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Tierwesen
im Nibelungenlied
und ihre Symbolik



von Dr. Ellen Bender

Illustration aus dem Rochester-Bestiarium, 13. Jh...

Moderne Romanautoren/innen bedienen sich gerne einer magischen Weltarena, wo Tiere nicht immer Tiere sind, wie z.B. Joanne K. Rowling in ihrem Drehbuch „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“. – Gilt das auch für mittelalterliche Erzählungen?
Tierwesen kommen in nahezu allen mittelalterlichen Epen vor. Ihre Bedeutung lässt sich im Einzelfall nur schwer erschließen. Wegen des unterschiedlichen Symbolgehalts bedarf es der literarischen und ikonografischen Ausdeutung des Zusammenhangs, in welchen die Tiere gestellt sind.
Zunächst zähle ich die Tierwesen im Nibelungenlied auf, analysiere dann ihre Funktion und Symbolik für den epischen Text, um den Blick auf diese Art von Bedeutungsträgern zu richten. Schließlich stellt sich die Frage, inwiefern die Tiersymbolik des Mittelalters das Figurenkonzept und den Heldenentwurf im Nibelungenlied beeinflusst.
Am häufigsten treffen wir in der Dichtung auf das Pferd (101 x), dann auf die Hunde (17 x), gefolgt vom Bär (16 x), vom Eber (8 x) und vom Löwen (6 x), dann Wisent und Auerochse (4 x), der Drache (3 x), Hirsch und schelch (2 x). Jeweils nur einmal spricht das NL vom Panther und vom Elch. 12 x fällt der Begriff ‚Wild‘ bzw. ‚Tier/e‘. Namenlose Vögel begegnen uns 4 x, der Falke wird 3 x in der 1. Aventiure genannt. Das Lied nennt auch je 1 x Adler und Kuckuck.

Diese Tiere lassen sich im Nibelungenlied drei Gruppen zuordnen:
I. Tiere, die den Handlungsträgern der erzählten Welt nutzen wie Pferde und Hunde. Was bedeutet ihre Symbolik, wie sie aus Antike, christlicher Tradition und Volksglauben überliefert ist, für den epischen Text? Welchen Stellenwert haben sie für die ritterlich-höfische Gesellschaft?
II. Tiere, die Siegfried als Protagonist der Handlung auf der Jagd besiegt. Welche Bedeutungskomponenten kommen ihnen zu?
III. Tiere in den Träumen und Wahrsagungen des Nibelungenlieds wie Falke, Adler, Eber, Vögel. Sie haben vorausdeutende und warnende Funktionen.
Hier noch eine Vorbemerkung zu dem Begriff Symbol. In der Literaturwissenschaft definiert man ein Symbol als ein sinnlich erfassbares, bildliches Zeichen, das auf eine Bedeutung in einem höheren, abstrakten Bereich verweist. Beispiel: Das Zeichen „Löwe“ verweist als geschriebenes auf das gesprochene Wort „Löwe“ als reales, sinnlich erfassbares, naturwissenschaftlich beschreibbares Tier. Dies konnotiert zahlreiche weitere Bedeutungen wie Königtum, Christus, Teufel, Mut, Kraft – in einem höheren, abstrakten Bereich. Die Konnotationen sind also die Bedeutungskomponenten eines sprachlichen Ausdrucks. Bei der Analyse der Textstellen im Nibelungenlied entfaltet sich für ein Zeichen wie „Löwe“ ein Spektrum möglicher Bedeutungen, die auf ihre Botschaft und ihre Konsensfähigkeit hin zu untersuchen sind.

I.
Tiere, die den Handlungsträgern der erzählten Welt nutzen wie Pferd und Hund. Was bedeutet ihre Symbolik für den epischen Text und welchen Stellenwert haben sie für die ritterlich-höfische Gesellschaft?

Pferd
An 101 Stellen des Nibelungenlieds wird das Pferd genannt. Die Pferde sind selbstverständliches Requisit in der höfisch-ritterlichen Welt, bevorzugtes Medium des Ortswechsels und Teil der ritterlichen (Kampf-)Ausrüstung.
Der Stellenwert des Pferdes für die mittelalterliche Adelsgesellschaft wird auch am hippologischen Wortschatz deutlich. Meistens ist mit dem mhd. Oberbegriff pfert (B, 1305,3; 1311,3) das leichte Reitpferd zum Ausritt für den Ritter und seinen Knappen gemeint; in Vers B, 571,1 des Nibelungenlieds dient es als Frauenpferd (frouwen pfert). Siegfried reitet auf einem Reisepferd, der mhd. moere nach Worms (B, 75,4; 76,3 etc.). Siegfrieds Reit- und Kampfpferd heißt mhd. ros/sen (76,1; 85,3 etc. insgesamt 70 x), in 723,3 nennt es der Dichter ors; das ros fungiert als Streitross (184,2; 185,1 etc.); manchmal auch mhd. marc (36,1). Ein schnelles ros reitet Siegfried auf der Jagd im Wald (934,3-4). Für den Transport von Gütern dient das Pferd als Lasttier: B, 314,2: 764,3f.; 778,4; 927,1. Das Lastpferd nennt man mhd. soum/er (B, 968,2; 1164,3; 1585,1; 1708,4 ) oder soumaere (B, 764,4; 1176,2 ; 1682,3). Lastpferde finden in der Dichtung 7 x Erwähnung. (Man benötigt z.B. 100 voll beladene Lastpferde, um das Gold und Silber der Mitgift von Rüdigers Tochter zu Die Pferde Siegfrieds und seiner Begleiter bei der Abreise nach Burgund sind mit rotem Gold reich geschmückt; sie dienen der höfischen Repräsentation (B, 68,1; 71,4; 75,4: 380,3); manchmal werden sie als wertvolles Geschenk überreicht (B, 27,4; 36,1; 41,2; 265,4 etc.).
Nach dem römischen Gelehrten Plinius (gest. 79 n. Chr.) zeichnen sich Pferde durch Gelehrigkeit und Treue zu ihren Herren aus.
Erst vor etwa 5.000 Jahren scheint der Mensch das Pferd zum Nutztier gemacht zu haben. Lange Zeit galt es als zu heilig, um vom Menschen bestiegen zu werden. In den alten Kulturen durften allein die Götter reiten. In der griechischen Mythologie reitet der Sonnengott Helios auf göttlichen Pferden, und in christlicher Tradition kündet das Buch der Offenbarung des Johannes davon, dass Christus auf einem weißen Pferd wiederkommen werde (Apok. 19, 11-14). Im frühen Christentum stieg das Pferd zum Träger von Reiterheiligen auf. In der bildenden Kunst werden die Drachentöter Ritter Georg, der Erzengel Michael und St. Victor als Reiter dargestellt.
Das Pferd hat ambivalente Bedeutungen. In der germanischen Mythologie bringt das Pferd die toten Krieger nach Walhall. Im Volksglauben reitet der Tod selbst auf einem Pferd. Erlkönig und Wilder Jäger preschen auf Rappen mit den Toten dahin. In der christlich-antiken wie in der germanisch-keltischen Tradition steht der Bezug des Pferdes zum Kampf und zur kriegerischen Auseinandersetzung im Vordergrund. Diese Bedeutung korrespondiert mit der Bedeutung des Pferdes für das Rittertum des Mittelalters. Durch den Einsatz des Streitrosses im Turnier wie im Kampf definiert dieses erst den Ritter (mhd. riter/ritter) als ‚Reiter‘, ‚Streiter zu Pferde‘, ‚Kämpfer‘. Der Terminus ritter erscheint im Nibelungenlied auffallend selten. Dennoch sehen sich die Helden des Epos als Ritter, im Austausch mit den Termini degen, helt, recke als ‚Held‘ bzw. ‚Krieger‘.
Am Hofe Etzels fehlt das Streitross. Am Etzelhof werden nämlich diu ros der Nibelungen zuo den herbergen gebracht (B, 1897,2-3). Dies ist die letzte Erwähnung der Pferde im NL. Bei den kriegerischen Auseinandersetzungen am Hofe Etzels kämpfen alle Ritter zu Fuß, die Pferde fehlen völlig. Zeigt das Fehlen der Pferde – wie weitgehend auch das Fehlen der Bezeichnung ritter – vielleicht die mangelnde Ritterschaft der Nibelungen und ihrer Gegner? Das Pferd ist das Symbol der ritterlichen Würde. Am Etzelhof aber zeigt sich in den Taten der Hunnen und Nibelungen ein Defizit an Ritterschaft. Denn ritterschaft lässt sich nicht mit dem Überfall auf die speisenden Knappen, nicht mit der Enthauptung eines unschuldigen Kindes oder mit dem Trinken des Blutes der Gefallenen vereinbaren. Die Kämpfe am Hofe Etzels sind zutiefst unritterlich.

(Jagd-)Hund
Wie das Pferd so sind auch die Jagdhunde notwendiges Requisit des Ritters zur Ausübung der höfischen Jagd. Treue und Gehorsam zeichnen den mhd. bracken (913,4) aus.
Die Jagd im Waskenwald (der Hs B) bzw. im Odenwald (der Hs C) wird geplant. Siegfried erbittet sich von Gunther hierfür einen suocheman, also einen Fährtensucher und ein paar Spürhunde, etelîchen bracken (B, 913,3f.). Männer und Hunde werden unter den Jägern aufgeteilt. Im Gegensatz zu den anderen Rittern jagt Siegfried nicht mit einer Meute, die das Wild stellt, sondern mit nur einem Spürhund. Siegfried genügt ein einziger Bracke für die Jagd (932,2; 933,1; 934,1; 936,1; 938,1; 939,3). Die übrige Jagdgesellschaft hetzt das Wild mit insgesamt 24 Hundekoppeln (B, 941,4), in Hs. C, 949,4 sind es sogar 34 Hunde. Der Spürhund Siegfrieds stöbert das Wild auf, das Siegfried dann allein erlegt. Er benötigt weder Hundemeute noch Ritterheer. Damit belegt er seine Einzigartigkeit wie sein Einzelgängertum bei Angriffen und Kämpfen.
Plinius betont die Treue und Klugheit des Hundes, der dem Menschen bei der Jagd dient. Wegen ihrer Treue und Wachsamkeit in Glaubensfragen werden die Dominikaner als ‚domini canes‘, „Hunde des Herrn“, bezeichnet. Etymologisch ist mhd. hunt, ‚Hund‘ mit dem griech. kyon und lat. canis verwandt. Durch die erste germanische Lautverschiebung wurde aus idg. /k/ germ. /h/, also canis >hunt. Bei Konrad von Megenberg ist der Hund ein gelehriges Tier, das das Haus seines Herrn bewacht. Der Hund ist seit der Antike Träger positiver und negativer Bedeutungen. In ikonografischen Darstellungen des Mittelalters erscheint er häufig zu Füßen des Menschen. In der Mythologie sind Hunde wachsame Begleiter der Gottheiten. Andererseits hüten schwarze Wildhunde oft das Geheimnis des Todes. Zerberus, der Höllenhund der griechischen Mythologie, wacht kampfbereit vor den Toren zum griechischen Hades, dem Totenreich. In altägyptischer Mythologie verschmelzen in dem hundsköpfigen schwarzen Anubis die Vorstellungen vom Götterboten, Wächter und Seelengeleiter durch die Nacht des Todes. In der germanischen Mythologie ist das Motiv des Höllenhundes ebenfalls bekannt: Garm genannt, bewacht er den Eingang von Hel, dem germanischen Reich der Toten. Im Volksglauben des deutschsprachigen Raumes erscheint der Teufel in der Gestalt eines schwarzen Hundes. Dieses Motiv benutzt Goethe in seinem ‚Faust‘, indem er seinen Mephisto in der Gestalt eines schwarzen Pudels auftreten lässt.

II.
Welche symbolische Bedeutung haben die Tierwesen, gegen die Siegfried kämpft und die er in wilder Jagd besiegt?

Drache
Anlässlich der Ankunft Siegfrieds am Hof der Burgunden wird Hagen zur Person des Fremden befragt. Hagen ist vertraut mit der Vita Siegfrieds. Er schildert den Drachenkampf (100,2-4):

„Einen Lindwurm hat der Held erschlagen.
Er badete sich in dem Blut. Da wurde seine Haut zu Horn.
Deshalb verletzt ihn keine Waffe. Das hat sich oft gezeigt.“

Der Drache und das Motiv des Drachenkampfes wird in den höfischen Epen des Mittelalters mit der gleichen Selbstverständlichkeit thematisiert, mit der andere, „reale“ Tiere Teil der Handlung sind.
Überall auf der Welt konstruieren Völker Mythen von Drachen, oft mit der Schlange austauschbar. Einer der ältesten Vorläufer ist das der sumerisch-babylonischen Mythologie entstammende Ungeheuer Mesopotamiens aus dem 3. Jahrtausend v. Chr., das die mütterliche Urmaterie verkörpert. Dieser weibliche Drache stellt sich als Zeichen des Bösen dem ordnenden Geist der Welt entgegen.-
Der Drache der Bibel hat verschiedene Vorgänger. In den antiken Schöpfungsmythen vollzieht sich die Schöpfung des Kosmos aus dem Urchaos durch die Besiegung des Chaosungeheuers oder des Drachen. Der Göttersohn überwindet das Chaos; er besiegt das dämonische Ungeheuer. Frühe Exegeten setzten den Drachen mit der alten Schlange des Paradieses gleich. Der Ursprung der negativen Bedeutungen des Drachen ist einerseits im biblischen Bild der Paradiesschlange, andererseits im schreckenerregenden Drachen der Apokalypse zu sehen. Der Drache der Bibel steht also für das Böse, den Teufel, den Widersacher des Schöpfergottes.
Die etymologische Analyse zeigt, dass eine klare Unterscheidung zwischen der Schlange und dem Drachen kaum möglich ist: Mhd. trache,‚Drache‘, ist von lat. draco bzw. griech. drakon entlehnt. Das mhd. lintrache verknüpft trache mit ahd./mhd. lint für ‚Schlange‘.
Plinius benutzt die Termini ‚Drache‘ und ‚Schlange‘ für ein und dasselbe Tier. In den Bestiarien wird der Drache als größte aller Schlangen beschrieben und dem Teufel gleichgesetzt. Nach Hildegard von Bingen ist der Drache Feind des Menschen.
Der für den Drachen auch übliche Begriff Wurm oder Lindwurm steht in engem Bezug zur Midgardschlange der germanischen Mythologie. Die Midgardschlange ist ein die Erde umschlingendes Meeresungeheuer und Feind der göttlichen Ordnung. Wo immer - episch wie mythologisch - in Antike und Mittelalter ein Drachenkampf geschildert wird, geht er letztlich auf die Überwindung des Chaosungeheuers zurück.
Im Nibelungenlied ist Siegfried der mythische Drachentöter, und der Kampf ist Zeichen für Mut und Stärke des Protagonisten. Durch den Kontakt mit dem Blut des überwundenen Ungeheuers erfährt Siegfried aber eine Wandlung. Zum einen: Er wird (fast) unverwundbar (durch die Haut von Horn). Zum andern stellt sich die Frage: Nimmt Siegfried durch das Eintauchen in das Drachenblut auch Eigenschaften des Tierwesens an? Mit Hilfe seiner Kampfkraft tötet er den Drachen. Und diese Kampfkraft ist es, mit der Siegfried den burgundischen Königen droht. Denn Siegfried will bei seinem ersten Auftritt in Worms um die Herrschaft über Burgund kämpfen. Er tritt als überheblicher Ländereroberer auf (B,
110,3-4) und fordert Gunther, den legitimen König, heraus. Er bedroht die rechtmäßig ererbte Herrschaft der Burgunden, indem er sich wie ein ungestümer, schreckenerregender „Drache“ gebärdet. Mit höfischer Diplomatie beschwichtigt man ihn. Er wird wieder zum Minneritter. -
Ist der Drache bzw. die Schlange überwiegend negativ konnotiert, so sind doch positive Bedeutungen möglich. Hier ist auf die apotropäische Funktion des Drachen hinzuweisen. So sollten die Drachen und Fratzen an den Fassaden der romanischen und gotischen Kathedralen des Mittelalters das Eindringen des Bösen in das Gebäude verhindern. Apotropäische Figuren finden wir auch am Wormser Dom. Von den Zwerchgallerien starren uns animalische Skulpturen in aggressiver Haltung an. Sollen sie warnen oder sind sie Ausdruck mittelalterlicher Angst vor dem Eindringen böser Mächte? – Bei dieser Interpretation hätte auch der „Drache“ Siegfried für den burgundischen Hof eine apotropäische Wirkung: Der Drachentöter und „Drache“ Siegfried schützt die Burgunden nämlich sehr wirkungsvoll vor dem Eindringen ihrer Feinde, der Sachsen und Dänen.

Nun zu den Tieren, die Siegfried auf der Jagd besiegt:
Bär, Eber, Löwe, Panther, Elch, Wisent, Auerochse, Hirsch und schelch.

Bär
Mhd. bern: B, 911,2; 916,4; 946,3; 946,4; 947,2; 948,1; 948,4; 949,2; 957,4; 958,3; 958,4; 959,1; 960,2; 961,2; 962,1; 962,4.
In der germanischen Mythologie steht der Bär in enger Beziehung zu den Göttern. Bis ins christliche Mittelalter hinein erhalten sich noch Reste germanischer Bärenverehrung. In der christlichen Tradition stehen die gefährlichen Eigenschaften des Bärs, Grimm und Wildheit, im Vordergrund.
Im Nibelungenlied wird eine Bärenjagd beschrieben. Nachdem der fingierte Feldzug abgesagt war, rät Hagen zu einer Jagd. Gunther erklärt: sô will ich jagen rîten bern unde swîn (B, 911,2f.) bzw. bern, swîn unde wîsende (B, 916,3f.) hin zem Waskenwalde (das wäre in den Vogesen). In Hs. C, 919,3 heißt es: zem Otenwalde. Siegfried schließt sich der Jagd an. Als sich die Jäger nach erfolgreicher Jagd sammeln, entdeckt Siegfried einen Bär, den er mit Hilfe seines Hundes fängt und bindet (947,2; 948,1). Zur Belustigung lässt er den Bär im Lager der Jagdgesellschaft frei. Das Tier gerät in die Küche und verursacht dort ein Chaos. König Gunther lässt die Hundemeute los, um den Bär zu jagen (960,3; 961,3; 962,1).

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Der Künstler Schmoll von Eisenwerth stellt in seinem Bild („Siegfried fesselt den Bären“) den wütenden Bär angriffslustig auf seine scharfkralligen Hintertatzen. Siegfried wagt sich mutig an das unberechenbare Tier heran und fesselt es an den Tatzen und am Maul.
Die Fähigkeit Siegfrieds, den gefährlichen Bär mit bloßen Händen zu fangen und zu fesseln, ohne selbst verletzt zu werden und ihn an seinem Sattel festzubinden, um ihn zum Zeitvertreib zur Feuerstelle zu bringen, diese abweichende Jagdmethode, belegt die Einzigartigkeit Siegfrieds und bezeugt seine Kraft und physische Überlegenheit – nicht nur über den starken Bär, sondern auch über die anderen Jäger der Jagdgesellschaft. Zu dieser zählen Gunther und Hagen, die versuchen, demselben Bär mit Hundemeute, Bogen und Speeren beizukommen. Sie reizen und hetzen ihn, und nun stürzt das Tier, wütend und von den bellenden Hunden getrieben, aus der Küche, um in den Wald zurück zu fliehen (962):

„Der Bär floh vor den Hunden
Ihm konnte niemand folgen außer Kriemhilds Mann.
Der holte ihn ein und tötete ihn mit dem Schwert.
Dann trug man den Bären zum Lager zurück.“

Der Bär der Jagd ist Zeichen für die kraftstrotzende Urnatur, für Mut, Zorn und Stärke. Sein Erscheinen beunruhigt die Jagdgesellschaft, den Leuten ist er unheimlich (C 966,4: ungemach). – Analog dazu erscheint Siegfried als Unheil verursachender Eindringling am Hof der Burgunden. Seine Überlegenheit macht ihn zur ständigen Bedrohung. Somit steht der einzelgängerische Bär als Symbol dann auch für Siegfried als unwillkommenen Gast in der burgundischen Gesellschaft. An dieser Stelle möchte ich an den Kuckuck (gouch) erinnern, den das Nibelungenlied in 867,1 erwähnt. Der Kuckuck ist ein unwillkommener Vogel, der seine Eier in fremde Nester legt und andere aus dem Nest drängt. Hagen bezeichnet Siegfried am Hof Gunthers als Kuckuck: „Sollen wir hier Kuckucke aufziehen?“ (867,1). Das mhd. Wort gouch für den Kuckuck bedeutet vieles, aber nichts Gutes: Bastard, Schelm, Außenseiter. - Zeus nahm einst die Gestalt eines zerzausten Kuckucks an, damit sich Hera seiner erbarme. Als sie ihn an ihren Busen drückte, schlüpfte er wieder in seine wahre Gestalt, warf alle anderen Götter aus dem Nest und übernahm das Zepter. – Auch Siegfried, der Eindringling von fremder Art, führt sich als Herausforderer ein: „ich wil an iu ertwingen, swaz ir muget hân,/lant unde bürge, daz sol mir werden undertân.“ (110,3-4). Den Burgunden körperlich überlegen, stellt er eine permanente Gefahr dar. Jederzeit könnte er die anderen Könige Gernot und Giselher aus ihrem rechtmäßig angestammten „Nest“ werfen und die burgundische Dynastie ablösen. Folglich ist es für die Sicherung der Herrschaft Gunthers notwendig, so argumentiert Hagen, Siegfried zu töten. Denn Siegfried ist in Worms ein Eindringling; er steht für einen gouch.

Eber
Mhd. eber ist von idg./lat. *apur abzuleiten und bezeichnet den Wildeber bzw. das Wildschwein. Im Nibelungenlied wird der Eber an acht Stellen genannt: swîn (B, 911,2; 916,3; 938,4); wildiu swîn (921,2); halpful = halpswuol (935,3); eber (938,1); eberswîn (1946,3); eber wilde (2001,3).
Bei der Jagd auf bern unde swîn ist das erste Beutetier, das Siegfried erlegt, ein vil starkez halpswuol (Hs. C: 943,3; Hs. B lässt hier eine Lücke), d.h. ein halberwachsenes Wildschwein. Kurz darauf wird Siegfried von einem Eber, den er in die Enge getrieben hat, angegriffen. Der Eber gilt als kampfwütiges, starkes Wild, das seine gefährlichen Eigenschaften besonders bei der Jagd entfaltet. Siegfried tötet den Eber mit seinem Schwert (938 f.) und zeigt so einmal mehr seine überragende Kampftüchtigkeit.
Bildliche Darstellungen der Eberjagd gibt es in großer Anzahl, angefangen beim Eber der Höhlenmalereien von Altamira in Kantabrien, Nordspanien (ca. 14.000 v. Chr.) bis zu den Darstellungen auf Steinfriesen, Fresken, Holzschnitzereien. Der mächtige walisische Eber Twrch Trwyth, den nicht einmal König Artus erlegen konnte, ist ein literarisches Zeugnis.
Nach Plinius zeichnet sich der Eber durch besondere Kampfeslust aus. Auch in den Bestiarien ist der Eber Zeichen der Wildheit. Nach Konrad von Megenberg ist der wilde Eber ein starkes Tier, grimmig und scharpf. Er ist das Zeichen der grimmen läut, der bösartigen, sündigen Menschen.

ff

In diesem Sinn ist vielleicht eine Szene im Jagdfries am Dom zu Königslutter zu deuten: Der Hund jagt, packt und verbeißt sich im dämonischen Eber, um - im biblischen Sinne - die Welt vom Bösen zu befreien?
Eber und Drache galten in der christlichen Mythologie als Symbol für das Böse, Dämonische, den Satan. Die christlich-biblische Tradition bezieht sich vor allem auf den aper de silva des Psalms 79,13 f. (80,14): Das Wildschwein aus dem Wald konnotiert den Zerstörer des Weinberges Israel bzw. der Kirche des Herrn. Nach christlicher Auffassung zeige sich in der Wildheit des Tieres die superbia, also der Übermut. Der Eber ist Zeichen des Kriegers. Er steht für männliche Angriffslust und Wildheit. In vielen künstlerischen und literarischen Entwürfen wird die Eberjagd gleichsam zu einem Initiationsritual für den jungen Helden. Der aus dem Dickicht des Unterholzes vorwärts stürmende und nicht zurückweichende, blindwütige Wildeber ist eine Herausforderung für den Jäger.
Im Nibelungenlied erhöht die Jagd auf den Eber den Ruhm Siegfrieds; sein müheloser Sieg über das Tier ist Zeichen seiner physischen Überlegenheit. Das Tier zeigt verbissene Gegenwehr wie die Nibelungen in den Schlachten am Etzelhof.
Dort werden nämlich Dankwart und Volker im Kampf als Eber bezeichnet, um ihre überlegene Kampfesweise zu charakterisieren. Beim Überfall der Hunnen auf die burgundischen Knappen zieht sich Dankwart kühn kämpfend zurück (dô gie er vor den vîenden, als ein eberswîn/ ze walde tuot vor hunden) (1946, 3f.). In der darauffolgenden Saalschlacht kämpft Volker wie ein eber wilde (2001,2f.).
(2001:)

„Weh über dieses Fest“, sagte der hohe König [Etzel].
„Da drin kämpft einer wie ein wilder Eber,
der heißt Volker und ist ein Spielmann.
Ich danke meinem Glück, dass ich dem Teufel entkam.“

Man muss sich aber vor einer Gleichsetzung Eber=Teufel=Volker hüten. Sollte ausgerechnet der Spielmann Volker vom Heiden Etzel verteufelt werden? Nein, dieser Ebervergleich meint den tüchtig kämpfenden Krieger und gehört nicht zur Tradition des zerstörerischen Ebers aus dem Walde im christlich-theologischen Sinn. „tiufel“ muss hier als derbe Kennzeichnung Volkers verstanden werden, wie etwa „Teufelskerl“.

Löwe
Der Löwe ist Sinnbild für Stärke, Kraft, Wachsamkeit – und er steht für königliche Majestät.
Der Physiologus berichtet, der Löwe (griech. leon) schlafe mit offenen Augen und wache. „So der Lewe slaeffet, siniu ougen er haltit offen, daz sculen wir suochen gescriben an den buochen.“ Liegt der Löwe auf einem Grabmal, so unterstreicht er die Hoffnung auf Auferstehung, denn „er wacht, selbst wenn er schläft“. Diese Aussage prägt vermutlich die Darstellung von Löwen als Wächter in der Romanik. In den Bestiarien gilt der Löwe als König und tapferste aller Tiere.
Im Nibelungenlied werden die Kämpfer Siegfried, Alberich und Wolfhart als Löwen bezeichnet oder mit Löwen verglichen. (B, 97,2; 2272 f.) Das verweist auf deren Tapferkeit und Kampfstärke, die so gefährlich werden kann wie das wilde Tier selbst. Denn unbeherrschte Emotionen und latente Aggressionen schreibt das Christentum dem Löwen ebenfalls zu.
Während der Jagd im Wald sieht Siegfried einen gewaltigen, ungevüegen lewen (935,4). Der Löwe (man beachte:„am Rhein“!) ist ein exotisches Tier, das den Jägern im Wald begegnet. Der Löwe, der heißblütige König der Tiere, steht zeichenhaft für den wilden, „heißblütigen“ König Siegfried, der allen Rittern überlegen ist. Der Löwe der Jagd wird von Siegfried mit Pfeil und Bogen getötet (936,3). Alle anderen Tiere tötet er mit seinem Schwert Balmung (935,2; 937,1; 939,1; 955; 962,3). Erlegt Siegfried einen Löwen, ist das die adäquate Jagdbeute für ihn. -
Etzels Stimme bei der Totenklage um seinen Lehnsmann Rüedeger gleicht der eines Löwen (2234,1-3). Sein Schmerz ist so groß, dass der mächtige König wie ein Löwe sein Wehgeschrei herausbrüllt. Das Brüllen ist Demonstration der Stimme des Herrschers in seinem tief aus der Seele kommenden Schmerz.

gg

Leopard/Panther
Beim Wettlauf zur Waldquelle (B, 972 ff.) laufen Hagen und Gunther mit Siegfried um die Wette wie zwei wildiu pantel (976,3), also wie zwei Panther durch das Gras; trotzdem siegt Siegfried.
Mhd. pantel von lat. panthera bezeichnet den Leoparden generell, dem man rasche Angriffslust und große Schnelligkeit nachsagt. Der Physiologus berichtet, der Panther sei „listich unde gefuoch“ (‚klug‘) und er stehe dem Drachen feindlich gegenüber. – Nach der Interpretation von Dirk Glogau (1993) verweise der Panther im Nibelungenlied auf die Schnelligkeit der Wettläufer Gunther und Hagen. Durch die Feindschaft zum Drachen - in Anlehnung an den Physiologus – erschienen sie als „Ritter Christi“ im Angriff auf den „Drachen“ Siegfried als den „potentiellen Usurpator ihrer Herrschaft“. Somit sei die Mordtat Hagens rechtens und kein unritterlicher Mord. Diese Deutung, die Hagen und Gunther mit Christusrittern gleichsetzt gegen einen Siegfried, in dem sich das Böse personifiziere, erweist sich als nicht konsensfähig.

Elch
Während der Jagd erlegt Siegfried unter anderem einen Elch (B, 937,1). Im Volksglauben wird dem Elch mit seinem großen Geweih eine apotropäische Wirkung zugesprochen.

Wisent und Auerochse
Das Wisent ist eine Wildrinderart, die inzwischen nur noch im Rothaargebirge und in Polen lebt. Das Wisent hat relativ kurze Hörner, eine zottige Mähne und einen erhöhten Rücken.
Im Nibelungenlied erschlägt Siegfried nahezu gleichzeitig mit dem Elch ein wisent, ‚Wisent‘ (937,1) und vier ûre, ‚Auerochsen‘ (937,2). Die Zahl vier ist eine symbolische Zahl, sie ist Zeichen für die von Gott geschaffene Welt und sie ist die Zahl des geordneten Kosmos (vier Elemente, vier Himmelsrichtungen, vier Jahreszeiten, vier Temperamente, vier Evangelisten, vier Kreuzesarme etc.) Die Zahl vier ist also ein Zeichen für die geordnete Vollständigkeit und bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Siegfried das ihm zugewiesene Revier vollständig leer jagt. So bitten die Jäger Siegfried, wenigstens ein paar Tiere am Leben zu lassen, sonst „leert ihr uns heute Berg und Wald “ (940,3). Denn die Jagd gleicht einer Schlacht. Alle Tiere müssen sterben: Dô muosen vil der tiere verliesen dâ daz leben (942,1). Gefährdet damit Siegfried die Ordnung des Reviers, so wie er die ordo der Herrschaft Gunthers gefährden könnte?
Noch an einer anderen Stelle des Nibelungenlieds ist vom Wisent die Rede, und zwar vom Horn des Wisents. Die Stimme Dietrichs von Bern gleicht nämlich dem Horn eines Wisents (1987,2: alsam ein wisentes horn), als er den Schlachtlärm am Etzelhof übertönt
(1987):

„Mächtig rief der große Held,
dass seine Stimme wie ein Wisenthorn ertönte
und die weite Burg von seiner Kraft erdröhnte.
Dietrichs Stärke war gewaltig.“

Die Stimme Dietrichs als Wisenthorn bezeichnet das Signal, mit dem er eine Kampfpause erwirkt. König Etzel, Kriemhild und Rüedeger nutzen dies zum freien Abzug aus dem Saal (1995). Die Stimme Dietrichs ertönt auch schon zuvor bei der Ankunft der Burgunden im Hunnenland (ab 1723 ff.; 1748) und signalisiert kommendes Unheil. Dietrichs Stimme konnotiert als Signal (in Analogie zu den Horn- bzw. Posaunenstößen der Apokalypse, die das Ende der Welt beschwören) den Untergang der Nibelungen.

Hirsch und schelch
Im Nibelungenlied werden Hirsch/Hinde sowie schelch nur einmal genannt. Während der Jagd erweist sich Siegfried als erfolgreichster Jäger, dem hirze oder hinden, ‚Hirsche oder Hirschkühe‘ (937,4) dank der Schnelligkeit seines Pferdes nicht entkommen können. Auf eben dieser Jagd tötet Siegfried einen grimmen schelch (937,2). Ursula Schulze übersetzt schelch mit grimmigen Hirsch (C, 945,2), andere mit Riesenhirsch, Wildhengst (Leonhard Franz), Elchbulle, Luchs.
Hirsch und Hinde sind die Wappentiere von Rhodos. Der Sage nach halfen diese schnellen und gewandten Tiere den Inselbewohnern von Rhodos einst beim Kampf gegen Schlangen, weshalb sie dort verehrt werden. Der Physiologus berichtet, dass der Hirsch erklärter Feind der Schlange sei. Auch in den Bestiarien wird der Hirsch als Feind der Schlange dargestellt. Konrad von Megenberg beschreibt in seinem Buch der Natur unter Berufung auf Plinius die Verjüngung des Hirsches. Der alte Hirsch nimmt durch seine Nasenlöcher Schlangen auf und frisst diese. Von deren Gift bekommt er Durst, läuft zu einem Brunnen und trinkt; hierdurch verjüngt er sich und gewinnt seine Kraft wieder. – Nach keltischer Mythologie weist der Hirsch den Verstorbenen den Weg in das Totenreich. Diese Bedeutungskomponente könnte auch im Nibelungenlied mitschwingen, wenn der Jäger Siegfried, der so viele Tiere getötet hat, dem Hirsch begegnet. Zeigt der Hirsch, der durch Siegfrieds Hand sterben muss, den Weg in das Reich der Toten? Ist er ein Wegweiser - auch für Siegfried?

III.
Tier-Mensch-Beziehungen können durch Träume symbolisiert sein. Im NL zeigen die Tierträume einen mythisch-magischen Charakter, indem den Protagonisten durch die Tiersymbolik ein Wissen um Zukünftiges im Traum gewährt wird.
Dreimal träumt Kriemhild im Nibelungenlied den Tod ihres Mannes. Zuerst töten zwei Adler ihren Falken, dann wird Siegfried von zwei Ebern über eine Wiese gejagt und zuletzt begraben zwei stürzende Berge ihn unter sich. Die Tierwesen in den Warnträumen sind Falke (B, 13,2; 14,3; 19,1), Adler (13,3), Eber und Vögel (1340,3; 1343,3; 1509,4; 1536,1).

Falke
Der Falke ist als ‚reales‘ Tier an den Höfen des Hochmittelalters ein wertvoller Beizvogel und damit höfisches Requisit der Jagd. Der Jäger trägt ihn auf der behandschuhten Faust an das zu bejagende Wild heran; dann wird der Beizvogel geworfen, damit er das Wild für seinen Herrn erbeutet. Dabei erweist sich der schnelle Vogel als ausgesprochen draufgängerisch.
Das Motiv des Falken verweist auf mythische Vorbilder in alten Kulturen. In der ägyptischen Mythologie erscheint der Sonnengott Horus, der die finsteren Mächte besiegt, in Gestalt eines Falken. Die Chefren-Pyramide zeigt den Pharao als Horusfalken, als „lebenden Horus“. In der slawischen Mythologie fungiert der Falke ähnlich wie im alten Ägypten als goldglänzende Gestalt der Sonne und des Lichts. Gold ist Symbol der Sonne. Der Falke steht für das Licht und die größte Wirkung der Sonne. Hier kommt die Lichtgestalt Siegfried ins Spiel. Denn seine Beziehung zum Gold und zur Sonne ist durch das Attribut des Nibelungenschatzes symbolisiert.-
In der ritterlichen Tradition steht der Jagdfalke als Zeichen für den königlichen Ritter von hohem Rang. Ist die Beizjagd als höfischer Zeitvertreib Zeichen des höfischen Lebens, so konnotiert sie insbesondere die höfische Minne. Denn der Falke ersetzt in der Minnedichtung oft den Liebhaber.
Im Traum vertreibt sich Kriemhild die Zeit mit der Zähmung eines schönen, starken, wilden Falken. Der Falke wird von zwei Adlern zerfleischt (13). Die Entschlüsselung des Traumsymbols durch Kriemhilds Mutter Uote lautet
(14,3 f.):

„Den Falken, den du zähmst, das ist ein hochgeborener Mann.
Wenn Gott ihn nicht beschützt, wirst Du ihn früh verlieren.“

Das Falkensymbol bezeichnet in dieser Vorausdeutung zum ersten Mal Siegfried am Hof zu Worms, den Mann, den Kriemhild später heiratet. Das Tiersymbol ‚Falke‘ verweist hier aber nicht nur auf einen Mann von königlicher Abkunft, sondern auch auf die Bedeutungskomponente ‚Geliebter‘, wie auch im slawischen Volkslied und im Falkenlied des Kürenbergers belegt. Und schon beim Kürenberger schwingt bei der Ausgestaltung des Symbols der Eindruck ungestümen Freiheitsdranges des Falken mit; dort heißt es: „er huop sich ûf vil hôhe und flouc in anderiu lant“ (1,4).- Das Ungestüme im Wesen Siegfrieds greift die Erzählung mehrfach auf. Denken wir nur an seinen aggressiven ersten Auftritt am Hof der Burgunden. Was Siegfried einlenken lässt, ist die Minne zu Kriemhild. Er wird durch die Minne zum willigen, dienstbereiten Minneritter, der volleclîch ein jâr in staete und höfischer Zucht ausharrt (138,2).
So steht der Falke zugleich als Zeichen für ein Männlichkeitsideal, das von den Werten höfischer Erziehung, der staete und der Frauenminne, geprägt ist (304). Siegfrieds gewaltige Kraft, seine außerordentliche Schönheit und sein überragender Kampfesmut (starc, scoen‘ und wilde) erscheinen in Kriemhilds Traum in einer neuartigen Funktion: als Idealbild und Wunschvorstellung, als seelische Projektion einer Frau, weil sie es ist, die den wilden Falken nach ihren Vorstellungen abträgt und formt. Das ist ganz neu in der Literatur des Mittelalters.
Das Minnegespräch deutet auf den durch die Liebe gezähmten ‚Falken‘ Siegfried voraus. Er erweist sich als der in Kriemhilds Vorstellung ideale Ehegatte, doch droht sein tragischer Verlust.
Denn es sind die zwei Adler, die den Falken töten.

Adler
Der Adler, mhd. ar, hat die Fähigkeit, sich mit Kraft und Ausdauer in die höchsten Höhen aufzuschwingen und mit scharfem Blick alles unter sich zu erfassen. Die Kelten hielten die Adler für die ältesten Tiere, ausgestattet mit dem Wissen über Vergangenheit und Zukunft. – So weiß auch der „Adler“ Hagen um den Untergang.-
Der Adler symbolisiert geistige Höhe, höchste Herrschaft durch höchste Sicht, kaiserliche Macht und Würde. Er ist der Vogel der Könige und neben dem Löwen kaiserliches Zeichen, z.B. der Staufer. Adler gehörten aber auch zu den Kriegsgöttern, zu Kampf und Sieg. Wie der Blitz schießt dieser kühne Räuber auf seine Beute bzw. sein Opfer herab. Die Vögel fliehen ihn, da er für sie Gefahr bedeutet. Der Adler übertrifft den Falken an Größe und Stärke. Als größerer, majestätischerer Vogel gegenüber dem Falken, dem Zeichen Siegfrieds, symbolisiert der Adler den vermeintlich höheren Rang Gunthers - wie Brünhild glaubt - und er symbolisiert die Gefahr, die von Gunther und Hagen ausgeht.
In ihrem zweiten prophetischen Traum sieht Kriemhild den Eberjäger Siegfried als den jetzt von zwei Ebern Gejagten. Daraufhin versucht sie, Siegfried von der Jagd abzuhalten
(921, 1-3):

„Verzichtet auf Eure Jagd!
Mir träumte Schlimmes letzte Nacht, wie Euch zwei Eber
übers Feld jagten und sich dort Blumen röteten.“

Die Vorausdeutung des Ebertraums wird sich erfüllen. Der Ausgang der Mordjagd macht die Deutung der Eber sicher: Die beiden Eber von Kriemhilds Warntraum symbolisieren Hagen und Gunther, die Mörder Siegfrieds. Nach dieser Auffassung stehen Hagen und die Seinen unter dem Zeichen des Ebers. Hagen ist dann der Feind, der Dämon in Ebergestalt. Hierzu meint Bert Nagel (1970): Auf der noch mythischen Stufe der Siegfriedsage seien Hagen und der Eber eins gewesen; erst im Zuge der Heroisierung seien sie auseinander getreten. Im Gegensatz Siegfried-Hagen spiegle sich das feindliche Verhältnis Gott-Eber. Und wie Siegfried in der strahlenden Helle des Göttersohnes verblieb, so bewahrte Hagen die finster dämonischen Züge des ebergestaltigen Gegengottes. – Die Mordanklage Grimhilds in der Thidrekssaga: „Derselbige Eber bist zu gewesen, Högni, und niemand sonst“ mag deshalb diese mythische Deutung bestätigen. -
Siegfried wird an einem lieblichen Naturort an einer Quelle gemordet. Die Idylle wird durch die Tat besudelt. Das Blut Siegfrieds fließt über die Blumen (B, 998,1): Die bluomen allenthalben von bluote wurden naz: eine Darstellung mit symbolischer Einfärbung. Ist das Blut des sterbenden Siegfried eine Präfiguration der ungeheuren Blutströme in der Vernichtungsschlacht am Etzelhof?

gg

Die Vögel in Uotes Traum und die Meerfrauen als Vögel.
An zwei Textstellen warnen „namenlose“ Vögel im Nibelungenlied.
1. In der Nacht vor der Abreise der Burgunden verweisen die toten Vögel in Uotes Traum auf ein furchtbares Unglück.
2. Die Meerfrauen an der Donau, die wie Vögel auf dem Wasser schweben, warnen vor der todbringenden Reise in Etzels Land.
Die Fähigkeit der Vögel, sich in den Himmel aufzuschwingen, erinnert in allen Kulturen an Transzendenz und Losgelöstheit. Die Vögel beeindrucken durch ihre Fähigkeit, sich gleichermaßen auf dem Wasser, auf der Erde und in der Luft zu bewegen. So spielen sie Bote zwischen den Elementen des Seins. Schon früh glaubte man an die prophetische Fähigkeit von Vögeln. Eine warnende Funktion haben die Vögel, die Uote tot im Traum sieht
(1509, 3-4):

„mir ist getroumet hînte von angestlîcher nôt,
wie allez diz gevügele in disem lande waere tôt.“

„Ihr sollt hierbleiben, tapfere Helden (1509,2).

Ich habe heute Nacht Schreckliches geträumt: es wären hier im Land alle Vögel tot.“ allez diz gevügele (B,1509,4) bezieht sich auf die Burgunden bzw. Nibelungen. Das Sterben der Vögel des Landes im vorausdeutenden Traum Uotes konnotiert also den Untergang der Nibelungen.
Das Zeichen ‚Vogel‘ verbindet diese Untergangsprophezeiung auch mit den Weissagungen der Meerfrauen. Denn in der Bewegung des Schwebens trifft Hagen die Wasserfrauen an, die er beim Bad in der Donau überrascht. Sie swebten sam die vogele vor im ûf der vluot (B,1536,1); die Meerfrauen werden hier folglich mit Wasservögeln verglichen. Ihr Schweben bedeutet Leichtigkeit; diese Wesen sind der Schwere nicht unterworfen. Sie warnen Hagen und sagen ihm den Untergang der Nibelungen voraus (1539 ff.). Hagen, eine Figur mit mythischer Dimension, vertraut den seherischen Fähigkeiten der vogelähnlichen Frauen und ihren Weissagungen. Denn auch in der germanischen Mythologie wird Meerfrauen die Gabe der Prophetie zugesprochen.

Die Symbolik der Tierwesen im Nibelungenlied birgt eine Fülle von Botschaften. Die Bibel, Mythen aller Kulturen und kosmologische Erklärungen bieten mehrere Bedeutungsebenen an. Durch den Kontext der Dichtung gelingt es, konsensfähige Bedeutungskomponenten des jeweiligen Symbols zu erarbeiten. Eine vermutete Tierbedeutung darf eben nicht im Widerspruch zum Sinn des Ganzen stehen.
Im Nibelungenlied symbolisieren die Tiere der Jagd Mut, Kraft, Stärke, genau die Eigenschaften, die den einzigartigen Kämpfer Siegfried auszeichnen, der sie besiegt. Insgesamt sind diese Tiere Zeichen für Siegfrieds Überlegenheit. - Siegfrieds Blutbad unter den Tieren präfiguriert aber zugleich die blutigen Kämpfe am Etzelhof, als deren Ursache die Ermordung des Helden genannt wird: „durch sîn eines sterben starp vil maneger muoter kint.“ (19,4). In den Warnträumen weisen auch die Vögel, „die Tiere, die den höchsten Geist“ symbolisieren und denen die Gabe der Prophetie zugesprochen wird, auf den großen Mord voraus. So ist der Falkentraum Ausdruck für die Hochzeit wie den Tod. Diese ausdrucksstarke symbolische Darstellungskunst des Dichters prägt von Anfang an das pessimistische Weltgefühl der Nibelungen, dass nämlich Glück zuletzt in Leid endet: wie liebe mit leide ze jungest lônen kan (17,3).


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