VOM SCHATZERLEBNIS
ZUM
ERLEBNISSCHATZ


Die Sagenstadt Worms und die Nibelungen


Ein Beitrag von Volker Gallé

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Hagendenkmal, Foto: Heinz Angermüller ...



In der dritten Aventiure des hochmittelalterlichen Nibelungenliedes erzählt Hagen dem Wormser Burgunderhof von Siegfried, der gerade angekommen ist und stürmisch die Macht beansprucht: „Die küenen Nibelunge sluoc des helden hant...Er vant von einem berge...bi Nibelunges horde vil manegen küenen man...Hort der Nibelunges der was gar getragen zu einem holen berge (Die Hand des Helden hat die tapfernen Nibelungen besiegt...Er fand vor einem Berg viele kühne Männer um den Hort der Nibelungen versammelt...Der Hort Nibelungs war nämlich aus einer Berghöhle herausgetragen worden.)“
Wenn es also um die Nibelungen geht, dann geht es um den Schatz, und wenn es um den Schatz geht, dann wird man zum Nibelungen, so wie die Burgunder nach dem Mord an Siegfried und dem Diebstahl des Schatzes durch Hagen. Mit dieser Schatzhypothek reisen sie dann an den Etzelhof und gehen an der Donau unter, ebenso wie der Schatz selbst bereits zuvor im Rhein. Die Nibelungenstadt Worms hat sich also – bereits vom Namen her – mit dem Schatz auseinanderzusetzen.
Wenn man über google nach dem Stichwort „Nibelungenschatz“ sucht, stößt man auf die Klassiker. Da ist einmal der 62-jährige Mainzer Schatzsucher Hans-Jörg Jacobi, der ebenso wie bereits sein Vater Hans – beide übrigens als Baufachleute in den Diensten der mit einem schwierigen kommunalen Etat ausgestatteten Stadt Mainz –, der also ebenso wie sein Vater Hans davon überzeugt ist, dass der Nibelungenschatz als realer Schatz aus Edelmetall und Schmuck bei Worms im Rhein vergraben liegt. Aufgrund der Rheinbegradigung vermutet er ihn mittlerweile allerdings an Land, und zwar zwischen Eich und Hamm. Bei einer öffentlichen Veranstaltung der VG Eich im September 2003 sagte er: „Ich glaube, ich weiß, wo der Schatz liegt. Ich muss ihn nur noch heben. Und das dürfte dann für viele eine größere Sensation sein als die erste Landung auf dem Mond.“ Damit dürften Eich und Hamm wohl auch einen Antrag auf Aufnahme in die AG der Nibelungenstädte stellen. Sie müssen allerdings mit dem Imagenachteil leben, dass der Volksmund einen anderen großen Schatzsucher der Region bereits hier am Altrhein dauerhaft beheimatet hat, nämlich den Räuberhauptmann Schinderhannes, der hier mehrfach über den Rhein übersetzte, um der französischen Militärpolizei zu entkommen. Der Volksmund erinnert daran mit dem Reim: „Zwische Eich unn Hamm kummen die Lumpe z’samm!“ Auch ein Internetforum namens „Hohle-Erde.de“ – möglicherweise ein Nachfolger der Hohlweltllehre, die zu den kuriosen Welterklärungstheorien der so genannten Inflationsheiligen der Weimarer Republik gehört und in der Alternativbewegung der 70er wieder Anhänger gefunden hat; auch dies hat beides in Worms Tradition – auch dieses Internetforum beschäftigt sich lang und breit mit dem Nibelungenschatz und spielt dabei eher mit europaweiten geografischen Möglichkeiten.

Dazu kommen ein in Schatztruhen abgepacktes Mandelgebäck des Wormser Cafés Schmerker und das Pauschalangebot „Drachenfieber“ für das 3. bis 7. Schuljahr der Jugendherberge Bad Honnef im Siebengebirge, in deren Nachbarschaft sich die 1912/13 zum Gedenken an Richard Wagner erbaute Nibelungenhalle von Königswinter und ein Reptilienzoo mit Drachenhöhle befinden. Im Baustein zum Drachenfels, der auch das Thema „Nibelungenschatz“ beinhaltet, „erlebt man Spannendes zur Erdgeschichte“.

Das ist mein Stichwort. Meine These ist, dass in der Siegfriedfigur mythisch der Übergang von der Steinzeit zur Eisenzeit symbolisiert und tradiert wird. Er ist Schmied und beherrscht als Drachentöter das Feuer, mit dem er die Erze, den Schatz der Erde, den Menschen dienstbar macht. Neben Alltagsgegenständen und Schmuck werden zunächst vor allem Waffen geschmiedet, die das Ausdifferenzieren der wohl eher mit flachen Hierarchien ausgestatteten Stammesgesellschaften in feudale Hierarchien motivierten. Die Machtkämpfe der an das Eisen und weitere Metallschätze gebundenen Krieger- und Königsdynastien sowie die daran gebundene Urangst des Feudalismus, der Untergang der Familie bedeute auch den Untergang des Staates, ist das Thema des Nibelungenliedes, bzw. das Thema aller Schatzmärchen bis heute, ob bei Wagners Spiegelung des rheinischen Kapitalismus in der von ihm neu bearbeiteten germanischen Götterwelt der Edda oder in der Yellow-Press und ihrer Dauerbeobachtung des Adels und der übrigen VIP-Gesellschaft. Die bürgerliche Welt hat sich kulturell die feudale Tarnkappe übergezogen und produziert sowohl in ihren Theaterbildern als auch in ihren Alltagsinszenierungen nach wie vor dieselben alten Geschichten der Eisen- bzw. Metallzeit. Die moderne Wissensgesellschaft hat in Begriffen wie flache Hierarchien, bzw. Projektorientierung und Szenen- bzw. Gruppenbildung oder in den Auseinander-setzungen über monopolistische oder freie Nutzung des Internets auf neue Weise den alten Konflikt demokratischer Utopien zum Glück wieder aufgenommen.

Der an der Berliner Humboldtuniverisät lehrende Literatur- und Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme hat dieses Szenario in seinem 1988 erschienenen Buch „Natur und Subjekt“ unter der Überschrift „Geheime Macht der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie“ zu beschreiben versucht: „Der Bergbau hatte im Mittelalter einen durchaus sakralen Charakter. Überwiegend herrschte eine theozentrische Interpretation von Montanwissen und –technik. Die Erze, Mineralien, Reichtümer der inneren Erde dokumentieren die magnalia dei.“ (S.68) „Magnalia dei“ sind die Großtaten Gottes – so nennt sich aber auch ein von 1727-30 in Braunschweig erschienenes Buch über den Bergbau. Böhme weiter: „Es sind vor allem die Bergleute selbst, die eine Sakralkultur des Montanbaus entwickeln, deren Spuren noch bei Novalis, Tieck, E.T.A.Hoffmann u.a. zu beobachten sind.“ Er meint damit Werke wie „Heinrich von Ofterdingen“ (Novalis) oder „Die Bergwerke von Falun“ (Hoffmann) und weist auch darauf hin, dass Novalis von 1797-99 in Freiberg Montanwissenschaft studiert und diesen Beruf auch ausgeübt hat. Die Romantik ist es schließlich auch, die das Nibelungenlied, zahlreiche Schatzgeschichten sowie den Märchen- und Sagenschatz überhaupt wiederentdeckt und populär gemacht hat. Von ihr stammt auch der Versuch der Wiederverzauberung der Welt durch Poesie, ein Vorläufer von Erlebnispädagogik und Eventmarketing sowie der heute neuentdeckten Sinnsuche und Spiritualität. Und sie hat versucht die doppelte, materielle und ideelle Bedeutung des Schatzbegriffs zumindest als Ambivalenz zu erhalten, einmal als realer Schatz und Symbol der Metallzeit und zum anderen als Schatz an Geschichte und Geschichten sowie als zu schätzende Welt der Seele, der Empfindung. Diese doppelte Bedeutung triftet heute mehr denn je auseinander. Und sie stellt auch das Problem aktueller Kultur- und Marketingkonzepte im Erlebnis- oder Eventbereich dar. Setzt man auf den „wahren Schatz“ der Stadtgeschichte, nämlich auf die Mythen, Märchen und Sagen, wie z.B. Auber/Hoge in ihrem Konzept des Nibelungenmuseums, ist dieses romantische Konzept erklärungsbedürftig (Stationen: Thema in den Bildern des Rütelin – Entfaltung des Themas in Seh- und Hörturm – Deutung auf individueller Ebene im Schatzraum mit bewegbaren Bildern unterm Stadtgrund), weil viele Besucher/innen – sowohl aus der Tradition bürgerlicher Museumskultur als auch wegen des durchweg materiell orientierten Alltagsdenkens – materiell verdichtete










Schatzraum mit
bewegten Bildern im
Nibelungenmuseum

Bild: Nibelungenmuseum
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Ausstellungsgegenstände und einen realen Schatz im Schatzraum erwarten. Es blüht ihnen dann eine ähnliche – wenn auch vielleicht pädagogisch sinnvolle Ent-Täuschung – wie Victor Hugo, der bei seiner Rheinreise 1838 die Sagenstadt Worms erwartete und ein verschlafenes Provinzstädtchen fand. Umgedreht stellen die Theoretiker des Stadtmarketing und der Trendforschung derzeit – wie z.B. bei einer Tagung der DZT letzte Woche in Stuttgart – fest, dass die Spaßgesellschaft an ihrem Ende sei und man zunehmend den Sinn im Erlebnis, im Event suche. Ergänzend muss natürlich hinzugefügt werden, dass es sich hier ohnehin um zielgruppenspezifische Verhaltensweisen handelt: Neben der rein materiellen Billigkultur „Geiz ist geil“ existiert die Kultur des Erlebniskaufs und eben jetzt auch die Sinnsuche, die Suche nach dem Echten, also etwa „echt geil“ oder?

Man kann also bei Stadtmarketing-Konzepten, die wie das der Stadt Worms mit Mitteln des Eventmarketing arbeiten, gleich mehrfach unterschiedliche Zielgruppen ansprechen und enttäuschen. Nun muss die mögliche Ent-Täuschung nicht nur als Problem aufgefasst, sondern sie kann auch als Chance entwickelt werden.

Hierzu mehrere Thesen:

1. Der Eventbegriff und seine begrifflichen Kinder sind nichts wirklich Neues. Da gibt es die Antike mit dem griechischen Theater und mit Brot-und-Spielen in Rom, das Mittelalter mit der Kultur der Spielleute und den Mysterienspielen, die frühe Neuzeit mit Shakespeare’s Wandertruppe oder der Commedia dell’arte und die Romantik mit Erlebnis, Erinnern, also Geschichte als Identitätssuche und Erzählen, heute: Storytelling. Dass wir uns das alles in Deutschland über den englischsprachigen Raum – scheinbar neu - wiederaneignen, ist kein Wunder, denn die Nazis haben uns Mythen, Emotionen und Spekulationen, ja, die ganze Kultur, mit Terror und Blut getränkt, das Ergebnis: Verdrängen, aus dem Weg Gehen, Seitenpfade Finden, eben Artus statt Nibelungen, Kelten statt Germanen, Storytelling statt Erzählen. So ist auch die Musuemsidee von Auber und Hoge einerseits neu und zukunftsorientiert, nämlich als virtuelles Literaturmuseum mit künstlerischen Inszenierungen, andrerseits ist die Grundkonzeption vom wahren Schatz, nämlich dem Wormser Sagenschatz keine französische Erfindung und auch keine, die ganz aus dem Heute kommt. Schon im Mittelalter und der frühen Neuzeit war Worms wegen zahlreicher Ursprungslegenden bekannt als sagenhafte Stadt – die Nibelungenliedgesellschaft hat sich z.B. im Rahmen eines Symposiums auch mit den Stadtmythen beschäftigt - und das neue, historistische Worms um 1900, das auch die Nibelungen wieder für sich entdeckte, benutzte das gleiche Muster. So schrieb z.B. 1889 Carl Muth, der spätere Herausgeber der vielbeachteten katholischen Kulturzeitschrift „Hochland“, zum Identität stiftenden Festhausbau, einem Vorläufer der heutigen Festspiele, folgendes Gedicht:

Schon viele, die sich mühten, das Rheingold zu erschaun,

sei’s wenn die Sternlein wandern, sei’s wenn die Wellen blaun,

sie haben nichts erfahren, kein Fischlein es verrieth,

und so blieb es Geheimnis, seit jener Sänger schied.

Doch heut ist es gelöset, das Rätsel stumm und tief,

vom Rheingold, das seit Jahren auf Rheinesgrunde schlief.

Es ragt an Rheines Ufer ein stolzer, kühner Bau,

der trägt des Rätsels Lösung gar herrlich euch zur Schau.

Es ist der Bürger Treue, der Bürger Einigkeit,

die gern zu einem Werke zu helfen all bereit;

denn stehen wir zusammen auf ein gegebnes Wort,

so haben wir gefunden der Nibelungen Hort.

2. Erinnern geschieht nicht nur über Geschichte, schon gar nicht nur über archäologisch ergrabene Artefakte, sondern auch über Geschichten. In den symbolischen Formen der Kultur werden Informationen der Weltdeutung tradiert. Eugen Drewermann z.B. schreibt in seinem Buch „Die Wahrheit der Formen“, ganz in der Tradition der Romantik (Hermeneutik: Wissenschaft vom Verstehen von Texten auch zum Verstehen von Welt überhaupt, siehe Dreischritt: Vorwissen, Erfahren, mehr wissen): „Eine typologische Hermeneutik der Geschichte verlangt eine archetypische Hermeneutik der menschlichen Psyche; nur unter der Voraussetzung, dass es vorgängig zum historischen Auftreten des Menschen bestimmte Gestalten des Erlebens und Vorstellens im Menschen gibt, in denen der Mensch sich selbst und die Welt wahrnimmt, können dem Menschen bestimmte Gestaltungen der Historie als Ausdruck und Sinnbild seines eigenen Wesens wiedererscheinen...Nur in den Archetypen und in den Gefühlen liegt das Einende und Verbindende zwischen den Kulturen und Religionen aller Zeiten und Zonen, während die Sprache, die Ratio, die Kategorientafel der moralischen Wertsetzungen sich als sehr zeitgebunden und voneinander getrennt erweist...Auf der Ebene der Archetypen allein zeigt sich wie in einer lingua franca aller Menschen die Gemeinsamkeit aller starken Gefühle von Freude und Traurigkeit, die Erfahrung von Geburt und Tod, Jugend und Alter, Krankheit und Heilung, die Empfindungen von Scham und Ekel, Liebe und Zärtlichkeit, die Tendenz zu Rangdemonstrationen und Revierverteidigung usw.“ (S.71) Das ist auch der Grund, warum wir das Nibelungenlied immer noch verstehen und warum uns diese Geschichte immer noch fasziniert. Einen Teil seines archetypischen Inhalts habe ich ja anfangs versucht im Schatzbegriff zu beschreiben. Die Ent-Täuschung ist in diesem Zusammenhang der notwenige kritische Schritt der Individualität zur eigenen Meinung und Perspektive, um aus der Form zum Sinn zu kommen.

3. In Worms geht es beim Inszenieren von Geschichte und Geschichten nicht in erster Linie um das Neu-Erfinden, aber auch nicht um das Dekonstruieren von Gewachsenem. Der Wormser Erlebnisschatz ist im Wissen der Menschen verankert, ob Nibelungenlied, bzw. –sage, Luthers „Hier stehe ich“ (das nicht historisch ist, aber den Kern trifft) oder die Legenden um Raschi und Warmaisa in der jüdischen Welt. Man kennt Worms auf der ganzen Welt, aber warum sollte man hinfahren? Und wenn man hinfährt, was will man erleben? In Worms sind die Sagen an Orte gebunden, die teilweise durch den Krieg vollkommen zerstört sind; das gilt aber auch für das Stadtbild als Ganzes. Deswegen müssen die Geschichten inszeniert werden, nicht nur in Museen und auf Bühnen, sondern auch im Stadtbild (Skulpturen, Bauentwicklung) und im kulturtouristischen Zusammenhang (Mittelaltermärkte, inszenierte Gästeführungen etc.). Ende der 20er Jahre hat der Wormser Schriftsteller Peter Bender anlässlich einer misslungenen Nibelungenwoche zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Inszenierungen unverwechselbar sein müssen: Hebbels Nibelungen könne man schließlich überall spielen, man müsse ja auch nicht nach Sevilla fahren, um den Barbier zu sehen. Das war der Grund, warum die Festspiele Moritz Rinke mit einem neuen Stück beauftragt haben, das war der Grund, warum man sich dabei vertraglich Exklusivität zusichern ließ. In diesem Jahr spielen wir dann doch den Hebbel, allerdings in einer Bearbeitung, die eigens von den Dramaturgen aus dem größeren und viel längeren Gesamtwerk herausgehauen wurde. Die Idee, neue Stücke in Auftrag zu geben, halte ich aber dennoch für zukunftsweisend. Da gibt es noch viele Möglichkeiten. Und auch die Idee, dass Worms eine Schaubühne von Nibelungeninszenierungen überhaupt wird. Allerdings muss auch darauf achten, die Besucher nicht mit der Penetrierung einer Marke zu vergraulen, die Frischzellenkur für das Programm liegt – wie oben gesagt – im Archetypischen, und da gibt es unausschöpfliche Variationsmöglichkeiten des feudalen Themas und seiner Form des Storytelling, des Erzählens, die den Zeitgeist treffen können.

Mit dem Eigenen hängt eng die Frage nach dem Echten zusammen, einmal allgemein,
indem Inszenierung – Ästhetik ist immer auch Schein – als Disneyland der materiellen
und/oder wissenschaftlichen Kultur gegenübergestellt wird, zum anderen im
Verhältnis von Image und Identität, also der Außen- und der Innensicht der Stadt. In
beiden Fällen zeigt sich, dass extreme Positionen weder wahr noch mehrheitsfähig
sind. Die Bürger, bzw. die verschiedenen Bürgergrupppen müssen die Form des
Dialogs wieder üben, auch in neuen Formen, z.B. vermittelt über kulturell orientierte
Zukunftswerkstätten, und dabei auch den Perspektivwechsel und den hermeneutischen
Ansatz, der im Fremden sowohl das Eigene als auch das Neue, Bereichernde
entdecken will. Ohne Kontroversen geht dieser Dialog nicht, und auch nicht ohne Ent-
Täuschung, aber er muss lösungsorientiert sein.

4. Ähnliches gilt für das Erzählen, das Storytelling. Hier geht es um literarische Formen, also z.B. die Trias Geheimnis, Ent-Täuschung, Wiederverzauberung. In fast allen literarischen Texten – und nicht nur im Kriminalroman – geht es um Demaskierung und Krise sowie neue Verschmelzungsphantasien. Dass das Nibelungenlied das Happy End, die Lösung, die Phantasie dem Leser so vollkommen überlässt, hat schon das mittelalterliche Publikum zur später angehängten Klage provoziert, ein gelungener und sehr moderner Kunstgriff des Autors. Das sollte man wissen, wenn man sich des Erzählens im Stadtmarketing bedient. Es geht dabei also tatsächlich um Stories und um immer wieder neues Erzählen – so wie im orientalischen Kaffeehaus von Rafik Schami – und eben nicht um die Penetrierung von Wort- und Bildmarken. Das ist auch der Grund, warum die Innenstädte für den Handel und hier insbesondere für die Center interessant werden. Sie können dort an den Stadt-Geschichten teilhaben, die schon da sind, schon Kulissen haben und eine Menge von Multiplikatoren mit einem ausgefeilten Repertoire. Das ist aber auch die Chance der Städte, sich in die Geschichten des Handels einzubringen. Auch hier geht es um die Kunst des Dialogs, denn nicht nur die Interessen von Stadt und Handel, bzw. Firma sind meist keineswegs deckungsgleich, es geht auch darum, aus den immer mehr auseinanderdriftenden Erzählungen der Bürgergruppen eine identitätstiftende Geschichte zu finden oder doch zumindest einen Ort, ein Forum, an dem alle oder doch zumindest die meisten Gruppen bereit sind, sich ihre Geschichten zu erzählen.

5. Die Rückkehr der Sinngebung: Ich habe schon angedeutet, dass eine rein kommerziell, eine rein touristische, eine auf eine Zielgruppe orientierte Marketingkonzeption ebenso scheitern muss wie ein institutionell begründetes Sinnangebot ohne Einbeziehung der Bürger, Kunden, Menschen. Wenn Räume der Stille, Philosophencafés, Gesprächszirkel etc. als neue Formen der Sinn-Gesellschaft sinnvoll sein sollen, dürfen sie sich weder esoterisch verschließen noch exoterisch herumplappern und Sinn simulieren. Sie müssen - als neue oder wieder neue Formen - die Begegnung, das Gespräch suchen, sich dafür Zeit nehmen und für neue, vielleicht ungewöhnlich Ergebnisse oder auch nur Teilergebnisse bereit sein. Das allein schon ist ein Erlebnis, ein Schatz heutzutage. Das Nibelungenlied deutet diese Kraftquelle in den einzelnen Menschen an, wenn es über die drei Könige sagt, „si wonten mit ir kraft“ in Worms. Nun, es geht immer noch darum, welcher Art diese Kraft ist, eigennützig und zerstörerisch oder gegenseitig und kreativ. In Worms sind wir hier zum wiederholten Mal in der Stadtgeschichte in der Probephase. Wir sind guten Mutes, jedenfalls immer mehr Wormser sehen das so, auch wenn der Ausgang offen ist und die Tradition der Stadt einen spöttisch-widerständigen Geschichts-pessimismus ins Strammbuch geschrieben hat. Der typische Wormser betrachtet die vorbeifahrenden Schiffe auf dem Rhein, die nicht anlegen und auf deren Decks sich die Fahrgäste wohlig sonnen, nickt dann weise mit dem Kopf und murmelt verhalten zum Nachbarn: Mol gugge, ob der widerkimmt! Ganz so, als sei er in allem nur Zuschauer. Dabei ist er schon längst in die Geschichte verwickelt.