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liedzeit
Wenn
die Frauen
von Bechelaren erzählen…


von Dr. Ellen Bender

Giselher und Dietlind, Franz Stassen, 1929..

Die Frauenfiguren nehmen im Nibelungenlied eine bemerkenswert zentrale Stellung ein, auch die Nebenfiguren wie die Frauen von Bechelaren, die eine hohe Gastkultur pflegen. Im Hinblick auf die Mittelpunktgestalt Kriemhild kann die eine oder andere weibliche Nebenrolle als Spiegelung von Komponenten des Kriemhildbildes betrachtet werden oder aber greift Aspekte auf, die sie ins Abseits katapultieren. Akzeptanz und Ausgrenzung lässt sich an den Frauen von Bechelaren festmachen.
Schon die Situation des Markgrafen Rüdiger ist im Nibelungenlied ambivalent gezeichnet. Rüdiger von Bechelaren ist zwar am Hunnenhof – auf narrativer Ebene - der erste Berater des Weltherrschers Etzel, der mächtigste Lehnsmann des hunnischen Königs, er ist aber Nicht-Hunne und bezeichnet sich selbst als fremd und heimatlos. Er gehört nur aufgrund der Gnade Etzels zum hunnischen Herrschaftsverband, und es scheint nicht so, dass er sich damit identifiziert. Er ist Etzel zu Diensten und macht sich dadurch unentbehrlich. „Rüedegêr, der guote“, ist immer darum bemüht, mit aller Welt gut‘ Freund zu sein. Da er aber durch Gastfreundschaft und Heiratspolitik mit den Burgunden in eine enge Beziehung tritt, kommt es zu Überschneidungen. Er gerät in einen Konflikt zwischen Lehns- und Freundestreue, an dem er schließlich scheitert.
Noch stärker sind seine Frau und Tochter den machtpolitischen Verhältnissen ausgesetzt. Deshalb werden sie in der Forschung kaum beachtet und „aus der nibelungischen Welt ausgeschlossen“. Sie stehen beispielhaft für eine „minderprivilegierte Gruppe“, deren „gesteigerte Diskriminierung“ Regina Toepfer im Nibelungenepos und vor allem in Thea von Harbous Nibelungenbuch und Fritz Langs Nibelungenfilm dargestellt hat, - obwohl doch der Dichter des Nibelungenlieds „ihre Rollen detailreich gestaltet“ habe.
Diese Rollen der weiblichen Figuren am Hof von Bechelaren gilt es im Folgenden zu beleuchten, wobei auch die Hebbel-Rezeption und, allerdings nur am Rande, die Adaption durch Dieter Wedel 2014 in den Blick genommen werden sollen.

I. Familienzusammenhalt in Bechelaren
Der Hof in Bechelaren lebt wesentlich von der Präsenz Gotelinds und ihrer Tochter. Er stellt sich als eine Oase höfischer Gastfreundschaft dar und als eine Sphäre starker Frauen – anders als in Worms, wo nach Siegfrieds Tod Ute und Brünhild aus dem Blickfeld nahezu verschwinden. Die Vaterfigur Rüdiger, seine Frau und ihre gemeinsame Tochter bilden den emotionalen Mittelpunkt des Bechelarener Lebens, das vom vorbildlichen familiären Zusammenhalt geprägt ist. Die Ehe Gotelinds mit Rüdiger wird als harmonische Beziehung dargestellt.
Mehrfach verweist der Erzähler auf Rüdigers Gedanken an seine Frau. Als er als Bote nach Worms ziehen soll, um für Etzel um Kriemhild zu werben, unterrichtet er zuvor erst seine Frau Gotelind. Sie wird auf diese Weise in die Handlung eingeführt (B,1159). Sie reagiert auf die geplante Brautwerbung mit gemischten Gefühlen: trûrec unde hêr, traurig und stolz zugleich (1160). Der Erzähler gibt einen Einblick in das Innere der Figur. Ihr Stolz lässt sich mit der ehrenvollen Beauftragung ihres Mannes erklären. Ihre Trauer gilt Helche, der verstorbenen Frau Etzels, der sie voller Liebe zugetan war. Sie fürchtet eine Neuordnung der Machtverhältnisse und fragt sich, ob sie wohl wieder eine derartige Herrscherin bekommen werde:
„Er sagt, er wolle für den König um eine Frau werben. -
Ich aber denke an die gute Helche.
Ach, es tut mir so weh!
Ich muss weinen bei dem Gedanken,
ob ich noch einmal eine solche Herrin bekomme,
wie ich früher eine hatte.“
(B, 1161)
Die Ankunft Rüdigers in Bechelaren bringt familiäre Freude. Die zweite Frauenfigur tritt auf. Die Tochter begrüßt freudig den Vater und seine Begleiter:
„Nû sî uns grôze willekomen
mîn vater und sîne man!“
(B, 1167,1).
Die Tochter hat keinen eigenen Namen. Warum? Die ‚Klage‘ nennt sie Dietlind (KL, 2700), Friedrich Hebbel nennt sie Gudrun. Die Namenlosigkeit erstaunt umso mehr, als der Tochter mit fortschreitender Handlung durchaus Bedeutung zukommt.
In einem ehelichen Bettgespräch, dô si des nahtes nâhen bî Rüedegêren lac (1168 ff.), fragt Gotelind ihren Gemahl, wohin ihn der Hunnenkönig Etzel zur Brautwerbung schicken wolle. Sie erfährt seine Handlungsabsichten:
„Zum Rhein werde ich reiten und
um Kriemhild werben.
Die soll hier im Hunnenland Herrscherin sein.“
(B, 1169,3-4)
„Wollte Gott, dass es dazu käme!
Nachdem wir so viel Gutes von ihr gehört haben,
ersetzt sie uns vielleicht die frühere Herrin,
so dass wir aufhören, um sie zu trauern.
Auch sollten wir uns freuen,
wenn Kriemhild im Hunnenland die Krone tragen würde.“
(C, 1193)
Gotelind drückt ein weiteres Mal die Hoffnung aus, Kriemhild möge ihr Helches Verlust ersetzen können. Gotelinds Teilhabe an Rüdigers Plänen attestiert ihr weibliche Handlungskompetenz. Sie bezieht ihre Souveränität aus ihrer hohen Abstammung und ihrem Status als Ehefrau in einer gut funktionierenden Ehe. Das Bettgespräch zeigt die intensive Verbindung der Ehepartner, und zwar kontrastierend zu den Bettgesprächen Brünhilds mit Gunther (724-731) sowie Kriemhilds mit Etzel (1397-1404), in denen die Partner Nebenabsichten verfolgen - wie die der betrügerischen, hinterlistigen Einladung der Nibelungen.
Auf Bitte Rüdigers stattet Gotelind seine Begleiter mit kostbaren Kleidern für die Werbungsreise aus. Die Szene verweist auf die Brautwerbungsepisoden im ersten Teil des Epos, als Sieglind ihren Sohn Siegfried für die Reise nach Worms ausstattet und später, als Kriemhild die Gewänder der Könige für die Reise zu Brünhild nach Island selbst zuschneidet. Die praktischen Vorbereitungen, die Gotelind mit vlîze, also mit Eifer, trifft, betonen ihre Bedeutung als Stellvertreterin der verstorbenen Herrscherin. Ihr sind wichtige höfische Aufgaben übertragen:
„Ach, bringt mir die kostbaren Stoffe aus der Kammer,
damit ich den Recken reichlich geben kann.
Wir werden sie von Kopf bis Fuß sorgfältig einkleiden.“
(C, 1196, 1-3)
Gotelind, diu rîche, die Mächtige zeigt hier ihre Qualitäten und nimmt bei Vakanz der Herrscherin-Position die Rolle der ranghöchsten Dame ein. Der Name Gote-lind verweist auf die gotische Herkunft ihres Stammes. Sie ist eine Cousine Dietrichs von Bern. Die Bedeutung der Markgräfin wird später auch von Hagen betont, als er Rüdiger, recht ungewöhnlich, als „Gemahl der schönen Gotelind“ bezeichnet: „der schoenen Gotelinde man“ (B, 1189,4).

II. Kriemhild in Bechelaren.
Akzeptanz der Markgräfin und ihrer Tochter.
Bei Kriemhilds Brautzug ins Hunnenland kommt zuerst die Markgräfin mit der neuen Herrin zusammen. Rüdiger benachrichtigt sie vom Einzug Kriemhilds und bittet sie, der Königin entgegen zu reiten (B, 1300 f.) Das freudige Zusammentreffen von Markgraf und -gräfin erweist sich als Bestätigung ihrer innigen Gender-Gemeinschaft. Beim Empfang auf dem Feld bei Enns kommt es zur Begegnung Kriemhilds und Gotelinds. Erneut übernimmt Gotelind wichtige höfische Herrschafts- und Repräsentationsaufgaben. Die umstehenden Ritter zeigen sich bemüht, den Damen zu Diensten zu sein.
Bischof Pilgrim von Passau selbst stellt seine Nichte Kriemhild der Markgräfin offiziell vor, nachdem sich die Königin aus dem Sattel hat heben lassen, um Gotelind auf Augenhöhe zu begegnen. Die beiden Frauen küssen sich höfischem Zeremoniell entsprechend auf den Mund: dô kuste diu ellende an der Gotelinden munt (1312,4). - Der Erzähler bezeichnet Kriemhild als diu ellende, die Heimatlose (B, 1312,4; C, 1339,4), Landfremde. Zwei Frauen, bis dahin einander fremd, begrüßen sich mit großem gegenseitigem Respekt.
Doch lassen wir die Frauen selbst erzählen:
Gotelind:
„Wohl mir, liebe Herrin, dass ich Euch schöne Frau
Mit eigenen Augen hier sehe!
Ich wüsste mir nichts Lieberes in diesen Tagen.“
(1313, 2-4).
Kriemhild:
„Lohn‘ es Euch Gott, hochgeborene Gotelind!
Wenn ich und der Sohn Botelungs [= Etzel] am Leben bleiben,
wird es Euer Glück sein, dass Ihr mich gesehen habt.“
(1314, 1-3).
Gotelind würdigt Kriemhilds Schönheit (iuweren schoenen lîp), diese wiederum die adlige Abstammung der Markgräfin (vil edeliu Gotelind) – jede mit freundlicher Akzeptanz der anderen.
Die beiden Damen lassen sich gemeinsam auf der Wiese nieder, man schenkt ihnen ein, sie werden schnell miteinander vertraut. Kriemhild verspricht Gotelind, ihre Liebenswürdigkeit werde ihr später zugutekommen. Der abschließende Erzählerkommentar (in beiden was unkünde daz sider muose geschehen) (B, 1314,4) indiziert die tragische Ironie der Worte Kriemhilds, denn der versprochene „Lohn“ („Nû lôn iu got“) wird darin bestehen, dass die Markgräfin ihretwillen zur Witwe werden wird.
In Bechelaren begrüßt auch Gotelinds Tochter mit ihrem Gefolge die Königin. Die Mutter ist zugegen. Der freundliche Empfang zeigt sich darin, dass sich die Damen an der Hand fassen, gemeinsam in den Palas gehen, unter dem die Donau fließt und sich an einem luftigen Plätzchen bestens unterhalten. Sie verstehen einander und tauschen kostbare Geschenke aus. Kriemhild beschenkt die Tochter Gotelinds mit zwölf rotgoldenen Armreifen und ihrem schönsten Kleid, Gotelind beschenkt die Gäste vom Rhein mit Edelsteinen und Prachtgewändern. Beide Damen beweisen nach allen Seiten hin ihre Großzügigkeit und scheinen in ihrem freigebigen Verhalten gleichgestellt. Kriemhilds Vorgehen dient als Beweis ihrer herrschaftlichen milte. Außerdem ist sie bestrebt, sich in der Fremde neue Freunde und Verbündete zu verschaffen, die ihr Anerkennung zollen:
alle di si gesâhen, die machte si ir holt
noch mit dem kleinen guote, daz si dâ mohte hân
Alle, die sie sahen, machte sie sich geneigt
mit dem kleinen Besitz, der ihr noch geblieben war.
(B, 1323,2-3)
Bei der Abreise ist Kriemhilds Abschied von der jungen Markgräfin ganz besonders herzlich. Nach Gotelinds Treueversprechen äußert die Markgrafentochter den Wunsch, zu Kriemhild an den Hunnenhof zu kommen und ihr als Hofdame zu dienen im Einverständnis mit ihrem Vater Rüdiger und – „wenn Ihr den Plan gutheißt“. Dies akzeptiert Kriemhild als triuwe-Beweis der jungen Dame:
„swenne iuch nu dunket guot,
ich weiz wol, daz iz gerne mîn lieber vater tuot,
daz er mich z’iu sendet in der Hiunen lant.“
Daz si ir getriuwe waere, vil wol daz Kriemhilt ervant
„Wenn es Euch recht ist,
schickt mein lieber Vater mich gewiss
gerne zu Euch ins Land der Hunnen.“
Kriemhild bemerkte sofort, dass sie ihr treu ergeben war.
(B, 1326)
Doch erweist sich ihre Dienstbereitschaft als wirkungslos. Sie bleibt in der Obhut ihrer Mutter und am Hof in Bechelaren, während Rüdiger Kriemhild weiter nach Österreich hinein geleitet und sie in Tulln Etzel entgegenführt.
Beim Vergleich der beiden Tochter-Szenen, dem Auftreten vor Kriemhild und der späteren Verlobung mit Giselher fällt auf, dass die junge Frau hier einen eigenen Willen zeigt, sich mit Worten klar äußert und ihren Dienst anbietet, während sie 13 Jahre danach bei der Verlobung verschüchtert und schweigsam dem Vater Gehorsam leistet. Der Nibelungendichter zeigt die Markgrafentochter zwar als eigenständige Figur, aber mit begrenztem Handlungsspielraum. Ihr Auftreten scheint nur gesichert, solange es von ihrem Vater-Vormund sanktioniert wird.

III. Letzte Einkehr der Burgunden in Bechelaren.
Die Markgrafentocher als Gastgeschenk.

Die Frauen von Bechelaren bleiben aus der weiteren Handlung der 13 Herrschaftsjahre Kriemhilds bei den Hunnen ausgegrenzt –, bis Etzel die Burgunden an seinen Hof einlädt.
Rüdiger bittet erneut seine Frau um einen höfischen Empfang und erteilt genaue Anweisungen, wen sie und ihre Tochter mit einem Begrüßungskuss auszeichnen sollen: die drei Könige, Hagen, Dankwart und Volker. Die Frauen putzen sich heraus, frisieren sich mit schimmernden Bändern aus Gold und Kränzen im Haar. Bechelaren erweist sich noch einmal als Idyll höfischer Lebensfreude (1650 ff.). Der Fokus liegt auf der Tochter. Die Schönheit der jungen Markgräfin beeindruckt die Gäste, Edelsteine funkeln, farbige Gewänder leuchten. Sie gehen den Rittern entgegen:
„So hohe Herren hatten wir noch nie in Bechelaren“!
Analog zu Utes Auftreten mit Kriemhild – einst am Hof in Worms – zeigt das Nibelungenlied Gotelind in der Rolle der formvollendeten höfischen Gastgeberin mit der Tochter an ihrer Seite, die den Rittern entgegentreten und ihnen einen Begrüßungskuss geben soll.
Mit ihrer „Willkommenskultur“ beeindrucken die Frauen von Bechelaren die Gäste – und dies auch in der Rezeption der Dichtung bei Friedrich Hebbel und Dieter Wedel. Hingegen werden sie bei Thea von Harbou und Fritz Lang in Nibelungenbuch und -film an den Rand gedrängt oder sogar eliminiert.
Bei Dieter Wedel treffen wir auf neu erfundene Elemente und auf eine erotische Orgie am Hof von Bechelaren: „Hebbels Nibelungen - born this way“, 2014. Da sind es die Nibelungen, die den Krieg ins Land tragen. Sie werden als tumbe, kriegswütige Teutonen vorgeführt, die sich nur bei Blasmusik, Schnitzel und Bier wohlfühlen, operettenhaft inszeniert.Schauen wir auf die Szene des Empfangs der Burgunden bei Friedrich Hebbel (‚Kriemhilds Rache‘, 2. Akt, 3. Szene):
Götelinde und Gudrun sind hier die Namen von Mutter und Tochter.
Gudrun: „Welche muss ich küssen, Mutter?“
Götelinde: „Die Kön’ge und den Tronjer. –
Tritt her zu mir, Gudrun, was zögerst du?
So edlen Gästen dürfen wir uns nicht
Gleichgültig zeigen.“
Gudrun: „Mutter, sieh doch den,
Den Blassen mit den hohlen Totenaugen,
Der hat’s gewiss getan?“
Götelinde: „Was denn getan?“
Gudrun: „Die arme Königin! Sie war doch gar
Nicht lustig auf der Hochzeit.“
Götelinde: „Was verstehst
Denn du davon? Du bist ja eingeschlafen,
Bevor sie’s werden konnte“ –
Gudrun: „Es fiel mir ja nur ein,
Als ich – Schreit auf. Da ist er!“Zurück zum Nibelungenlied.
Vor Hagen, dessen Anblick ihr Grauen einflößt, erschrickt die Tochter, bleich unde rôt (B, 1666,2). Sie begehrt auf. Doch der Vater befiehlt ihr, den Mann zu küssen. Vater Rüdiger ist es, der ihren Handlungsspielraum absteckt! Notgedrungen leistet sie dem Willen des Vaters Gehorsam. Sie ergreift Giselhers Hand, ihre Mutter geht mit König Gunther, und ihr Vater geleitet Gernot in den Saal. Die Blicke der männlichen Besucher richten sich auf alle Damen, vor allem aber auf Rüdigers Tochter. Sie zieht die Blicke der Männer auf sich und erweckt die Gefühle der Wormser Gäste entsprechend der höfischen Minnevorstellung, dass das weibliche Geschlecht dem Mann zur vröude gereicht. Sie ist sozusagen das Objekt männlicher Begehrlichkeiten:
Mit verliebten Blicken wurde die Tochter Rüdigers
Betrachtet. Die war so schön.
Ja, in Gedanken liebten sie viele tapfere Ritter.
Verdient hatte sie das: Sie trat mit höfischem Anstand auf.
(B, 1669).
Die Männer können ihre Augen kaum von ihr wenden, lassen ihrer Phantasie freien Lauf. Hin und her gehen ihre Blicke (1670,1). Die feinen Details und der emotionale Erzählstil verleihen dieser Szene eine reizvolle, erotische Nuance. Die Szene erinnert an das erotisierte Spiel der ersten Begegnung Siegfrieds mit Kriemhild in Worms beim Fest nach dem Sachsenkrieg, als man Kriemhild zu Ehren Siegfrieds in der Öffentlichkeit auftreten lässt: mit lieben ougen blicken einander sâhen an, der herre und ouch die vrouwe; daz wart vil tougenlîch getân. (B, 293) Heimlich und verstohlen schauen die beiden einander an! -
In Bechelaren geht die Begehrlichkeit männlicher Blicke in die Verlobung des Paares Giselher-Markgrafentochter über. Doch zunächst wird die Annäherung erst einmal unterbunden. Ritter und Damen werden getrennt zu Tisch gebeten. Die junge Tochter bleibt auf Veranlassung der Markgräfin bei den kinden (1672,3), bei den Mädchen. Die Gäste bekommen zu ihrem Ärger die Tochter nicht zu Gesicht. Nur Gotelind, die Gattin des Gastgebers, verheiratet und älter, darf bei dem Festmahl zugegen sein. Sie bezieht diese ehrende Position aus ihrem Status als Ehefrau.
Nach der großzügigen Bewirtung der Gäste schickt man die Schönen wieder in den Saal. Volker, der burgundische Spielmann, beginnt die Unterhaltung mit einer Huldigung, die sich als Frauenpreis charakterisiert. Er lobt die sinnlichen Reize der schönen Markgrafentochter, die allen gefällt:
„Wenn ich ein Fürst wäre
und hätte eine Krone, dann wünschte ich mir Eure schöne
Tochter zur Frau. Das begehrt mein Herz.
Die ist lieblich anzuschauen, hochgeboren und untadelig.“
(B, 1675)
Abwehrend steht Rüdiger diesem Lob gegenüber: Was nütze dem Mädchen große Schönheit, „waz hülfe grôziu schoene der guoten juncfrouwen lîp?“, solange sie ellende (1676,3), Fremde, in diesem Land seien. Rüdiger beurteilt die Heiratschancen der Tochter kritisch. Als ein Vertriebener hält er eine Verbindung zwischen seiner Tochter und einem Wormser König für nicht standesgemäß. Die Heimat- und Besitzlosigkeit Rüdigers, der über keine Ländereien verfügt, sprechen gegen die Vermählung der Tochter mit Giselher. Rüdiger ist durchaus von hoher Abstammung, dient dem hunnischen König Etzel als Vasall; er lebt jedoch – wie Dietrich von Bern – als Vertriebener.
Heimatlos ist auch Kriemhild im Hunnenland: die Heimatlose, ellende (B, 1311 f.), Fremde wird sie genannt. Die Parallelen im Schicksal Kriemhilds und der Bechelaren-Frauen treten offensichtlich zutage.
Die Burgunden sehen über den Einwand des Markgrafen, er und seine Gattin seien heimatlos, hinweg. Gernot bestätigt noch einmal das Lob der jungen Frau, und Hagen schlägt kurzerhand den jüngsten Burgundenkönig Giselher, daz kint, als Ehegemahl vor:
„Es steht doch an, dass mein Herr Giselher eine Frau nimmt.
Von hoher Herkunft ist die Markgräfin,
dass wir ihr gerne dienten, ich und seine Männer,
wenn sie in Burgund die Krone tragen sollte.“
(B, 1678)
Hagen betont freundlich die Abstammung des jungen Mädchens, welche wichtiger erscheint als der Vermögensstand. Er macht einen Heiratsvorschlag für Giselher und die Markgrafentochter. Sein Vorschlag findet die freudige Zustimmung der Eltern, obwohl man zuvor andere Pläne für die Tochter geschmiedet hat. Das geht aus der Begegnung mit Kriemhild hervor: Sie sollte ja zu Kriemhild an den Hunnenhof kommen, - jetzt stellt sie der Markgraf an die Seite Giselhers. Und schon wird die Eheschließung besiegelt und politisiert. Das lebendige Bild wechselt in die merkwürdige Statik der Szene des Eheversprechens, die sich in einem emotionslosen Erzählstil und im Verstummen der Braut niederschlägt. Ein Heiratsbeschluss unter Männern! Das ist wohl Hagens Strategie: ein taktisches Familienbündnis, das die Position der Burgunden auf einem eventuellen Kriegszug stärkt. Hagen macht Giselher und die Markgrafentochter zum Spielball seiner Interessen. Hat er die Verbindung angezettelt, um Rüdiger zur Treue zu den Burgunden zu verpflichten, um Loyalitätsbindungen zwischen Worms und Bechelaren herzustellen?
Dann wird bei der Absicherung dieses Ehebündnisses noch einmal Rüdigers ungenügende Position und Besitzlosigkeit ins Gespräch gebracht. Der Markgraf sieht sich nicht in der Lage, seine Tochter mit einer angemessenen Mitgift auszustatten: „Ich habe keine Burgen“ (1681,4), „doch will ich Euch für alle Zeit ein treuer Freund sein“ (1682,1). Rüdiger der jeden Wunsch erfüllen will, verpflichtet sich den Burgunden – wie er sich schon zuvor Etzel verpflichtet hat – durch seine Dienste! Dem von den Männern ausgehandelten Ehekontrakt muss die junge Markgräfin noch zustimmen. Damit wird die kirchenrechtliche Forderung, die Ehe müsse auf einem Konsens der Brautleute beruhen, formal erfüllt:
Was geschehen soll - wer könnte das verhindern?
Man bat die junge Fürstin an den Hof.
Da schwor man, ihm die schöne Frau zu geben.
Und auch er gelobte, sie zu lieben.
(B, 1680)
Man bildete einen Kreis und ließ sie in die Mitte treten
wie es Brauch war. Viele junge Männer
standen ihnen heiter gegenüber.
Sie dachten, was sich noch heute die jungen Leute gerne denken.
(B, 1683)
Als man das schöne Mädchen fragte, ob sie den Helden
heiraten wolle, war ihr nicht ganz wohl zumute, obwohl
sie doch entschlossen war, den starken Mann zu nehmen.
Sie schämte sich, als man sie fragte, wie es schon viele Mädchen taten.
(B, 1684)Diese Ehevereinbarungsszene in der 27. Av. erinnert in Aufbau und Struktur und bis in die Wortwahl hinein an das Ritual der Eheschließungsszene Kriemhilds mit Siegfried in der 10. Aventiure (609,4-616). Dort heißt es nämlich:
Man bildete einen Kreis und ließ sie miteinander in die Mitte treten.
Man fragte, ob sie willens sei, den starken Mann zu nehmen.
In mädchenhafter Scheu schämte sie sich sehr.
Doch das Glücksgefühl und Siegfrieds Ausstrahlung bewirkten,
dass sie keinen Augenblick zögerte, ihn zu nehmen.
(B, 614,3-615,3)
(Siegfried hatte ja auch die Bedingungen höfischer Minnebeziehung erfüllt; lange hatte er um Kriemhild geworben.)Was für eine Blitzhochzeit hier! Die ambivalenten Gefühle der jungen Frau deutet der Erzähler als mädchenhafte Scheu und Scham und stellt klar, dass sie den stattlichen Mann eigentlich nehmen will. Ihr Zögern deutet er nicht als Anzeichen für einen Widerstand gegen ihre Vereinnahmung:
Ir riet ir vater Rüedegêr daz si spraeche jâ
unt daz si in gerne naeme. vil schiere dô was dâ
mit sînen wîzen handen, der si umbeslôz
Gîselher der edele, swie lützel si sîn doch genôz.
Ihr riet ihr Vater Rüdiger, „ja“ zu sagen
und ihn mit Freude zu nehmen. Sogleich war Giselher, der
Hochgeborene, mit seinen weißen Händen da und umarmte sie - doch sollte sie seine Liebe nicht genießen.
(B, 1685)
Und wieder ist es der Vater-Patriarch, die Autoritätsperson, die der Tochter die Antwort in den Mund legt. Doch die Tochter bleibt stumm. Sie hat keinen Einfluss auf ihre Verbindung. Für sie spricht der Brautvater. Die Brautmutter wird nicht gefragt. Der Vater hat die Entscheidungsgewalt und sichert den Gästen seine Tochter zu. Die Überlegenheit der Männer im Verhältnis der Geschlechter dominiert das feudalpolitische Ehebündnis. Denn in der mittelalterlichen Gesellschaft ist die Subordination der Frau im Rechtsdenken und der kirchlichen Geschlechterhierarchie festgelegt. Diese Auffassung spiegelt die Dichtung beim Eheversprechen Kriemhilds und der Markgrafentochter wider. Doch übt das Lied nicht auch Kritik an einer Gesellschaft, die es den Frauen nahezu unmöglich macht, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen?
Das Ritual des Eheversprechens ist vollzogen. Ein Sieg der Hohen Minne? Nein, eher ein geschickter Zug, den Hagen forciert und Rüdiger eingeht, indem er die Muntgewalt auf einen burgundischen König überträgt und damit das Ansehen seines Hauses hebt. Die Tochter wird zum Gastgeschenk. Der Brautvater spricht, und der Bräutigam handelt. Sofort ist Giselher an der Seite der jungen Frau und umarmt sie. Die Markgräfin und ihre Tochter vermitteln den Burgunden mehrere Tage lang ungetrübt höfische vröude. Die familiäre Verbundenheit wird durch gastfreundliches, gemeinsames Speisen und prächtige Geschenke gestärkt. Rüdiger und Gotelind revanchieren sich für die ständische Aufwertung durch die Heirat mit großzügigen Gaben und Waffengeschenken. Gunther erhält eine Rüstung, Gernot ein Schwert. Hagen wählt für sich einen Schild. Ihre große Freigebigkeit beweist die Markgräfin insofern, als sie Hagen den Schild, der ihrem Vater gehört hatte, bereitwillig übergibt.
Die Szene hat Friedrich Hebbel herausgestellt (‚Kriemhilds Rache‘, 3. Akt, 4. Szene):
Götelinde zu Hagen, der den Schild ihres Vaters lobt:
“Habt Dank, habt tausend Dank,
Es war mein Vater Nudung, der ihn trug.“
Der Erzähler weist ausdrücklich auf den zeichenhaften Charakter der Waffengeschenke an die Wormser Helden hin. Rüstung, Schwert und Schild als Ritualobjekte der Gewalt indizieren künftiges Kriegsgeschehen :
Rüdiger gab Gernot ein sehr gutes Schwert,
das dieser dann im Kampf glanzvoll führte.
Die Markgräfin gönnte ihm von Herzen das Geschenk.
(B, 1696)
Was für eine tragische Ironie, denn es ist sein eigenes Schwert, durch das Rüdiger am Ende von der Hand Gernots fällt wie dieser durch ihn (B, 2216 ff.).
Die Männer brechen zur Reise an den Etzelhof auf. Rüdiger gibt seinen Gästen Geleitschutz – ein Schutz, der es rechtlich verbietet, gegeneinander zu kämpfen. Das Bild der weinenden Frauen von Bechelaren verweist auf die Ahnung künftiger Gefahren: „Ich glaube, Ihnen sagte ihr Herz das große Leid voraus“ (1711,3), während zur gleichen Zeit die Männer, freudig gestimmt, solche Gefahren verdrängen. Mutter und Tochter treten im weiteren Handlungsverlauf des Nibelungenlieds nicht mehr in Erscheinung und werden ins Abseits abgeschoben. Die Tochter ist aber als Verlobte Giselhers Bindeglied zwischen Rüdiger und den Burgunden, und diese familiäre Verbindung gewinnt am Hunnenhof an Bedeutung. Sie wird zu einer Ursache für Rüdigers nicht zu bewältigenden, tödlichen Konflikt.

IV. Scheitern der Familienpolitik.
Ausgrenzung der Tochter

„Die Inklusion der Markgrafenfamilie in den burgundischen Herrschaftsverband ist nicht von Dauer, weil Rüdiger seine Treuepflicht als hunnischer Lehnsmann erfüllen muss.“ Etzels mächtigster Vasall darf seinem Herrn nicht in der Not und im Kampf die Gefolgschaft verweigern, selbst wenn er gegen Freunde kämpfen muss, denen er Gastfreundschaft gewährt, Geleitschutz geboten und die Tochter versprochen hat. Etzel erkennt Rüdigers Doppelbindung und Konfliktbewusstsein zwischen Vasallen- und Freundestreue nicht an, sondern verlangt die Erfüllung der Lehnspflicht. Weil Etzel den Nachteil, der dem Markgrafen aus seiner Exilsituation erwächst, durch ein Lehen ausgeglichen hat, ist ihm Rüdiger besonders verpflichtet. Hinzu kommt der Eid zu unbedingter Hilfeleistung, den der Markgraf Kriemhild geschworen hat. Rüdiger hat keine Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, sondern unterwirft sich den Forderungen des Etzelschen Herrscherpaars, die vornehmlich Kriemhild vertritt und die ihn zum Kampf zwingen.
Diese Konstellation hat Einfluss auf das Schicksal der Frauen von Bechelaren. Der Markgraf weiß, dass sich sein unvermeidlicher Tod für die ganze Familie negativ auswirken wird. Aufgrund ihrer genderrelevanten Benachteiligung benötigen die Frauen von Bechelaren den besonderen Schutz des Lehnsherrn. Daher kann Rüdiger nur darum bitten, dass Etzel seine Schutzverpflichtung gegenüber der Familie wahrnimmt. Er richtet seine entscheidende Bitte an den Herrscher und die Königin:
„Was Ihr und auch mein Herr mir Gutes getan habt
Dafür muss ich sterben….
Noch heute fallen meine Burgen und meine Länder an Euch zurück……..
Ich befehle Eurer Gnade meine Frau und meine Tochter
und die Heimatlosen in Bechelaren.“
(B, 2163 f.)
Auch in höchster Not fokussiert Rüdiger seine Gedanken auf seine Frau und seine Tochter. Der Rezipient erhält in gesteigerter Dramatik einen Eindruck von der Intensität der Verbundenheit Rüdigers mit den Seinen bis zum Tod. Rüdigers Sorge gilt seinen Frauen. Das zeigen seine letzten Worte: „Meine Frau und meine Tochter werden auf Euch bauen“ (2187,4), sagt er zu König Gernot.
Der Schwiegersohn Giselher, der mit politischem Kalkül auf solche Verwandte wie Rüdiger gesetzt hat und überzeugt ist: „Meine Frau wird uns hier sehr von Nutzen sein…..es ist mir lieb, dass es zu dieser Heirat kam“ (2172,3 f.: „wir suln mînes wîbes vil wol geniezen hie“) – ist nun bitter enttäuscht, dass Rüdiger das in ihn gesetzte Vertrauen bricht und jetzt gegen seine neuerworbenen Verwandten in den Krieg zieht. Der Markgraf bittet den Schwiegersohn, die Tochter nicht für das Verhalten des Vaters büßen zu lassen: „Lasst das die junge Fürstin nicht für mich büßen! Bleibt Euch treu, seid gut zu ihr!“ (2190,3 f.) Rüdigers Appell an die Treue des Schwiegersohns („Gedenket iuwer triuwe“ B, 2190,1) fruchtet nicht. Giselher stellt klar: Wenn Rüdiger einen seiner hohen Verwandten töte, „sô muoz gescheiden sîn diu vil staete vriuntschaft zuo dir und ouch der tohter dîn“ (B, 2191,3 f.): „….dann endet die Verwandtschaft mit Dir und Deiner Tochter.“
Giselher distanziert sich jetzt auch in der Wortwahl von seiner Verlobten, indem er sie, die er kurz zuvor als mîn wîp, meine Frau, tituliert hat, nun die tohter dîn, deine Tochter, nennt. Er sieht sich getäuscht, weil Rüdiger sein Treueversprechen gebrochen hat und sich – gezwungenermaßen - in den Kampf gegen die burgundischen Verwandten und Freunde wirft. Seine Aussage kommt einer Aufkündigung des Ehekontrakts gleich.
Was für ein Unglück für Rüdigers Hinterbliebene. Ohne ihr Zutun wird die junge Frau aus dem burgundischen Personenverband ausgeschlossen. Die ständischen Verhältnisse sind genau festgelegt: Weil ihre Eltern heimatlos sind und ihr Vater seine Lehnspflicht erfüllen muss, verliert die Frau ihren durch die Verlobung erworbenen Status, wird sie minderprivilegiert. Als unverheiratete Frau ohne Erbland hat die junge Markgräfin keine Möglichkeit, selbst zu agieren und ihre Benachteiligung zu korrigieren.
Ein letztes Mal hören wir im Lied von den Frauen. Es ist Dietrich, selbst heimatlos, der sich nach Rüdigers Tod weinend um Gotelind und ihre Familie in Bechelaren sorgt (B, 2314,3f.).

V. Gotelind und Dietlind in der ‚Klage‘
Erzählt werden die Auswirkungen von Rüdigers Tod (NL B, 2220,4) auf die Markgräfin und ihre Tochter erst in der ‚Klage‘-Dichtung, die den beiden Frauen auffallend viel Aufmerksamkeit widmet (KL, 2807-3286). Noch ehe die Boten Etzels Bechelaren mit der Trauerbotschaft erreichen, befürchten Mutter Gotelind und Tochter Dietlind durch Warnträume Unheil. Als der Bote Schwemmel den Frauen den großen Mord am Hunnenhof offenbart, brechen sie, vom Schmerz überwältigt, zusammen. Gotelind ruft verzweifelt nach ihrem Mann. In ihrer Trauer fragt Dietlind die Boten:
„Sagt mir, Schwemmel/ Wie kam es, dass mein Vater/ Gernots Feind geworden ist..?“ (KL, 3183-3185)
„Das tat niemand anders/ als die Königin./ Für ihren bösen Anschlag haben Männer und Frauen so sehr bezahlen müssen…..Es hat ihr nichts genützt, denn sie kam dadurch selbst zu Tode.“ (KL, 3194-3203)
Als die Frauen Rüdigers blutbeschmierte, zerhauene Rüstung sehen, will das Klagen kein Ende nehmen. Gotelind erstarrt handlungsunfähig in Trauer. Dietlind übernimmt ihre Rolle als Gastgeberin und entlässt die Boten mit Nachricht nach Worms.
Zum Ende der ‚Klage‘ hin wird Dietlind erneut in die Handlung einbezogen. Dietrich von Bern, seine Verlobte Herrat und Hildebrand wollen nicht mehr im Exil leben (KL, 4134: „suln niht mêr in ellende sîn“) und nehmen Abschied vom Hunnenhof, wo Etzel verstört in Trübsinn verfällt. Die kleine Gruppe kommt auf ihrer Reise nach Bechelaren. Dort werden sie aber nicht von Gotelind, sondern von der Tochter empfangen. Die junge Frau trauert jetzt auch noch um ihre Mutter, die drei Tage zuvor aus Kummer gestorben ist (KL, 4229-4237). Dietlind ist verzweifelt, jetzt ganz allein ohne Vater und Mutter zu sein.
Da erweist sich ihr Onkel Dietrich als väterlicher Freund und tröstender Ratgeber: „niftel, nû gehabe dich wol“ (4258). Er verspricht der jungen Frau, ihr einen würdigen Mann zu suchen, der mit ihr zusammen das Land verwalten könne. In Anbetracht all des Leids zeichnet sich hier bei der jungen Markgräfin Mut für die Zukunft ab. Sie fügt sich „in Treue und Geduld“ Dietrichs Anordnungen. Und damit endet die Dichtung.Die ‚Klage‘ sucht den überwältigenden destruktiven Eindruck der Schlusskatastrophe des Nibelungenlieds im beklagenden und trauernden Rückblick zu mildern. Etzel, Dietrich und Hildebrand leisten Erinnerungs- und Trauerarbeit, die sie jedoch nicht zu Ende bringen. Die ‚Klage‘ lässt Figuren wie Ute und Gotelind, die in der Vergangenheit des Leids verhaftet sind, sterben und setzt auf die Jugend und deren Aufbruch: auf Brünhilds Sohn und damit auf einen dynastischen Neuanfang sowie auf Rüdigers Tochter. Doch obwohl Dietlind selbständiger agiert als im Nibelungenlied, bietet ihr sozialer Entwurf in der ‚Klage‘ keine Abweichung von der ständischen Norm. Sie fügt sich in die patriarchalische Ordnung, die ihr der väterliche Freund verspricht. Dietlind ist durch eine neue Ehe in ein patriarchalisches System integrierbar. Ihr Weg aus dem Leid verspricht dessen Überwindung in einer positiven Zukunft:
als ir gelobet haete/ der herre dâ von Berne/ des erbeite si vil gerne.
Was ihr dort der Herr von Bern versprochen hatte, darauf wartete sie mit Freude.
(KL, 4292-4294)
Dietrichs Versprechen hat für Dietlind befriedende Bedeutung, ganz im Sinne der ‚Klage‘, die um ein harmonisches Ende bemüht ist.


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