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Gunther
ein König in der Kritik


von Dr. Ellen Bender

König Gunther in "Die Nibelungen" von Fritz Lang, 1924..

Im Film „Die Nibelungen – Siegfried von Xanten“ (1966) unter der Regie von Harald Reinl mit Uwe Beyer als Siegfried erscheint Gunther in der Rolle des geschickt taktierenden und paktierenden Königs von Burgund. In den Wormser Nibelungen-Festspielen ist Gunther zum einen ein machtbesessener Herrscher, der sich selbstgefällig im Cäsarengewand in der Tradition seiner Ahnen inszeniert, zum andern ein schwacher König, der etwas trottelig wirkt, zaudernd, manchmal hilflos. Unter der Regie von Karin Beier (2004) lässt ihn die isländische Königin, mal kurz in eine Einkaufstasche gepackt, als Karikatur eines Königs über die Bühne hopsen.

Die Figuren des Nibelungenepos assoziieren Rollenbilder. Da drängen sich zeitgeschichtliche Deutungen in Gesellschaft und Politik auf. Beispiel König Gunther: ein Herrscher, der Konflikten möglichst aus dem Weg geht, sie ignoriert, aussitzt oder clever umschifft. Bei einer solchen Konfliktführung könnte man seine Rolle auf Staatsmänner, Politiker oder Manager der aktuellen Gegenwart übertragen. Doch möchte ich derartige Interpretationen, so spannend sie auch sein mögen, Journalisten und Theatermenschen überlassen.

Wer also ist Gunther?
Gundahar ist ein alter burgundischer Königsname. Gundahar alias Gunther gehört zu den großen historischen und sagenhaften Gestalten der Völkerwanderungszeit des 5./6. Jahrhunderts wie der Gote Theoderich alias Dietrich von Bern und der Hunne Attila alias Etzel.

In der Lex Burgundionum oder Lex Gundobada, einer ersten Sammlung der burgundischen Stammesrechte, ab 475 in Lyon abgefasst, bezeichnet sich der burgundische König Gundobad (474-516) als Nachfolger der Burgunderkönige Gibica, Godomarus, Gislaharius und Gundaharius oder Gundicharius.
Von eben diesem Gundicharius berichtet der aquitanische Schriftsteller Prosper Tiro in der Weltchronik (455). Prosper Tiro schreibt, dass der römische Feldherr Aetius den Gundihari, König der Burgunden (Gundicharium Burgundionum regem), der im Gebiet von Gallien ansässig war, im Krieg niederwarf und … dass die mit Aetius verbündeten Hunnen ihn [Gundihari] und den größten Teil seines Volkes vernichteten.

In der Nibelungensage leben die Königsnamen Gunther sowie Gibiche und Giselher fort. Der Sagenstoff um die burgundische Königssippe ist in jahrhundertelanger mündlicher Überlieferung in ganz Europa tradiert. Der Sagenstoff ist im Nibelungenlied und der Klage, in der altnordischen Thidrekssaga aus der Mitte des 13. Jahrhunderts und in der Waltherdichtung überliefert.

Im Nibelungenlied ist Gunther der älteste Bruder und Vormund, mhd. munt, Kriemhilds am burgundischen Königshof zu Worms. In der ersten Aventiure preist der Dichter die burgundischen Könige und ihren Hof, stellt Glanz und Macht heraus.

Hs B, Strophe 12:
Von des hoves krefte und von ir wîten kraft,
von ir vil hôhen werdekeit und von ir ritterscaft,
der di herren pflâgen, mit vröiden al ir leben,
des enkunde iu ze wâre niemen gar ein ende geben.

Vom Glanz des Hofes und seiner Machtfülle,
von seiner großen Würde und dem ritterlichen Leben,
das die Herren lange Zeit mit Freuden führten,
könnte euch bestimmt niemand alles vollständig erzählen.

„kraft“ ist hier zu verstehen als Glanz und Machtfülle des Hofes. Als Fürstentugend bezeichnet kraft vor allem die Entschlusskraft des Herrschers. Zu den Fürstentugenden gehören – neben der Milde - auch die hohe Abstammung (5,1) und die höfischen Werte werdekeit (Würde) und ritterscaft (12,2), Charaktereigenschaften des höfischen Menschen. Der Erzähler stellt die Könige und insbesondere Gunther an erster Stelle als vollendete Repräsentanten des Hofes vor, und zwar mit idealtypischen Herrschereigenschaften: edel, rîch, lobelîch (= ruhmreich) (4,1 f.), sehr kraftvoll und tapfer (5,2).
Aber es stellen sich erste Zweifel an der Kühnheit und dem Kampfesmut des Königs ein, als nämlich Siegfried bei seiner Ankunft in Worms Gunther zum Zweikampf herausfordert .

Die folgenden acht Beispiele im Nibelungenlied werden zeigen, dass Gunther vor den physischen, sittlichen und rechtlichen Anforderungen, die an ihn gestellt werden, zurückweicht. Er ist ein Herrscher, der Konflikten möglichst aus dem Weg geht.

1. Beispiel
Siegfried fordert König Gunther bei seinem Auftritt in Worms zum Zweikampf heraus.
Statt Gunther schlichtet Gernot den Konflikt.

Als Siegfried von Xanten an den Königshof nach Worms kommt und König Gunther herausfordert, mit ihm um die Herrschaft über Burgund zu kämpfen (113), weist ihn der Familienclan um König Gunther in seine Schranken. Siegfried will Burgund mit dem Schwert gewinnen. Ortwin von Metz schilt seinen starken übermuot. Der übermütige Angriff auf die legitim ererbte burgundische Herrschaft musste als Unrechtsakt und Friedensstörung gelten. Aber die notwendige Zurechtweisung wird nicht von Gunther, sondern von Ortwin und Gernot vorgenommen. Gernot lehnt - höflich schlichtend - den von Siegfried geforderten Kampf ab: „Es ziemt sich nicht für uns, mit euch zu kämpfen“ (124,1). Und als Siegfried weiter provoziert, müssen die Burgunden auf Gernots Rat hin „still sein“ (125,4). Danach erst bietet Gernot die Gastfreundschaft an: „Ir sult uns wesen willekommen“ (126,1) sagt er zu Siegfried.
An Gunther von Burgund prallt Siegfrieds Herausforderung ab. Er verhält sich diplomatisch geschickt: „Seid mein Gast und teilt die Herrschaft über diese Reiche mit mir.“ Damit beendet er den Auftritt Siegfrieds.

2. Beispiel
Sachsenkrieg: Siegfried siegt im Krieg für Gunther.

Hier kann man nicht mehr von einer vornehmen Zurückhaltung Gunthers sprechen, als er darauf verzichtet, das burgundische Heer gegen die Sachsen und Dänen selbst zu führen: „Herr König, bleibt ruhig hier zu Hause“, sagt Siegfried, „da eure Recken meinem Befehl folgen wollen, könnt ihr frohgestimmt den Damen Gesellschaft leisten. Ich traue mir zu, Ansehen und Besitz für euch zu verteidigen.“ (C, 175).
Im Kontrast zu Gunther zeigt Siegfried die für Land und Volk notwendige Entschlusskraft und Härte. Während der König über die Fehdeansage der Dänen und Sachsen klagt und um Bedenkzeit bittet (B, 147,1: „Nu bîtet eine wîle“), zeigt Siegfried Kampfesmut und Führungsqualität. Siegfried hilft den Burgunden und siegt im Krieg für Gunther. Gunther erscheint hier als unentschlossener und vor Konflikten ratloser Landesherr. Der Verzicht auf die Heerführung ist eher Ausdruck ängstlichen Zurückweichens. Ihm fehlt die Ausstrahlung und Aura der kraft, der Stärke.

3. Beispiel
Brünhilds betrügerische Bezwingung. Das Versagen des Werbers Gunther.

Bei der Brauterwerbung um Brünhild von Island ist Gunthers Verhalten nicht vorbildlich, eher fragwürdig. Er versagt vor der Königin, die nur den zum Mann nehmen will, der größere Stärken hat als sie. Der König ist ein weiteres Mal auf Siegfrieds Hilfe angewiesen.
Warum will König Gunther überhaupt um Brünhild werben?
Selbstherrlich sucht er die stärkste Frau. Die physische Kraft Brünhilds, ihre Schönheit und ihre „Power“ reizen ihn. Die Ehe dient dem Machterwerb. Durch die Ehe mit Brünhild von Island will König Gunther von Burgund seinen Machtbereich erweitern. Er ist besessen von der Gier nach Macht und Liebe.

B, 329,3-4:
„ich wil durch ir minne wâgen mînen lîp:
den wil ich verliesen, sine werde mîn wîp.“

„Um ihrer Liebe willen setze ich mein Leben ein.
Ich bin bereit, es zu verlieren, wenn sie nicht meine Frau wird.“


Brünhild fasziniert Gunther, der schnell die Vorteile der Ehe mit ihr erkennt, aber selbst zu schwach ist, sie als Braut zu gewinnen. Doch er hat eine Offensivstrategie, mit der er die Schande der Niederlage clever umschifft. Er baut auf Siegfrieds Hilfsbereitschaft. Er manipuliert den starken Siegfried zum Werbungshelfer. Gunther paktiert mit Siegfried. Man trifft ein perfides Arrangement. Gunther: „Das verspreche ich dir, Siegfried, mit Handschlag [also eidlich]. Sobald die herrliche Brünhild in mein Reich kommt, will ich dir meine Schwester zur Frau geben.“ (B, 334,1-3). Und Siegfried macht als Lohn für seinen Werbungsdienst den Gewinn Kriemhilds zur Bedingung.
Gunther manipuliert also andere, um seine Ziele zu erreichen: den Sieg über die Sachsen und die Gewinnung Brünhilds. Sein ganzes Handeln dient seiner persönlichen Macht.

Da der Werber Gunther bei der Freierprobe auf Isenstein im kraft-Erweis unterlegen wäre und somit von Brünhild getötet würde, inszenieren die Männer vor der Königin ein Betrugsmanöver. Siegfried täuscht ein Dienstverhältnis vor. Er gibt sich bei Brünhild als Gunthers Lehensmann aus, als rangniederer Vasall. Und Gunther täuscht Brünhild ebenfalls, denn er lässt es zu, dass die Probe durch einen Betrug zu seinen Gunsten entschieden wird. Brünhild fordert den Werber Gunther zum Zweikampf auf. Es kommt zu drei skurrilen Wettkämpfen: Gunther täuscht die Bewegungen vor, während Siegfried, mit Hilfe der magischen Tarnkappe unsichtbar und mit der Stärke von zwölf Männern versehen, für Gunther erfolgreich die Taten vollbringt. Gunther erringt durch Betrug an einer vrouwe diese zur Ehe und die Herrschaft über ihr Land und Volk. Das ist etwas Ungeheuerliches im höfischen Normkodex. Gunther verstößt gegen die Verhaltensnormen, die für jeden Mann der höfischen Gesellschaft Gültigkeit haben.

Gunther sollte als König über die hövescheit in seiner Umgebung wachen. Sein Versagen bewirkt, dass Siegfried ebenfalls gegen das Gesetz sittlichen Verhaltens in der höfischen Gesellschaft verstößt und die vrouwe Brünhild in ihrer Ehre verletzt. Gunther hätte die Standeslüge Siegfrieds nicht zulassen dürfen. Aber er stimmt zu – wie alle anderen. C, 396,1-3: „Sie [die Burgunden] waren bereit das zu versprechen. Keiner verhielt sich aus Übermut anders. Alle sagten, was er [Siegfried] vorgeschlagen hatte, nämlich „Gunther sei mein Herr und ich sein Eigenmann“. Sie stimmen also aus Übermut zu, wie der Erzähler kommentiert, d.h. aus Selbstüberschätzung in der Gier nach Macht.

Ist Gunther ein Herrscher, der alles will und dafür gegen Verhaltensnormen des gesellschaftlichen Lebens verstößt? Gunther duldet all die Verstöße, an denen er mitwirkt, weil er sie selbst provoziert hat und nicht die Kraft aufbringt, sein Verhalten zu ändern, sobald er sieht, dass sie zu Unrecht führen. Und dann, als er Stellung beziehen muss, versucht er den Konflikt auszusitzen. Das wird in der folgenden Szene deutlich.
Gunther hält die Wahrheit zurück, als er von Brünhild auf seinen ‚Leibeigenen‘ Siegfried an der Hochzeitstafel in Worms angesprochen wird. Brünhild: „Deine Schwester sehe ich bei deinem Eigenholden sitzen“. Ihre Betroffenheit begründet sie weinend mit Kriemhilds unstandesgemäßer Heirat. Gunther antwortet: „ich wil iu z’andern zîten disiu maere sagen, war umb ich mîne swester Sîfride hân gegeben.“ (B, 621, 2 f.) Seine Beteuerung, Siegfried sei ein besitzreicher König, stimmt sie nicht um. Der Betrug auf Isenstein hatte lediglich eine ‚Scheinharmonie‘ der Partner erzeugt. Gunther will den Konflikt aussitzen. Das zeigt seine Reaktion auf Brünhilds Weinen an der Hochzeitstafel: z‘andern zîten, auf „später“, vertröstet er sie. Doch schon in der Nacht folgt die Kraftprobe zwischen Mann und Frau im Brautbett.

Gunther versagt in der Hochzeitsnacht. Gunther, macht- und sexbesessen, kann es im Brautbett kaum erwarten, sich mit seiner Frau zu vereinen. Doch Brünhild verweigert den Beischlaf mit Gunther: „die minne si im verbot“ (B, 637,3)(= verweigerte). Der König will den Sieg über die Frau, kann sich aber als Mann nicht qualifizieren. Brünhilds Verweigerungshaltung führt zu der Einsicht des Königs „er hete dicke sampfter (= bequemer) bî andern wîben gelegen“ (B, 630,4). Der König unterliegt physisch Brünhilds übermäßiger Stärke und muss die Nacht, an einen Nagel gehängt, an der Wand verbringen. Er fürchtet, dass seine Unterlegenheit offenbar wird. Deshalb muss ihm Siegfried erneut durch Täuschung helfen. Unsichtbar unter der Tarnkappe bändigt Siegfried Brünhild in der folgenden Nacht, und Gunther vollzieht die Ehe an seiner Frau. Danach widersetzt sich Brünhild der ehelichen Liebe nicht länger (C, 687). Doch die grübelnden Fragen, die zu ihrer Verweigerung geführt hatten, sind nicht geklärt. Zwölf Jahre später bewegt Brünhild noch immer die Frage, warum der ‚Eigenmann‘ Siegfried dem König keine Dienste leistet. Sie will Klarheit über Siegfrieds Stand und Stellung.

4. Beispiel
Das Versagen des Königs bei der rechtlichen Regelung des Frauenstreites.

Der durch den Werbungsbetrug evozierte Konflikt kommt beim Frauenstreit zum Ausbruch. Die burgundische Königin, durch Kriemhilds Vorrangdemonstration am Wormser Dom öffentlich beleidigt, verlangt von Gunther die Wiederherstellung ihrer Ehre. Der König ist gezwungen, vor aller Augen zu handeln, da er als Brünhilds Ehemann für sie, die unter seinem Schutz steht, die Anklage gegen Siegfried erheben muss. Gunther lädt Siegfried vor das Königsgericht (B, 855), Siegfried als Beklagter erscheint (856). Gunther bringt die Klage vor (857). Siegfried weist sie zurück und bietet als Beweismittel den Eid an (858-860). Er hebt die Hand zum Eid (860,1), mit dem er die Behauptung seiner Frau, er habe als erster mit Brünhild geschlafen, zurückweist (857). Der Ring der Männer tritt zusammen, um den Eid rechtsgültig werden zu lassen (859,4). Da bricht Gunther das Verfahren ab und erklärt Siegfried für unschuldig (860,2-4). Es handelt sich um ein unzulängliches Gerichtsverfahren. Gunther bewirkt durch sein Zurückweichen einen unklaren und unbefriedigenden Ausgang des Prozesses, was sich an der Betroffenheit der Umstehenden und an Brünhilds Weinen ablesen lässt: „dô trûret alsô sêre der Prünhilde lîp, daz ez erbarmen muose die Guntheres man.“ (863,2 f.). Das emotionale Signal des Weinens der Königin fordert unmissverständlich ein Eingehen auf den Konflikt. Der König hätte alles daransetzen müssen, den Konflikt gütlich zu regeln. Der burgundischen Königin musste an einer klaren und von Siegfried beeideten Beseitigung des Verdachts gelegen sein. So bedeutet das Zurückweichen des Herrschers vor dem Reinigungseid, dass er auf ausreichende Genugtuung für Brünhild verzichtet. Gunther versagt. Am König hätte es gelegen, Akte der Genugtuung und Sühne statt der Gewalt zur Anwendung zu bringen. Nach einer so schweren Kränkung fordert Brünhild die Bestrafung des Beleidigers ihrer êre. Aus Sicht des burgundischen Hofes ist die Ehre der Königin durch Siegfrieds Weiterleben in Frage gestellt. Und es ist Hagen, der die Ermordung des Xanteners beschließt. Siegfrieds Ermordung wird als Rache verstanden: „dô het gerochen Hagene harte Prünhilde zorn.“(1013,4). Diese Blutrache, also Rache durch Tötung, verurteilt der Dichter als Verrat und Bruch aller Bindungen.
Zwar erinnert Gunther an Siegfrieds Treue gegenüber den Burgunden, widersetzt sich aber Hagens Plan nicht ernsthaft, zumal dieser den Vorteil, sprich Machtgewinn für Gunthers Hof, durch Siegfrieds Tod hervorhebt.

5. Beispiel
Gunthers Leugnen bei der Bahrprobe.

Siegfried stand als Gast im Schutz des wirtes Gunther. So wäre Gunther als wirt, also als Gastgeber, als Schwager, Familienoberhaupt und König unbedingt verpflichtet, das Verbrechen der Ermordung Siegfrieds zu sühnen. Aber er unternimmt nicht das Geringste, das Unrecht zu tilgen. Ein Gerichtsverfahren ist nur in Ansätzen zu entdecken und kommt allein durch Kriemhilds Initiative in Gang. Als Gunther und Hagen zu den Trauernden treten, weist sie Gunthers scheinheilige Beileidsäußerungen zurück: „Waer‘ iu dar umbe leide, so’n waer‘ es niht geschehen.“ (B, 1042,1): „Täte euch Siegfrieds Tod leid, wäre die Tat nicht geschehen.“ Als er lügt („Dir ist von meinen Leuten kein Leid zugefügt worden“: C,
1055,1), führt sie die Bahrprobe durch. Nach der ursprünglichen Vorstellung sah man in dem Toten den Kläger. Mit dieser Vorstellung hängt das sogenannte Bahrgericht zusammen, bei dem die Wunden des Leichnams zu bluten beginnen, wenn der Täter an die Bahre tritt. Die Bahrprobe macht die Schuld Hagens offenbar: Der Tote überführt sozusagen den Täter. Das kommt einem Gottesurteil gleich. Und König Gunther lügt erneut, als die blutenden Wunden des Toten den Mörder bloßstellen: „Räuber erschlugen ihn. Hagen hat es nicht getan“ (B,1045,4; C,1057,4), sagt Gunther wider besseres Wissen. Kriemhild aber durchschaut die Zusammenhänge: „Die Räuber kenne ich gut… Gunther und Hagen, ja, ihr habt es getan.“(C, 1058).

Es zeigt sich, dass Gunther den Anforderungen nicht genügt, die an einen rex justus et pacificus gestellt werden, also an einen Herrscher, der der Gerechtigkeit und dem Frieden verpflichtet ist. Die Tugenden, die den Fürsten auszeichnen sollen, kraft, werdekeit und ritterscaft, werden von Gunther nicht gelebt. Der König ist nicht Anwalt des Rechts, sondern – im Gegenteil – eine Art rex iniquus, ein ungerechter König. Offensichtlich ist das Zentrum seiner Herrschaft, der burgundische Königshof, kein intaktes Gefüge mehr, weil selbstherrlicher Herrschaftsanspruch und reale Macht nicht deckungsgleich sind. Dem Machthaber Gunther fehlt die physische sowie sittlich-rechtliche Führungskompetenz; kraftlos wirkt er und überschätzt sich doch selbst. Er steht im Schatten seines Beraters und Vasallen Hagen, der mit dem Verbrechen an Siegfried die Handlungsfäden zieht und die Entscheidungen des Königshofes dominiert. Der König ist ein Regent ohne Führungskompetenz, ohne Charisma. Das fragile Reich steuert unter dem kraftlosen Gebieter Gunther dem Untergang zu.

6. Beispiel
Gunthers betrügerische Versöhnung mit der Schwester.

Weiter zeigt sich Gunthers Versagen bei der „Versöhnung“ mit Kriemhild viereinhalb Jahre nach Siegfrieds Ermordung. Hagen betreibt die geschwisterliche Versöhnung, damit die Witwe Kriemhild ihre Morgengabe, den sagenhaften Nibelungenschatz, nach Worms holt. C, 1118: Eines Tages aber sprach Hagen zum König: „Könnten wir erreichen, dass ihr euch mit eurer Schwester versöhnt, dann käme das Nibelungengold in dieses Land. Wir hätten also großen Vorteil davon, wenn uns die Königin wieder freundlich gesonnen wäre.“ Die angestrebte Versöhnung soll der Konfliktbeilegung dienen, ist aber nur Mittel zum Zweck, nämlich zur Hortgewinnung. Das Gold ist Ziel seiner Gier. Die alten Seilschaften greifen. Die königlichen Brüder widersetzen sich Hagens Aktionen nicht. Und Gunther lässt sich ‚bestechen‘ durch die Aussicht auf das Nibelungengold. Er nimmt Hagens Rat und die Aussicht auf den Hort wichtiger als seine Pflicht zur Bestrafung des Mörders. Die Versöhnung mit der Schwester entpuppt sich als eine betrügerische Schein-suone: „Niemals war eine so tränenreiche Versöhnung mit solcher Falschheit vergiftet“, kommentiert der Erzähler der Handschrift C die Szene: „Ez enwart nie suone mit so vil trähenen me/ mit valsche gefuoget. ir tet ir schade we;/“ (C, 1128,1-2). Denn statt das Unrecht zu tilgen, versagt der Hof Gunthers in seiner Pflicht zur Gerechtigkeit. Gerechtigkeit verlangt Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer. Doch die ignoriert Gunther. Einem ordentlichen Gerichtsverfahren geht er aus dem Weg. Die für die Schuldtilgung notwendige Voraussetzung, sein Schuldeingeständnis und die Bitte um Verzeihung, sei es verbal oder rituell, in Rede oder Gebärde, liegt nicht vor. Im Gegenteil. Den Mörder Hagen bestraft Gunther nicht. Und durch seine Mitschuld wird ihr, Kriemhild, der unermessliche Schatz von Hagen geraubt. Damit steht als zweites ungesühntes Verbrechen des Königshofes fest: Raub der morgengâbe einer Witwe, die zudem Schwester derer ist, die den Raub hätten verhindern können. Dem König geht es nicht um die Vergeltung der Verbrechen, sondern um Machtgewinn und -erhalt.

7. Beispiel
Gunther verletzt seine Fürsorgepflicht für Kriemhild als König und Vormund.

Gunthers rechtliche Stellung gegenüber Kriemhild wird gleich zu Anfang des Nibelungenliedes mit dem Verbum pflegen herausgestellt: Ir pflâgen drîe künege (B, 4,1): „Für ihren Schutz sorgten drei Könige.“ Mit Kriemhilds Heirat wurde die munt an den Ehemann Siegfried übertragen, nach dessen Tod wurde sie wieder von den Brüdern, namentlich vom ältesten Bruder, übernommen. Aufgrund dieser rechtlichen Situation mahnte der sterbende Siegfried Gunther an seine Schutzpflicht für Kriemhild.

B, 997, 1 f.:
„Und lât si des geniezen, daz si iuwer swester sî.
durch aller fürsten tugende wont ir mit triuwen bî.“

„Lasst ihr zugutekommen, dass sie eure Schwester ist.
Erinnert euch an eure Fürstentugenden und steht ihr in Treue bei.“

Wie nimmt Gunther die Fürstentugend der Schutzpflicht wahr? Die Witwe bleibt ja wegen dieser Schutzpflicht bei den Verwandten in Worms. Gunther hätte der wieder unter seiner Vormundschaft Stehenden Schutz und Hilfe zusagen können, wie es Giselher und Gernot zunächst tun (1049; 1078-1082). Aber Gunther unternimmt nichts; er ist ja selbst in den Mord verwickelt. Und obwohl er sich seiner Verpflichtung bewusst ist und ihr, wie er sagt, nachkommen will (B, 1131,3: „und wil ez fürbaz hüeten: (= darauf Acht haben) si ist diu swester mîn“), lässt er doch den Schutz für die Schwester und Witwe vermissen, als Hagen den Hortraub vorbereitet. Giselher und Gernot sind zwar empört über das erneute Unrecht, tun aber auch nichts dagegen, weil Hagen ein Verwandter, ein mâc, ist. Eindringlich erinnert Kriemhild an ihr Recht auf Schutz durch die Brüder. Sie klagt vor Giselher.

B,1135, 1 f.:
„vil lieber bruoder, du solt gedenken mîn.
Beidiu lîbes unde guotes soltu mîn voget sîn.“

„Mein lieber Bruder, du solltest an mich denken,
mein Leben und meinen Besitz solltest du beschützen.“

Giselher vertröstet die Schwester auf später: „Das will ich tun, wenn wir wiederkommen; jetzt müssen wir fortreiten“ (C, 1149, 3 f.). In der Zwischenzeit raubt Hagen der Witwe den Schatz und versenkt ihn bei Lôche in den Rhein. Als Kriemhild ihren Schaden beklagt, bedauern die königlichen Brüder die Tat, entziehen sich aber einem ordentlichen Verfahren gegen Hagen und bestrafen ihn nicht (1154 f.).

Hier wird die Unzulänglichkeit einer Rechtsordnung deutlich, die den Rechtsschutz des einzelnen und insbesondere einer Frau derart regelt, dass sie ihn in die Hand ihrer Sippe legt, der Sippe, die selbst an dem Verbrechen gegen eines ihrer Mitglieder beteiligt ist. Die Möglichkeiten eines vermittelnden Rechtsverfahrens, bei dem geeignete Genugtuung (statt Rache) zur Anwendung hätte kommen können, sind für sie, Kriemhild, als Frau nicht erreichbar. Die Stammesrechte enthielten zwar eine Fülle von prozessrechtlichen Maßnahmen für Mord, Verletzung, Kränkung der Frau, ließen aber deren minderen Rechtsstand klar erkennen: Die Frau stand in der Schutz- und Fürsorgegewalt des Mannes oder der Sippe. Sie war zwar nicht rechtlos, aber vor Gericht handlungsunfähig. Dort mussten sie Vater, Bruder oder Gatte vertreten. Kriemhild wäre lieber ein Mann, ein Ritter, dann könnte sie wie ein solcher ihre rechtlichen Ansprüche durchsetzen: „ob ich ein ritter waere“, sagt sie im Nibelungenlied (B, 1416,4). Aber sie ist kein Mann. Und weil der Mörder und Schatzräuber Hagen nicht bestraft wird, muss sie Vergeltung üben.
Letztendlich bleibt Kriemhild durch Gunthers Versagen als Bruder, der sie zu schützen hat und als König, der Anwalt des Rechts sein sollte, nur die Rache aus eigener Kraft. Sie wird zur vâlandinne, die selbst zur Waffe greift, um zu töten.

8. Beispiel
Gunther ignoriert die Warnung Dietrichs bei der Ankunft am Hunnenhof.
Seine Fehleinschätzung der Lage führt zum Untergang des Heeres.

Gunther erweist sich beim Zug der Burgunden ins Hunnenland als König und Ritter unfähig, sein Volk und sein Heer in der dem Gebieter zukommenden Weise zu schützen und zu lenken. Als Hagen den Fährmann tötet, zieht er ihn nicht zur Rechenschaft. Gunther, Schützer der Kirche, sieht zu, wie Hagen den Kaplan wegzerrt und ins Wasser stößt (1575). Er protestiert nicht dagegen, versucht auch nicht, die Tat abzuwenden. Gunthers Haltung kann als Ausdruck seines Unvermögens verstanden werden, die Maxime christlichen Glaubens und ritterlicher Lebensordnung zu sichern.

Bei der Ankunft am Hunnenhof warnt Dietrich von Bern die Burgunden vor der drohenden Gefahr. Er berichtet Gunther von Kriemhilds anhaltender Trauer und ihren Racheabsichten. Gunther ignoriert die Warnungen: „Warum soll ich mich in acht nehmen?“ sprach der erhabene König Gunther. „Etzel hat uns Boten gesandt, damit wir zu ihm in sein Land kommen, weshalb soll ich da weiter nachfragen?“ (C, 1767, 1-3). Kriemhild allerdings hält ihre Feindschaft gegen Hagen und Gunther nicht verborgen. Bei der Begrüßung der Nibelungen macht sie deutlich, dass der Rechtsbruch noch immer ungesühnt und die Rachepflicht für sie elementar ist: „Ein Mord und zwei Raubüberfälle haben mich getroffen; für die suche ich Arme noch wohltuende Vergeltung.“ (C, 1785,3-4). Das ist klar an Gunthers und Hagens Adresse gerichtet.
Gunther schätzt die Lage falsch ein – aus Mangel an Weitsicht und Urteilskraft. Er verkennt die Gegebenheiten. Er führt sein Heer gegen die Hunnen in den Untergang, obwohl er doch mehrfach gewarnt wurde. Die Vernichtung des burgundischen Heeres kann als Folge des Fehlverhaltens seines Königs begriffen werden. Alle Burgunden/Nibelungen müssen sterben. Und somit ist das Versagen König Gunthers Ursache für den Untergang eines ganzen Volkes.

Zeitgeschichtliche Deutungsversuche.
Wie ist die im Nibelungenlied am Versagen des Königs festgemachte Kritik
zeitgeschichtlich zu deuten?

I. Kritik an der Machtpolitik des Königs.

Gunthers ganzes Handeln dient seinem persönlichen Machterhalt. Dafür nimmt er Betrug und Rechtsbruch in Kauf. Doch überschätzt er sich in dem Vorhaben, seinen Machtbereich auszudehnen.
Anspielungen liegen nahe:
a) Zum einen könnte man die epische Kritik am König auf den historischen burgundischen König Gundahar beziehen, der, aus welchen Gründen auch immer, unzuverlässig und vertragsbrüchig geworden war und der mit seinem Volk im Kampf gegen die hunnischen Hilfstruppen im 5. Jahrhundert unterging.
b) Zum anderen könnte man mit der Kritik an der Machtpolitik Gunthers auf zeitgenössisch aktuelle Deutungen verweisen, wie die der Warnung vor einer machtpolitischen Selbstüberschätzung der Staufer im Kontext der Kreuzzüge des 12./13. Jahrhunderts („Breuer-These“) mit dem Beispiel Heinrichs VI., der nach der Eroberung Siziliens 1195 Expansionsabsichten nach Osten gegen das Byzantinische Reich hegte.

II. Kritik an der Konfliktführung des Königs.

Ein entscheidender Punkt der Kritik an König Gunther im Nibelungenlied ist sein Versagen als rex justus, als Anwalt des Rechts und damit die Kritik an einer Konfliktregelung, die den Rechtsschutz der Frau in die Hand ihrer Sippe legt - in einem Rechtswesen, das Sippenfehde und Blutrache duldet.

Da stellt sich die Frage: Wie gingen im Mittelalter König und Gesellschaft mit Konflikten im sozialen Leben um?
Die germanischen Stammesrechte ab 475 verdanken ihre Entstehung dem Interesse der Könige an einer Gesetzgebung, die der Sicherung des Friedens dienen sollte. Und gerade die burgundischen Königsgesetze der Lex Burgundionum oder Lex Gundobada, wie zuvor genannt, haben die Sippenfehde verboten. Die geregelten Rechtsfälle, die in der Gesetzessammlung enthalten sind, gehen auf diese burgundischen Königsgesetze zurück. Auch das Bemühen, geordnete Rechtsgänge herzustellen und den Schutz der Kirche zu sichern, war Ziel der frühen Gesetze. Dieses Bestreben wird in den Landfriedensbewegungen des 11. und 12. Jahrhunderts fortgesetzt. Die Stammesrechte sollten Sippenfehden und Blutrache eindämmen helfen. Die Herstellung einer Friedensordnung wurde als Aufgabe des Königs gesehen. 1152 verkündete Friedrich I. Barbarossa den großen Reichslandfrieden. Mit den Landfriedensgesetzen versuchte Barbarossa die Fehde ganz zu verbieten, was aber nicht gelang. Auf den Hoftagen des Staufers regelten die königlichen Hofrichter Konflikte, so auf 13 Hoftagen allein in Worms (von insgesamt 156). 1186 verlangte Barbarossa wenigstens, dass eine Fehde förmlich durch einen Fehdebrief zu erklären sei und erst 3 Tage nach der Erklärung begonnen werden dürfe.

Angesichts solcher Bemühungen in der politischen Realität des 12. Jahrhunderts kann das Nibelungenlied als ein abschreckendes Beispiel einer Konfliktregelung durch Blutrache erschienen sein – und auch als Beispiel für den Rückfall in das zu überwindende Fehdewesen, wenn nicht ein König entschlossen für Gerechtigkeit und für ein geregeltes Gerichtsverfahren zur Konfliktbeilegung eintritt.

Da der König versagt, sich nicht um Gerechtigkeit bemüht und somit die Autorität des Rechts fehlt, ahndet Kriemhild, für die kein geordneter Rechtsgang möglich ist, das Unrecht durch Blutrache an ihrer Sippe.
Das Nibelungenlied könnte somit auch zeitgenössische Aktualität besitzen insofern, als die Kritik am Fehlverhalten des Königs auch die Kritik an der Unzulänglichkeit der bestehenden Rechtsordnung generiert.

Exkurs

Unter Friedrich II. kam es dann 1235 zum Mainzer Reichslandfrieden, der das Fehderecht erheblich einschränkte. Er unterwarf das Fehderecht vorgegebenen Verfahrensregeln und schützte die zu dieser Zeit nicht „waffenfähigen“ Personen wie Frauen, Bauern, Juden, Geistliche. Außerdem musste vor Beginn einer Fehde zunächst ein Gericht angerufen und ein rechtskräftiges Urteil erzielt werden. Erst wenn dies erfolglos war, durfte eine Fehde aufgenommen werden. Damit trat ein geregeltes Gerichtsverfahren zumindest zunächst an die Stelle des Faustrechts.
Den Grundgedanken des Mainzer Reichslandfriedens fixiert Art. 5, Satz1: „Recht und Gericht sind geschaffen, damit niemand Rächer seines eigenen Unrechts werde; denn wo die Autorität des Rechts fehlt, herrschen Willkür und Grausamkeit.“



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Textausgaben:

Das Nibelungenlied (Handschrift B „Der Nibelunge Nôt“)
nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hrsg. von Helmut de Boor, 21. Auflage, Wiesbaden 1979;
Ursula Schulze (Hrsg.), Das Nibelungenlied nach der Handschrift C.
Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch, Düsseldorf 2005.