruder fährt Gunther von Worms „ze tal / nider den Rîn an den sê“ (flussabwärts zum Meer).

Nachdem Siegfried durch zweimaligen Betrug Brünhild für Gunther bezwungen und Kriemhild geheiratet hat, zieht er mit ihr nach Xanten. Nach 10 Jahren kommen Boten von Worms nach Xanten „rheinabwärts“ und laden die Xantener nach Worms ein. Dort wird Brünhild im Streit der Königinnen tödlich beleidigt, was zu Siegfrieds Tod durch Hagens Meuchelmord führt.

Trotz des schrecklichen Geschehens bleibt Kriemhild in Worms und lässt den Nibelungenschatz aus dem hohen Norden stromauf nach Worms kommen.

Um in Etzels Land zu gelangen, müssen die Burgunden über den Rhein setzen.

Aus der Sicht von Etzels Hof liegt Worms „über Rîn“.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle Ortsangaben im Zusammenhang mit Worms im NL mit der Wirklichkeit übereinstimmen: Worms liegt eindeutig linksrheinisch. Nach Xanten und erst recht zum mythischen Land Brünhilds muss man weit stromabwärts fahren, um nach Hessen oder gar in Etzels Land zu kommen, muss man den Rhein überqueren.

Im NL ist immer wieder vom „sant“ die Rede, wenn der Ort gemeint ist, an dem die Schiffe in Worms anlegen. Nun ist nicht nur in Worms das Rheinufer bekanntlich flach, sondern auch in vielen anderen Städten am Rhein. Auch lässt der NL-Dichter an weiteren Orten Schiffe „am sant“ anlegen. Daher gehe ich auf diese Nennungen nicht weiter ein.

Nachdem ich sehr allgemein die Lage der Stadt am linken Rheinufer besprochen habe, komme ich jetzt zur Darstellung der Uferzonen im NL. Nach dem Sieg über Dänen und Sachsen lässt König Gunther ein großes prächtiges 12-tägiges Fest mit Turnieren vorbereiten: „vor Wormez ûf den sant“.

Während der Fahrt vom Isenstein nach Worms mit Brünhild und ihrem Gefolge schickt Gunther Siegfried nach Worms. Dort lässt Gunther ein großes Fest am Rhein vorbereiten. Der König bittet darum, ihm und Brünhild „ûf den sant“ entgegenzureiten. – In feierlichem Zug reitet man von der Burg an den Rhein, es ist offensichtlich ein längerer Weg. Nach dem großen Empfang am Ufer findet in Ufernähe ein Turnier auf einem großen Feld vor Worms statt, umgeben von kostbaren Hütten und Zelten. Schließlich entsteht so viel Staub, dass Hagen den Damen zuliebe das Turnier beendet.

Als die Burgunden ahnen, dass sie bei Etzel Schlimmstes erwartet, brechen sie mit einem riesigen Heer auf. Am Abend setzen sie in Worms über und verbringen die Nacht (mit ihren Frauen) auf der anderen Rheinseite. Während Frauen und Männer am nächsten Morgen weinen, ziehen die Recken los.

In der Fassung B weinen sie merkwürdigerweise auf beiden Seiten der Berge,

in C – leicht zu verorten - auf beiden Seiten des Rheines.


Exkurs

Der Rhein bei Worms und seine Uferzonen auf beiden Seiten um 1200


Abbildung 1: Stadtansicht Worms von Sebastian Münster um 1550 (Bild: Stadtarchiv Worms)
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Nicht mit letzter Sicherheit wissen wir, wo sich das weite Gebiet zwischen Stadt und Rhein ausgedehnt hat, wo die Rheinfähre verkehrte. Es gibt aus dieser Zeit keine Karte über den genauen Verlauf des Rheins mit Nebenarmen und vielen Inseln. Er war damals noch nicht eingedämmt, schon gar nicht begradigt. - Das Gebiet zwischen der Stadt und dem Rhein lag in der Hochwasserzone, daher gab es keine Bebauung, kaum bestellte Äcker und Weingärten, kaum Wald. Das Gebiet ist als ausgedehntes Wiesengelände bezeugt. Es gibt Hinweise auf Nutzung als größerer Versammlungsplatz. So vermutet man, dass dort das Wormser Konkordat 1122 verkündet wurde und anschließend ein großes Volksfest stattfand. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es auch der Ort eines Feldlagers bei kriegerischen Auseinandersetzungen 1242.

Dort am Rhein war das Gestade, der Anlegeplatz für die Schiffe und die Rheinfähre.

Auch das rechtsrheinische Gebiet gegenüber von Worms (später Maulbeeraue genannt) ist schon aus der Zeit vor 1200 als Sammelplatz für größere Truppenkontigente bezeugt. So zogen 1147 französische Kreuzfahrer nach Worms, setzten mit vielen Schiffen über und sammelten sich dort zum Weiterritt Richtung Osten.

Die Angaben aus dem NL lassen sich also gut verorten.

Noch 1550 - das lässt sich aus der ältesten bekannten Stadtansicht von Worms mit Sicherheit schließen – gab es zwischen dem Rhein und der Stadt

sehr viel freies Gelände. (s.o. Abbildung 1)

Selbst heute noch befindet sich verhältnismäßig weit vom Stadtzenrum entfernt die Festwiese in Rheinufernähe. (Vgl. nachfolgende Karte: Abbildung 2)

Abbildung 2:
Stadtplan Worms:
"Zu Fuß durch zwei Jahrtausende"
erhältlich bei: Verkehrsverein, Worms

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2. Burg der Burgunden, Burghof, Münster

a) Burg:

Die Angaben im NL sind sehr allgemein, die Lage der Räume zueinander nicht angegeben. Man liest von großräumigen Zimmern, Sälen, von Gunthers Saal, dem Saal des Königs und dem großräumigen Palas.

Ein Trost: Selbst wenn der NL-Dichter genauer wäre, könnte es bei unserer Fragestellung nicht weiterhelfen, da wir auch über Details der Kaiserpfalz um 1200 nur spekulieren können.

Die Rekonstruktion des Wormser Dombezirks im 13. Jahrhundert von Karl Gruber wird von der Forschung als Versuch bewertet, der der Realität am nächsten kommen dürfte. Abbildung 3


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1. Johanniskirche
2. Dom
3. Kaiserportal am Dom
4. Silberkammer im Dom
5. Bischofshof/Kaiserpfalz
6. Saalstiege vor der Kaiserpfalz


Abbildung 3: Rekonstruktion des Wormser Dombezirks im 13. Jahrhundert (von Nordosten aus gesehen)
in: Der Wormsgau Band II (1934 - 1943) S. 234 - 241

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Mehrere Stellen im NL bedürfen einer näheren Erörterung:

Beim Aufbruch nach Island schauen den Helden „Mädchen von den Fenstern der Burg aus nach.“ - Konnten sie von den Burgfenstern bis zum Rhein sehen, wo sich die Helden einschifften, zumal die Burg wohl keine Türme hatte? (Ich komme gleich darauf zu sprechen.) Aber kann man einer Person nicht auch dann noch nachsehen, vielleicht traurig, sinnend, wenn man sie mit den Augen nicht mehr wahrnimmt?

Als der Nibelungenschatz in Worms untergebracht wird, heißt es, er sei in Türme und in eine Kammer / in Kammern gebracht worden. Diese Angabe steht anscheinend im Widerspruch zu der Rekonstruktionsskizze der Pfalz, nach der sie keine Türme aufweist. - Außer besagter Stelle ist nirgendwo im NL von Türmen der Burg der Burgunden die Rede. Dagegen heißt es von Etzels Burg, dort würden Palas und Türme vom Klagegeschrei und von den Schwertschlägen Gunthers und Dietrichs widerhallen - Brünhilds Burg Isenstein hat sogar 86 Türme, auch ihre Zinnen werden erwähnt. - Vielleicht waren aber statt der Kammern und Türme in der Pfalz Kammern und Türme des Domes gemeint. Ein Indiz könnte der spätere Name „Silberkammer“ für eine 1130 geweihte Kapelle zwischen dem Querschiff und dem nördlichen Ostturm sein (s.o. Abbildung 3). Diese spätere Bezeichnung für die Kapelle lässt es denkbar erscheinen, dass sie schon um 1200 zur Aufbewahrung der Kirchenschätze benutzt wurde. - Hätte der NL-Dichter tatsächlich bei seinen Angaben diese Kapelle und Domtürme gemeint, wäre das ein starkes Indiz für seine guten Ortskenntnisse. – Aber die Sache mit der Silberkammer im NL wird wohl für immer eine unbeweisbare Hypothese bleiben.

An 2 Stellen ist in der sonst sehr allgemein gehaltenen Darstellung der Burg von einer Saalstiege bzw. Saalstiegen die Rede:

Gunther lässt Kriemhild rufen, die mit Gefolge im Burghof erscheint. „Da sprang Giselher eine Stiege hinunter.“ Er bittet Kriemhild, allein mit ihm zum König zu gehen, wo die Vermählung von Kriemhild und Siegfried stattfindet.

Am Ende der anschließenden Feier der Doppelhochzeit treffen sich die beiden

Königinnen „vor des sales stiegen“ und der Erzähler betont mit Nachdruck, dass es noch keinerlei Feindschaft zwischen ihnen gegeben habe.



Exkurs:
Funktion der Saalstiege um 1200

Urkundlich belegt ist für Worms die Beilegung eines heftigen Streites zwischen dem Bischof und dem Rat der Stadt in einer feierlichen Rechtshandlung für 1233 auf der Saalstiege des Bischofshofes bzw. der Kaiserpfalz. (s.o. Abbildung 3) Bald danach wird urkundlich festgelegt, dass Gerichtsurteile öffentlich auf der Saalstiege verkündet werden müssen.

So ist also die Saalstiege im NL und im Worms des 13. Jahrhunderts ein wichtiger rechtlicher Raum.


b) Burghof:

Er ist der Ort von Ritterspielen, Turnieren, bei denen vornehme Damen aus den Fenstern bewundernd zuschauen:

Kriemhild beobachtet durch ein Fenster aus der Burg heimlich die Ritterspiele, bei denen sich Siegfried auszeichnet. - Nach dem Festmahl bei der Doppelhochzeit finden dort ebenso Ritterspiele statt wie am Tag danach, ebenso zu Ehren Siegfrieds und Kriemhilds, als sie nach 10 Jahren von Xanten nach Worms zu Besuch kommen.

Bei Ritterspielen im Burghof, an denen offensichtlich auch Siegfried und Gunther teilnehmen und die beiden Königinnen zuschauen, beginnt der unheilvolle Rangstreit der Königinnen, als Kriemhild bewundernd sagt:„Ich habe einen Mann, dass alle diese Reiche in seiner Macht stehen sollten.“ – Der Streit findet dann bekanntlich seinen Höhepunkt vor dem Münster.

Die vorliegende Rekonstruktionsskizze des Hofes zwischen Pfalz und Dom passt gut zu den Schilderungern im NL. (s.o. Abbildung 3) - Übrigens ist – allerdings erst für 1521 - ein Turnier auf diesem Platz belegt.


c) Münster:

Alle Gottesdienste, die besucht werden, ob feierliche Hochämter oder Frühmessen, finden in „dem Münster“ statt. 5x wird zwar das Wort Kirche verwendet im Sinne von „zur Kirche gehen“ = den Gottesdienst besuchen.

Nur in Str. 811 steht das Wort „tuom“. Dort heißt es: „Man hörte vom Dom her das Läuten vieler Glocken.“ Unmittelbar danach wird der Zug der Burgunden zum Münster geschildert. Also ist mit dem Münster eindeutig immer der Dom gemeint.

Im Rahmen der Siegesfeiern über die Sachsen und Dänen findet ein Gottesdienst im Münster statt. Alle gehen offensichtlich zu Fuß von der Burg dorthin. Also ist es nicht weit.

Ebenso gehen am Tag nach der Hochzeit die beiden Königspaare zur Messe ins Münster, wo sie den Ehesegen empfangen.

Zum Festgottesdienst im Münster am Tag nach der Ankunft Kriemhilds und Siegfrieds in Worms reiten beide Paare zum Münster, die Königinnen gekrönt.

Ich glaube, dass dieses Reiten nichts über die Entfernung zwischen Burg und Münster aussagt, da es sich um eine höfische Zeremonie handelt, bei der die Zurücklegung des Weges zu Fuß für die Königspaare unpassend wäre.

Der Streit der Königinnen beginnt unter 4 Augen, als Kriemhild beim Turnier vor Brünhild ihren Mann zu sehr bewundert. Der Streit eskaliert. Kriemhild schlägt die Rangprobe vor dem Portal des Münsters vor, Brünhild ist sofort einverstanden. So treffen sich beide Königinnen mit ihrem Gefolge vor dem Gottesdienst vor dem Portal des Münsters und streiten sich „in aller Öffentlichkeit“. Brünhild behauptet, Siegfried sei Gunthers Lehnsmann, daraufhin kontert Kriemhild, indem sie behauptet, dieser Lehnsmann Siegfried habe sie als Erster zur Frau gehabt. Kriemhild geht vor Brünhild ins Münster. Nach dem Gottedienst zeigt Kriemhild Brünhild vor dem Münster zum Beweis deren Ring und Gürtel, den ihr Siegfried nach der Überwältigung Brünhilds nach der Hochzeit weggenommen hat. – Gunther und Siegfried werden gerufen. Siegfried ist bereit, einen Reinigungseid zu leisten. Aber Brünhild fühlt sich bekanntlich weiterhin tödlich entehrt.

Verortung

Es muss sich um das Nordportal handeln, da das Südportal um 1200 im Vergleich zum Nordportal schmuckloser war - das prächtige Tympanon des Südportals stammt aus gotischer, also späterer Zeit – und da außerdem vor dem Südportal – wie die Rekonstruktionsskizze zeigt – für feierliche Aufzüge kein Platz war. (s.o. Abbildung 3)

Das Nordportal war um 1200 bereits das Kaiserportal. - 1184 hatte Friedrich Barbarossa in einem Freiheitsbrief der Stadt Worms frühere kaiserliche Privilegien bestätigt und sie von hohen Abgaben im Erbfall befreit. Kurz danach hatten die Wormser eine Bronzetafel mit vergoldeten Lettern über dem reich verzierten Nordportal angebracht, die den Text des kaiserlichen Privilegs enthielt. Auf der Bogenlaibung über der Tür waren vegetabile Ornamente und ein Huldigungsgedicht an Worms in lateinischer Sprache angebracht, dem Kaiser in den Mund gelegt. Das Kaiserportal wurde leider 1689 sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. - 1981 hat der Wormser Bildhauer Gustav Nonnenmacher für den Raum zwischen den Säulen über dem Portal eine Bronzefigur des Kaisers (Barbarossa?) und eine Tafel mit Auszügen einer Übersetzung des o.g. Huldigungsgedichtes angefertigt.

Dieses Kaiserportal war also ein wichtiger repräsentativer Ort. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass bereits um 1200 der Platz zwischen Dom und Bischofshof Wahl-, Beratungs- und Versammlungsort der gemeindlichen Organe war. So passt dieser Ort in besonderer Weise für die in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen den Königinnen, die dann später zur Katastrophe führen.

Die Bemerkung im NL, dass Kriemhild bei ihrem Besuch in Worms so gut wie immer vor Tagesanbruch mit ihren Hofdamen zur Frühmesse geht, passt gut zu der baulichen Besonderheit, dass die Kaiserpfalz an den Dom angebaut ist und durch zwei Türen mit ihm innen in Verbindung steht. Wenn Kriemhild mit ihrem Hofstaat in an den Dom angrenzendenden Räumen untergebracht ist, braucht sie nicht im Dunkeln bei Wind und Wetter über den Hof zum Münster zu gehen, sondern kann einen der Durchgänge von der Burg zum Münster benutzen. - Übrigens wohnte in diesem Bereich der Pfalz ab 1494 Maria Bianca, die Gemahlin von Kaiser Maximilian, 2 Jahre lang.


3. Friedhof mit Siegfrieds Grab

Während des Requiems im Münster stehen viele anteilnehmende Menschen aus der Bevölkerung auf dem „Kirchhof“ „vor dem Münster“. In einem langen Trauerzug wird Siegfried zu Grabe getragen. Kriemhild wird während des Ganges vom Münster zum Grab vor seelischem Schmerz ohnmächtig. Leider erfahren wir nicht, wo Siegfried beerdigt wird.

Man baut Kriemhild in Münsternähe ein stattliches Haus, wo sie zurückgezogen mit ihrer Dienerschaft lebt. Sie geht oft zur Kirche und zu Siegfrieds Grab.

Die Angaben des NL-Dichters passen gut zum Friedhof östlich von der Johanniskirche, der schon im frühen Mittelalter benutzt wurde, was durch Gräberfunde 1834 bestätigt worden ist.
(s.o. Abbildung 3)

So kann Kriemhild, der in Münsternähe ein Haus gebaut worden ist, problemlos zum Münster gehen und das Grab besuchen. - Auch hat man den Eindruck, dass sie in unmittelbarer Nähe des Hofes lebt, so z.B., als sie sich (scheinbar?) mit den Brüdern aussöhnt, den Nibelungenhort in Worms in Kammern und Türmen in der Burg oder im Münster aufbewahrt, als Rüdiger als Etzels Brautwerber Kriemhild persönlich sein Anliegen vorbringt.

Aber es gibt auch die These, Siegfrieds Grab liege beim Kloster Nonnenmünster in der südlichen Vorstadt, etwa 1 km vom Dom entfernt. Das Kloster wurde auf der Stadtansicht von Sebastian Münster durch einen Kreis markiert. (s.o. Abbildung 1)

In dessen Nähe gab es zwei kleine Kirchen: die Cäcilien- und Meinhartskirche. - Auf dem Friedhof bei den beiden Kirchen befand sich nach einem Zeugnis von 1551 ein 12 Meter langer Tumulus mit zwei aus der Erde herausragenden Steinen, unter denen der Hürnen Seyfried beerdigt sein sollte. Eichfelder hat diesen Tumulus mit den beiden Menhiren auf dem Torturmplatz künstlerisch nachempfunden. - Schon Kaiser Friedrich III hat nach verschiedenen Chroniken 1488 in diesem Gebiet – wenn auch ergebnislos – nach den Gebeinen Siegfrieds graben lassen.

Für die These, dass Siegfried nach der Vorstelluing des NL-Dichters in der Nähe des Klosters Nonnenmünster begraben worden ist, spricht die Tatsache, dass der NL-Dichter einen großen Trauerzug schildert. Dafür gab es kaum Platz auf dem Friedhof neben der Johanniskirche. Man könnte sich vorstellen, dass der NL-Dichter einen langen Trauerzug zum 1 km entfernten Friedhof bei Nonnenmünster im Sinn hatte. – Auch könnte schon um 1200 die Vorstellung des Siegfriedgrabes bei Nonnenmünster in Worms stark verbreitet gewesen sein.

Aber es lässt sich die Vorstellung vom Hünengrab Siegfrieds in Worms nicht bis um 1200 zurückverfolgen? Es ist also fraglich, ob der NL-Dichter von dieser Vorstellung wissen konnte? - Auch war Siegfried im NL kein Riese.

Gegen das Grab bei Nonnenmünster lässt sich auch einwenden, dass der NL-Dichter immer von dem Münster sprach und dann den Dom meinte. Wieso sollte er an dieser Stelle eine andere Kirche im Sinn haben?

Meiner Meinung nach spricht sehr viel für den Friedhof neben dem Münster.


4. Die Stadt Worms im NL

Es gibt nur 2 Angaben über die Stadt. Wir erfahren Folgendes:

1. „Sehr kräftig und laut erschallten viele Posaunen, und von den Trommeln

und Flöten wurde der Lärm so groß, dass die große Stadt Worms davon wi

derhallte.“

2. Der Nl-Dichter berichtet, dass man den 500 Begleitern Rüdigers Unter

kunft in der großen Stadt besorgt hat.

Der NL-Dichter interessierte sich ausschließlich für den Königshof, sein Gefolge, seine Gäste. Da war die Stadt höchstens als Beweis für große Lautstärke bei Festen im Burghof und zum Einquartieren interessant.

Die vielen Kirchen werden ebenso wenig erwähnt wie die Stadtmauer, die allerdings um 1200 möglicherweise noch im Bau war, jedenfalls noch nicht so hoch und prächtig war, wie sie aus späteren Zeiten überliefert ist.


5. Passau im NL zum Vergleich

Nur an 2 Stellen werden Örtlichkeiten von Passau dargestellt:

Rüdiger mit Kriemhild und ihrem Gefolge auf dem Weg zu Etzel nähern sich Passau. In den Handschriften A und B, nicht in C heißt es:„Dorthin, wo heute noch ein Kloster steht und der Inn mit starker Strömung in die Donau fließt, hatte man die Nachricht gebracht, es kämen viele unbekannte Gäste eilig daher.“ – Das ist eine treffende Beobachtung zu Passau. Aber welches Kloster ist gemeint? Kloster Niedernburg oder Domstift St. Stephan? Also in diesem Punkt drückt sich der NL-Dichter sehr allgemein aus. Der Dom, der von Bischof Pilgrim (971 – 991), im NL Bruder von Kriemhilds Mutter, erneuert und vergrößert wurde, liegt verhältnismäßig hoch dominant auf der Landzunge zwischen Inn und Donau. Vom NL-Dichter wird er nicht einmal erwähnt.

Über die Burgunden auf dem Weg zu Etzel erfahren wir:„In Passau konnte man sie nicht alle unterbringen. Deshalb hatten sie den Fluss zu überqueren, wo sie ein freies Gelände fanden. Dort schlugen sie die Zelte auf.“

In Passau gab es eine Donaubrücke, die zum Gebiet des ehemaligen Römerlagers führte, einem verhältnismäßig flachen Gelände, als Platz für ein Heerlager gut denkbar. Von dort hätte man einen herrlichen Blick auf den dominanten Dom gegenüber gehabt. Er wird im NL auch dort nicht erwähnt.


Fazit

Gewiss, wir finden im NL keine genauen Beschreibungen von Orten, weder von Worms noch von Xanten, noch von Passau.

Das kam der Dichtung des Mittelalters nicht in den Sinn. Ich kenne aus keinem lit. Werk des Mittelalters genaue der Realität entsprechende Ortsbeschreibungen.

Aber die vielen Einzelheiten, die der NL-Dichter über Worms bringt, lassen sich widerspruchslos im Worms von 1200 – soweit wir es kennen – verorten.

Im NL wird das machtvolle Einströmen des Inn in Passau in die Donau erwähnt. Dem hat Worms nichts entgegenzusetzen. Schließlich liegt Worms weder an der Neckar- noch an der Main- oder Moselmündung.

Mit der Erwähnung eines weiten Platzes auf der anderen FlussSeite, wo ein Heer lagern kann, steht es zwischen Passau und Worms 1:1.

Steht dem angeblich „realistischen Befund zu Passau“ „die abstrakte Schilderung zu Worms“ gegenüber, wie ich sie als Meinung am Anfang zitiert habe? Der Autor war oder ist der Direktor des Stadtarchivs in Passau.

Da zitiere ich lieber unseren derzeitigen Wormser Archivdirektor. Im Rahmen einer Darstellung der rechtlichen Bedeutung des Hofes zwischen Dom und Kaiserpfalz, speziell des Kaiserportals und der Saalstiege, zieht er den vorsichtigen Schluss:„Zudem verdeutlicht dies, dass der [...] unbekannte Dichter die Wormser Verhältnisse weit besser gekannt hat, als ein Teil der germanistischen Forschung nach wie vor anzunehmen bereit ist.“

Es würde mich freuen, wenn es auch mir gelungen wäre, durch meine Ausführungen bei Ihnen diesen Eindruck erweckt zu haben.