Verfluchte Dinge.

Artefaktbiographien und Dingkarrieren in der Edda und im Nibelungenlied


von Prof. Dr. Ludger Lieb (Heidelberg)

.....
gg
Siegfried gibt Kriemhild den Ring
in dem Film: „Die Nibelungten“ von Fritz Lang, 1924
..

I. Dinge im Mittelalter und deren Erforschung

Die Gegenstände, mit denen sich die Forschung beschäftigt; die Fragen, die aufgeworfen und auch die Antworten, die gefunden werden – all das ist geprägt durch gewisse »Konjunkturen«, durch Veränderungen der Interessen, Perspektiven und Redeweisen. Hatte man etwa seit den 1960er Jahren im Rahmen einer »linguistischen Wende« (»linguistic turn«) intensiv über das Verhältnis der Sprache zur Welt nachgedacht, interessiert sich die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung seit den 1990er Jahren vermehrt auch für Dinge, für Material und Materialität sowie für die kulturellen Zusammenhänge und Verflechtungen, in die die Dinge eingebunden und eingewoben sind. Man spricht von der ‚Affordanz‘ der Dinge, dem Angebotscharakter, den die Dinge für uns haben (Appadurai), von Dingen als Aktanten in Netzwerken (Latour), greift auf Martin Heidegger zurück, der das ‚Zeug‘ als das in seiner Zweckbestimmtheit aufgehende Ding vom ‚(Kunst)Werk‘ als dem Ding unterschied, in dem sich das ‚Sein‘ ‚entbirgt‘; erkennt, dass die Dinghaftigkeit erst in der Störung der reibungslosen Zweckbestimmung bewusst wird (Bill Brown) usw.
Der im Jahr 2011 an der Universität Heidelberg gegründete Sonderforschungsbereich (SFB) 933 knüpft an diese Entwicklung an. Zugleich setzt der SFB aber auch einen eigenen Akzent: Die über 60 dort gemeinsam arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus einem Dutzend verschiedener Fächer (von der Assyriologie und Ägyptologie über die Geschichts- und Literaturwissenschaft bis zur Ethnologie, Musikwissenschaft und Sinologie) beschäftigen sich insbesondere mit Dingen, auf denen etwas geschrieben steht. Diese »Textdinge«, mit denen wir uns beschäftigen, nennen wir »schrifttragende Artefakte«, weil sie Schrift »tragen« und weil sie nicht natürlich vorhanden, sondern von Menschen künstlich und manchmal auch kunstvoll hergestellt worden sind. Der Titel des SFB 933 »Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften« markiert die Verbindung von Material, Text und Kultur – und der Titel beschränkt den Zeitraum auf die Zeit vor der Einführung maschineller Verfahren der Herstellung von Büchern, also auf die Zeit vor der Erfindung und Durchsetzung des Buchdrucks.
Für die Germanistische Mediävistik ist diese Forschungsagenda dann eine Herausforderung, wenn man sich nicht mit den Gegenständen direkt beschäftigt, also nicht mit mittelalterlichen Inschriften und Handschriften, sondern mit Dingen, von denen in Texten erzählt wird. Von solchen Dingen gibt es eine ganze Menge – und einige dieser Dinge sind auch durchaus bekannt, wenn nicht sogar berühmt. So finden sich beispielsweise immer wieder Ringe, die ja bis heute einen hohen symbolischen Wert aufweisen und noch immer eingesetzt werden, um Zugehörigkeit zu markieren, bei Ehepartnern, aber beispielsweise auch wenn es um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie oder Gemeinschaft geht. Ein solcher Ring spielt auch im Nibelungenlied eine wichtige Rolle, gemeinsam mit einem Gürtel, einem ebenfalls symbolisch aufgeladenen Ding. Berühmt – und bis heute berüchtigt, mag man gleich hinzufügen – ist im Nibelungenlied zudem der Hort, dieser riesige Schatz, der mehrmals seinen Besitzer wechselt und letztlich aus der Welt geschafft werden muss, um nicht länger als Ressource der Rache zu dienen. Neben diesen Dingen gibt es natürlich Kriegsgerät, etwa Schwerter und Helme; zudem Gefäße, Pferde und Hunde (falls man diese Lebewesen als Dinge bezeichnen will), Stoffe und Kleidung, Gaben und Liebespfänder und so weiter.
Sich mit der Art und Weise zu beschäftigen, wie von derartigen Dingen in Erzählungen erzählt wird, ist an und für sich schon keineswegs trivial. Da es im SFB aber insbesondere um Gegenstände geht, die Schrift tragen, verkompliziert sich die Aufgabenstellung für die beteiligten Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler noch zusätzlich. So beschäftigt sich das Teilprojekt C05 des SFB 933 mit erzählten Inschriften in (vor allem deutschsprachigen) Erzählungen der mittelalterlichen Literatur. Unter Inschriften verstehen wir dabei Texte und Textträger, die sich von den schrifttragenden Artefakten unterscheiden, auf denen die Erzählungen geschrieben stehen, die wir lesen. Uns interessieren also nicht Erzählungen von Handschriften, von Pergament und Tinte, sondern von Grabinschriften, beschrifteter Kleidung, schrifttragenden Waffen und ähnlichem mehr.
Deshalb beschäftigt uns zum Beispiel der Gregorius Hartmanns von Aue, eine legendenhafte Erzählung aus der Zeit um 1200. Die Hauptfigur, Gregorius, geht aus einer inzestuösen Verbindung hervor und wird mit einer kostbaren Wachstafel auf dem Meer ausgesetzt. Nachdem er von Fischern gefunden und von einem Abt sozusagen adoptiert wurde, entscheidet er sich für ein Leben als Ritter und verheiratet sich mit einer Landesherrin, die sich als seine Mutter herausstellt. Die Tafel hat im Rahmen dieser Erzählung eine wichtige Funktion: Sie dient der Identifikation und der Selbstvergewisserung; und sie prägt tiefgreifend und effektiv die Handlungsweisen und Erwartungen der Hauptfigur.
Besonders ertragreich bei der Suche nach erzählten Inschriften sind zwei Werke Wolframs von Eschenbach, der Parzival und der Titurel. In Ersterem findet sich ein unrealistisch langes Epitaph auf dem Grabmal von Gahmuret, Parzivals Vater, der im Dienste des Kalifen von Bagdad sein Leben verliert. Mitgeteilt wird die Inschrift auf dem Grabmal der Mutter Parzivals durch einen Knappen, der ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbringt. Die bekannteste Inschrift im Parzival befindet sich allerdings auf dem Gral, einem Stein, der als Kommunikationsmittel zwischen Gott und den Menschen dient und Nachrichten übermittelt, die, sobald sie gelesen wurden, wieder verschwinden und Platz machen für neue, zukünftige Mitteilungen. Ein außergewöhnlicher Schriftträger findet sich auch in Wolframs Titurel. Dort ist es eine Hundeleine, ein »Brackenseil«, auf dem sich ein langer Text aus Edelstein-Buchstaben befindet, der allerdings, weil er an einem Jagdhund befestigt ist, auf Abwege gerät und von einer der Hauptfiguren, Schionatulander, gefangen und seiner Geliebten gebracht wird. Sie, Sigune, vertieft sich in die Lektüre, doch als sie die Hundeleine, mit der der Bracke angebunden wurde, aufknotet, um die Geschichte zu Ende zu lesen, entwischt der Hund erneut und das Unheil nimmt seinen Lauf…

II. Der Hort in der Edda
(Reginlied und Fafnirlied)


Bevor ich mich näher mit den Dingen im Nibelungenlied befasse, möchte ich zunächst einen Blick in die Lieder-Edda werfen und herausarbeiten, welche Rolle der Schatz und der Ring spielen, denen wir im Nibelungenlied wieder begegnen. Von Schrift auf den Dingen wird dabei allerdings nicht die Rede sein. Sowohl die altnordische Überlieferung wie auch das mittelhochdeutsche Nibelungenlied entwerfen eine schriftarme Welt, in der man eher Boten schickt als Briefe und eher kämpft als liest.
Eine Besonderheit in der altnordischen Erzähltradition ist, dass die Geschichte des Schatzes hier eng an die Götterwelt geknüpft wird und eine starke mythologische Prägung erfährt: Bei ihren Erkundungen der Welt rasten die drei Asen (d.h. Götter) Odin, Loki und Hönir eines Abends an einem Wasserfall. Für ihr Abendessen erschlägt Loki einen am Fluss sitzenden Fischotter mit einem Stein, mit dem die Götter sich anschließend zu ihrem Nachtquartier bei Hreidmar, einem Bauern, aufmachen. Aber als sie ihm das erlegte Tier präsentieren, erkennt Hreidmar in ihm seinen Sohn Otr und verlangt von den Göttern für dessen Tod eine Bußleistung. Die Asen sollen ihm den Otterbalg sowohl von innen mit Gold befüllen, als auch von außen damit bedecken. Odin schickt Loki daraufhin zu Andwari, einem Zwerg, der in Gestalt eines Hechtes im Wasser lebt und von dem gesagt wird, dass er im Besitz eines großen Schatzes sei. Nachdem Loki Andwari gefangen hat, zwingt er ihn, ihm den Hort als Lösegeld zu bezahlen. Andwari entrichtet das Gold bereitwillig an Loki, versucht jedoch heimlich, einen magischen Ring namens Andwaranaut (= Geschenk des Andwari), dem die Fähigkeit zugesprochen wird, Gold zu mehren, für sich zu behalten. Als Loki dies bemerkt und den Ring einfordert, spricht Andwari einen Fluch über den Schatz aus: Dieser soll künftig jedem, der ihn besitzt, den Tod bringen. Während die Asen den Otterbalg auf Gebot Hreidmars mit dem Gold Andwaris befüllen und bedecken, ist wiederum Odin entschlossen, den magischen Ring zu behalten. Doch als Hreidmar auf ein noch sichtbares Barthaar des Otters weist, muss er den Ring mit Widerwillen an Hreidmar herausgeben, damit auch dieses bedeckt wird. Bei der Übergabe erinnert Loki an den über dem Schatz ausgesprochenen Fluch und dieser erfüllt sich sogleich: Als Hreidmar beschließt, den Hort für sich allein zu besitzen und ihn nicht mit seinen anderen Söhnen Fafnir und Regin teilen will, erschlägt Fafnir den Vater. Daraufhin begehrt Regin den Schatz von seinem Bruder; doch Fafnir verwandelt sich in einen Drachen und lässt sich auf der Gnitaheide mit dem Hort unter sich nieder, während Regin als Schmied an den Hof des Königs Hjalprek zieht. Hier wächst der junge Sigurd auf, dessen Ziehvater Regin wird. Da Regin den Schatz noch immer besitzen will, aber es aufgrund der Blutschuld nicht wagt, seinen Bruder Fafnir eigenhändig zu erschlagen, stachelt er Sigurd dazu an, den Drachen mit dem von ihm geschmiedeten Schwert namens Gram zu töten. Während die beiden kämpfen, warnt Fafnir Sigurd in einer eindringlichen Rede vor dem Fluch, der auf dem Schatz lastet, doch Sigurd ersticht ihn aus einer Grube von unten mit dem Schwert. Regin weist Sigurd an, das Herz des Drachen für ihn zu braten, während er selbst sich schlafen legt. Bei der Probe, ob es schon gar sei, verbrennt Sigurd sich den Finger und steckt ihn in den Mund. Durch das am Finger haftende Drachenblut kann Sigurd plötzlich die Sprache der Vögel verstehen, die ihn warnen, dass Regin den Schatz nur für sich will. Auf den Rat der Meisen hin erschlägt Sigurd Regin, belädt sein Pferd mit dem Schatz und reitet mit diesem davon.
Mit dem ersten Ausspruch des Fluches durch Andwari haftet dem Schatz und insbesondere dem magischen Ring ein latentes Aktionspotential an, das im Laufe der Erzählung immer wieder aktualisiert wird und das alle mit ihm in Kontakt tretenden Figuren unvermeidbar einholt. Die Voraussetzung für eine Entfaltung dieses Potentials gründet im ambivalenten Dingcharakter des Schatzes bzw. des Ringes, also in der Tatsache, dass der Schatz und der Ring den Figuren in der Erzählung zunächst als gewöhnliche, in ihrer reinen Zweckbestimmung aufgehende Dinge entgegentreten (d. h. als Objekte, die sich primär durch die Eigenschaft auszeichnen, dass man sie besitzen und über sie verfügen kann).
Durch den von Andwari ausgesprochenen Fluch ist aber dieser Status des ‚gewöhnlichen Dings‘ verlorengegangen. Der Schatz stellt von diesem Zeitpunkt an nicht länger etwas (als Ding) Besitzbares/Kontrollierbares dar (verloren (aber ohne, dass dieser Statusverlust für die Figuren sichtbar wird). Der Fluch generiert hier ein paradoxes (und auf Ebene der Figuren auch ein tragisches) Moment: Denn mit dem Fluchausspruch tritt der Schatz/Ring den Figuren seltsamerweise erst recht als ein ‚Ding‘ par excellence entgegen. Denn gerade als der Schatz/Ring seine herkömmliche Dinglichkeit verliert, scheint er jeden in der Erzählung, der mit ihm in Berührung kommt, mit dem Verlangen zu erfüllen, ihn ja gerade in ebendieser Eigenschaft/Funktion als herkömmliches ‚Ding‘ zu besitzen und über ihn (als Ding) zu verfügen.
Man könnte also argumentieren, dass der Schatz für die handelnden Figuren innerhalb der Erzählung ein hermeneutisches Problem darstellt: Alle Figuren ‚verstehen‘ ihn als etwas Besitzbares und haben die Erwartungshaltung, dass man ihn besitzen kann (und durch seine herausgehobene Attraktivität erscheint er allen quasi als ‚Ding der Dinge‘) und doch ist er gerade eben nicht besitzbar! Es verhält sich hier genau andersherum: Der Schatz hat einen Eigen-Sinn, er verfügt im Sinne eines Subjekts über seinen (vermeintlichen) Besitzer, er kontrolliert dessen Handeln und richtet auf diese Weise ihn und dessen ganzes Umfeld zugrunde.
Die Vorstellung, dass die Dinge ihrerseits zu handelnden Aktanten werden und ihre vermeintlichen Besitzer beeinflussen, greift auch J.R.R. Tolkien, dem die Lieder-Edda in vielerlei Weise als eine literarische Vorlage diente, in seinem Herr der Ringe wieder auf: Hier ist es vor allem Gollum, dessen Schicksal eng an den von Sauron kunstvoll geschmiedeten ‚Einen Ring der Macht‘ gebunden wird. Je länger Gollum im (vermeintlichen) Besitz des Rings ist, desto mehr verfällt er dem ‚Eigen-Willen‘ des Rings, bis dieser ihm schließlich jede Handlungsautonomie und Identität (bis hin zu seinem früheren Namen Sméagol) raubt. Ähnlich wie bei dem magischen Ring in der Lieder-Edda ist dabei die Art des Erwerbs im Herr der Ringe entscheidend für dessen Wirkmächtigkeit: Während Gollum den Ring durch die Ermordung seines Freundes Déagol an sich bringt, erwirbt der Hobbit Bilbo diesen zufällig und im Affekt des Mitleids, mit der Folge, dass der Ring über Bilbo niemals eine vergleichbare Macht erlangt.

III. Das Brautwerbungsschema

Will man die Karriere und Biographie von Hort, Gürtel und Ring im Nibelungenlied nachzeichnen, fällt auf, dass all diese Dinge eingebunden sind in eine Gabenökonomie, die wiederum mit der (Ver-)Gabe von Frauen verknüpft ist. Um über Erwerb, Verteilung und Vergabe von Frauen in der mittelalterlichen Literatur zu sprechen, hat sich in der Literaturwissenschaft das sogenannte »Brautwerbungsschema« bewährt. Dieses Schema besteht aus verschiedenen Figuren und Figurenrollen sowie aus verschiedenen Handlungsanforderungen. Das Schema kann in unterschiedlichen Texten unterschiedlich ausgestaltet sein, besonders bekannt ist das Schema der gefährlichen Brautwerbung. Im Nibelungenlied finden sich insgesamt drei Brautwerbungen: 1. Siegfrieds Werbung um Kriemhild, 2. Gunthers Werbung um Brünhild (mit Siegfrieds Hilfe) sowie 3. Etzels Werbung um die verwitwete Kriemhild. Nur die zweite der drei Brautwerbungen ist eine gefährliche Brautwerbung. Hier gibt es in der Regel drei Figurenrollen: die Braut, der Werber und der Helfer. Letzterer unterstützt den Werber und stellt gegebenenfalls den Kontakt zur Braut (oder dem Brautvater) her. Eine solche Brautwerbung kann sich als durchaus gefährlich herausstellen , dann nämlich, wenn zu den Handlungsanforderungen eine »Freierprobe« gehört, also eine Aufgabe (oder ein Bündel von Aufgaben), die zu lösen ist, um die Braut zu gewinnen.
In der gefährlichen Brautwerbung im Nibelungenlied ist Brünhild die Braut, Gunther der Werber und Siegfried der Helfer. Einige Probleme, gewichtige Probleme, entstehen dadurch, dass der Stärkste (Siegfried) nicht die Stärkste (Brünhild) bekommt, sondern als Helfer dafür sorgt, dass Brünhild sich Gunther zur Frau gibt, und dabei in den entscheidenden Momenten entweder als Dienstmann Gunthers auftritt oder unter der Tarnkappe unsichtbar bleibt. Der zweifelhafte Erfolg dieser Brautwerbung stellt wiederum die Voraussetzung dafür dar, dass Gunther seine Schwester, Kriemhild, an Siegfried gibt. Die vermeintlich mangelnde Gleichrangigkeit dieses Paares sorgt dann aber bekanntlich dafür, dass Brünhild sich gegen einen sexuellen Vollzug der Ehe sperrt und Siegfried erneut helfen muss. Dass er dabei Brünhilds Gürtel und Ring an sich nimmt und Kriemhild schenkt, ist zwar handlungslogisch nicht ganz leicht zu verstehen, weil dieser Raub nicht notwendig war, aus symbolischer Sicht indes stehen Gürtel und Ring für Sexualität und Ehe – und es ist immer auch dieser symbolische Wert der Dinge, der im Nibelungenlied von Kriemhild und Brünhild (und auch von den Männern) verhandelt wird.

IV. Gürtel und Ring im Nibelungenlied

Nicht alle Dinge sind allerdings verflucht und auch sind Schätze nicht an sich schon für andere gefährlich. Immerhin aber wird an mehreren Stellen des Nibelungenlieds deutlich, dass das Gefährdungspotential von Schätzen dadurch entsteht, dass man sich Loyalität und personelle Allianzen kaufen kann. Dies gilt zum Beispiel für den Botenlohn, den Siegfried erhält, als er Kriemhild mitteilt, dass die (gefährliche) Brautwerbung erfolgreich war:

Den boten bat man sitzen; des was er bereit (Str. 556; nach Hs. C 562)
dô sprach diu juncfrouwe: ‘mir wære niht ze leit,
ob ich ze botenmiete iu solde geben mîn golt.
dar zuo sît ir ze rîche: ich wil iu sus immer wesen holt.’
‘Ob ich nu eine hête,’ sprach er, ‘drîzec lant, (Str. 557; nach Hs. C 563)
so enpfienge ich doch vil gerne gâbe ûz iuwer hant.’
dô sprach diu minneclîche: ‘nu sol ez sîn getân.’
si hiez ir kamerære nâch der botenmiete gân.
Vier und zweinzic pouge mit gesteine guot (Str. 558; nach Hs. C 564)
die gab si im ze miete dô stuont alsô sin muot,
ern woldes niht behalden; er gab ez sâ zehant
ir næhstem ingesinde, die er zer kemenâten vant .

(zit. nach: Das Nibelungenlied nach der Handschrift C,
hg. v. Ursula Hennig. Tübingen 1977 (= ATB 83)).

Es ist nicht so, als bräuchte Siegfried die 24 goldenen Spangen – er sagt es ja auch selbst: er ist Herr über dreißig Länder; und vom Hort ist noch nicht einmal die Rede. Der überaus großzügige Botenlohn für Siegfried ist entscheidend als Geste und Ausdruck der Liebe und Zuneigung, nicht als Akt der Übertragung von Eigentum an jemanden, der darauf dringend angewiesen wäre. Dementsprechend ist Siegfrieds anschließende Weitergabe des Goldes an Kriemhilds Dienerinnen und Diener ein Ausdruck von und eine entscheidende Geste der Herrschaft. Immerhin haben mittelalterliche Herrscher dem Anspruch zu genügen, freigebig zu sein – und diese Freigebigkeit ist auch deshalb von Bedeutung, weil sie dazu beiträgt, sich andere gewogen zu machen und sich Unterstützung zu sichern. Das Gold also, das Kriemhild an Siegfried und dieser an Kriemhilds Dienerinnen und Diener gibt, ist nicht verflucht: Die Dinge gehen in ihrer Zweckbestimmung auf. Sie haben keine über dies geschilderten Handlungen hinausgehende Geschichte, sie transportieren keine konkurrierenden Wirklichkeiten, sondern sie drücken das Evidente aus.
Anders verhält es sich mit Brünhilds Gürtel. Ihn nutzt sie zunächst als Fessel, um Gunther zu binden und an einen Nagel an die Wand zu hängen:

Dô ranger nâch ir minne; daz was der frouwen leit. (Str. 636; Hs. C 641)
dô greif nâch eime gürtel diu hêrlîche meit;
daz was ein starker porte, den si alle zîte truoc.
wie lützil si dem künige sînes willen dô vertruoc!
Die füeze und ouch die hende ze samne si im bant; (Str. 637; Hs. C 642)
si truog in zeinem nagele und hieng in an die want.
daz enkunder niht erwenden: vil kreftic wart sîn nôt.
jâ het er von ir sterke vil nâch gewunnen den tôt.
[...] Sine ruochte, wie im wære wande si vil sanfte lac. (Str. 639, Hs. C 644)
dort muoser allez hangen die naht vnz an den tac,
unze daz der morgen durch diu venster schein.
des küniges kurzewîle was die wîle harte klein.

Der Gürtel, den Brünhild stets trägt, ist eng mit ihr verbunden und es zeigt sich in dieser Szene, dass dieses Ding nicht nur symbolischen, sondern auch ganz praktischen Wert hat. Mit Hilfe des »starke[n] porte[n]« wird Gunther gefesselt und an die Wand gehängt, wo er die Nacht unbequem zu verbringen hat. Damit freilich endet die Karriere dieses Gürtels noch lange nicht. Wenig später ist es Siegfried, der den Gürtel (und Brünhilds Ring) als Trophäe an sich nimmt und an Kriemhild weiterreicht:

Dô greif si nâch dem porten, dâ si den ligen vant, (Str. 677; Hs. C 686)
und wold in dâ mit binden: dô wert ez sô sîn hant,
daz ir diu lit erkrachten: do verzagt ir lîp.
des wart der strît gescheiden: dô wart si Guntheres wîp.
[...]
Sîvrit der stuont dannen: ligen liez er die meit, (Str. 679; Hs. C 688)
sam er von sînem lîbe ziehen wolt diu kleit.
er nam ir ê ein vingerlîn von golde wol getân.
daz wolde got von himele, daz er daz hête verlân!
Dar zuo nam er ir gürtel, daz was ein porte guot. (Str. 680; Hs. C 689)
ine weiz, ob er daz tæte durch sînen hôhen muot.
er gab ez sîme wîbe: daz wart im sider leit.
dô lâgen bî ein ander Gunther und Prünhilt diu meit.

Die Unterschiede zwischen Gunther und Siegfried zeigen sich – schlagend – bei Brünhilds Versuch, den vermeintlichen Gunther erneut mit dem Gürtel zu fesseln. Sie, der alle ‚Glieder krachen‘, muss sich Siegfried geschlagen geben. Er indes ist zwar nicht derjenige, der mit Brünhild schläft, nimmt aber (stattdessen, könnte man vielleicht sagen) Gürtel und Ring an und mit sich.
Auch das Gold, das Siegfried von Kriemhild bekommen hatte, hat er nicht für sich behalten. Während aber der Botenlohn im Akt der Weitergabe Geste und Ausdruck von Herrschaft ist, wird der Gürtel zu einer Liebesgabe, mit deren Hilfe Kriemhild symbolisch erhöht wird: Sie ist Brünhild überlegen, sie trägt deren Machtzeichen, sie ist der Liebe Siegfrieds würdig. Und während der Botenlohn Geste und Ausdruck von Liebe war, ist der geraubte Gürtel eine Trophäe, mit der symbolisch die Entmachtung Brünhilds mit- und nachvollzogen wird. Mit dem Gürtel, dem Zeichen von Brünhilds Macht, verliert Brünhild eben diese Macht, so wie sie nach dem sexuellen Vollzug der Ehe ihren heldischen Überschuss an körperlicher Kraft verliert.
Die Geschichte des Gürtels geht bekanntlich noch weiter: Vor dem Dom zu Worms wirft Kriemhild Brünhild vor, dass sie nur eine Nebenfrau (eine »Kebse«) Siegfrieds sei. Auf die zornige Erwiderung Brünhilds, dass eine Kebse kaum Ehefrau des Königs sein könne und dass sich Kriemhild mit ihrer Anschuldigung selbst »verkebst« habe, äußert Kriemhild (öffentlich) die ungeheure Behauptung, dass es zuerst Siegfried gewesen sei, der mit Brünhild geschlafen habe:

… ‘den dînen schœnen lîp (Str. 840; Hs. C 848)
minnet êrste Sîvrit, mîn vil lieber man:
jâ enwas ez niht mîn bruoder, der dir den magetuom an gewan.

Für diese Behauptung braucht es freilich einen Beweis. Nach dem Münstergang zeigt Kriemhild Gürtel und Ring Brünhilds als Zeichen der Inferiorität Brünhilds vor:

Dô sprach diu schœne Kriemhilt: ‘ir möht mich lâzen gân. (Str. 847; Hs. C 855)
ich erziugez mit dem golde, daz ich an der hende hân:
daz brâhte mir mîn vriedel, dô er êrste bî dir lac.’
nie gelebte Prünhilt deheinen leideren tac.
‘Diz golt ich wol erkenne: ez wart mir verstoln,’ (Str. 848; Hs. C 856)
sprach diu küniginne, ‘und ist lange mich verholn.
ich kum es an ein ende, wer mirz habe genomen.’
die frouwen beide wâren in grôz ungemüete komen.
Dô sprach aber Kriemhilt: ‘ine wils niht wesen diep. (Str. 849; Hs. C 857)
du möhtes wol gedaget hân, und wære dir êre liep.
ich erziugez mit dem gürtel, den ich hie umbe hân,
daz ich ez niht enliuge: jâ wart mîn Sîvrit dîn man.’

Nun, nach Kriemhilds Erklärung zur Herkunft von Ring und Gürtel, erfährt auch Brünhild, wie es den Dingen ergangen ist, die ihr gestohlen wurden. Insofern ist es auch wichtig, dass es sich um zwei Dinge handelt, die sich beide in Kriemhilds Besitz befinden. Sie wiederum trägt nun den Gürtel, den Brünhild stets getragen hat, stolz als diejenige, die der ursprünglichen Besitzerin für alle sichtbar überlegen ist. Damit endet die Karriere von Gürtel und Ring, während der Hort noch bis zum Schluss des Nibelungenlieds das Handeln und die Motivation der Figuren mitbestimmt.

V. Fazit

Ring und Gürtel Brünhilds lassen sich als Dinge verstehen, die ‚verflucht‘ sind, weil ihre eigentliche Zweckbestimmung überlagert wird von Bedeutungen, die ihnen anhaften: Ihr ‚Fluch‘ liegt in ihrer spezifischen Zeichenhaftigkeit. Gürtel und Ring haben eine Geschichte, die sie erzählen können; sie sind zeichenhafte Speicher der Erinnerung einer anderen, konkurrierenden Wirklichkeit. Obwohl kein Fluch ausgesprochen wird (wie beim Hort der Nibelungen), liegt doch eine deutliche Analogie vor: Mit der Weitergabe und dem Besitz der Dinge wird eine Präsenz wirkmächtig, die nicht zu kontrollieren ist. Ring und Gürtel Brünhilds sind damit Beispiele für Dinge, deren ‚Dinglichkeit‘ als Störung ihrer Zweckbestimmtheit in den Vordergrund tritt: Der Eigen-Sinn der Dinge wird sichtbar und wirkmächtig.

(Ich danke Maria Krümpelmann und Michael Ott für die umfassende Hilfe bei der schriftlichen Ausarbeitung des Vortrags)

Auswahlliteratur:
Appadurai, Arjun (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. 11. Aufl. Cambridge 2013 [zuerst 1986].
Böttner, Michaela / Lieb, Ludger / Vater, Christian / Witschel, Christian: 5300 Jahre Schrift. Heidelberg 2017.
Brown, Bill: Thing Theory. In: Critical Inquiry 28 (2001), S. 1–22.
Egidi, Margreth / Lieb, Ludger / Schnyder, Mireille / Wedell, Moritz (Hg.): Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin 2012 (= Philologische Studien und Quellen 240).
Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks. Mit einer Einführung v. Hans-Georg Gadamer. Stuttgart 2012 [zuerst 1935/36].
Kehnel, Annette / Panagiotópoulos, Diamantís (Hg.): Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften. Berlin/Boston 2014 (= Materiale Textkulturen 6).
Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Aus d. Franz. von Gustav Roßler. Berlin 1996 [zuerst 1993].
Lieb, Ludger: Spuren materialer Textkulturen. Neun Thesen zur höfischen Textualität im Spiegel textimmanenter Inschriften. In: Höfische Textualität. Festschrift für Peter Strohschneider. Hg. von Beate Kellner, Ludger Lieb und Stephan Müller unter Mitarbeit von Jan Hon und Pia Selmayr. Heidelberg 2015 (= GRM-Beiheft 69), S. 1–20.
Lieb, Ludger: Kann denn Schenken Sünde sein? Liebesgaben in Literatur und Kunst von Ovid bis zum Gothaer Liebespaar (um 1480). In: Geist und Geld. Hg. von Annette Kehnel. (= Wirtschaft und Kultur im Gespräch 1) Frankfurt am Main 2009, S. 185–218.
Lieb, Ludger / Wagner, Ricarda: Dead Writing Matters? Materiality and Presence in Medieval Narrations of Epitaphs. In: Berti, Irene u.a. (Hg.): Writing Matters: Presenting and Perceiving Monumental Texts in Ancient Mediterranean Culture. Berlin/München/Boston 2017 (= Materiale Textkulturen 14).
Meier, Thomas / Ott, Michael R. / Sauer, Rebecca (Hg.): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. Berlin/Boston/München 2015 (= Materiale Textkulturen 1).
Mühlherr, Anna / Sahm, Heike / Schausten, Monika / Quast, Bruno (Hg.): Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Berlin, Boston 2016 (= Literatur – Theorie – Geschichte 9).
Ott, Michael R. / Focken, Friedrich-Emanuel (Hg.): Metatexte. Berlin/Boston/München 2016 (= Materiale Textkulturen 15).
Schmid-Cadalbert, Christian: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur. Bern 1985 (= Bibliotheca Germanica 28).
Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller. 2. Aufl. Berlin/München/Boston 2015.